Das Bundesarbeitsgericht will die Gesundheit aller Arbeitnehmer schützen – nicht nur von denen mit Betriebsrat. Selbst für die Leitenden Angestellten könnten 60-Stunden-Wochen vorbei sein

Dass Anwälte Wetten abschließen, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) wohl über einen Fall urteilt – und das auch noch via LinkedIn ankündigt – , ist neu. Doch jetzt war ihnen der bevorstehende Richterspruch aus Erfurt wichtig genug. Vor allem für ihre Klienten.

 

Arbeitgeberanwalt Sebastian Maiß und Betriebsräteanwalt Magnus Bergmann hatten um eine Kiste Dackel Pils aus Münster beziehungsweise um eine Kiste Uerige Alt aus Düsseldorf gewettet. Wer verliert, muss eine Kiste Bier aus der Stadt des anderen springen lassen.

 

(Foto: C.Tödtmann)

 

Es ging im Kern um die Frage, müssen Arbeitgeber dafür sorgen, dass die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer erfasst wird? Mit der Folge, dass sie die bisher oft geschenkten Überstunden doch irgendwie bezahlen müssen – oder ihren Leuten wenigstens Abfeiern zugestehen. Doch dazu müsste man sie eben erst mal kennen, genau beziffern können. „Hierzulande müssen Arbeitgeber derzeit nicht die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen“, erklärt Arbeitsrechtler Philipp Byers von der Kanzlei Watson Farley die Lage.

 

Doch immerhin geht es um die einzige Währung, die Angestellte haben: ihre Lebenszeit und – worauf plötzlich die BAG-Richter zur allgemeinen Überraschung abstellten: ihre Gesundheit. Durch diesen Schachzug wurde die eigentliche Frage, ob Betriebsräte elektronische  Zeiterfasssung verlangen können, egal. Denn plötzlich verkündeten die Richter die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für alle Arbeitnehmer, egal ob in kleinen oder großen Unternehmen. Und egal ob die einen Betriebsrat haben oder nicht und egal ob der die Zeiterfassung fordern will oder nicht. Was ja auf Anhieb sehr vernünftig ist. Warum sollte die Gesundheit von Unternehmen mit Betriebsrat schützenswerter sein als in den vielen kleinen Betrieben hierzulande. Nach Analysen des Instituts für Arbeitsmarktforschung arbeiten in Westdeutschland nur 42 Prozent der Beschäftigten in einer Firma mit Betriebsrat, im Osten 35 Prozent.

 

(Foto: C.Tödtmann)

 

Nebenbei bemerkt: Die Betriebsräte können keine elektronische Zeiterfassung verlangen, sagten die Richter. Wenn ja, wären die Folgen womöglich erheblich gewesen – so spekulierten Arbeitsrechtler: Was hätten Betriebsräte dann künftig noch so alles einfordern dürfen?

 

Doch zurück zur Währung der Angestellten: Niemand erwartet beim Kauf eines Autos, dass ihm zum Beispiel ein Schiebedach oberndrauf geschenkt wird. Oder eine monatliche Tankfüllung. Die Formel ist einfach, eigentlich: Wer ein Kilo Äpfel kauft,  hat Anspruch auf das Kilo und nicht mehr. Jedenfalls nicht stiekum und automatisch.

 

Unternehmen erwarten das aber von ihren Mitarbeitern offenbar ganz selbstverständlich. Ohne jedes schlechte Gewissen. Im Gegenteil: Sie sind so dreist und kalkulieren von vornherein mit diesen Geschenken, berichten Anwälte für Arbeitsrecht. Drollig eigentlich, dass diese Mißstand so lange anhält und immer nur dann zur Sprache kommt und das auch nur in einer Meldung am Rande, wie viele Überstunden mal wieder unbezahlt bleiben. Laut Statista (siehe unten) noch mehr als die Bezahlten – und das sind diejenigen, die stechen dürfen oder wie Handwerker, ihre Arbeitszeit mit einer App erfassen oder sonsteine Lösung fürs Festhalten der Arbeitszeit nutzen.

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Offenbar muss dem BAG dieser Mißstand bewusst gewesen sein, denn er bezog sich direkt auf ein früheres Urteil, das der Europäische Gerichtshof (EuGH) für Spanien gefällt hatte. Da hatte – ausgerechnet – die Deutsche Bank vort Gericht verloren und dem ganzen Land die Zeiterfassung beschert, die binnen weniger Wochen umgesetzt werden musste.

Getroffen hat es bei der Bier-Wette übrigens Sebastian Maiß – die Buchmacher hätten anderes erwartet. Die Phalanx der Arbeitgeber-Anwälte war verblüfft und beschwichtigt nun ihre Unternehmensmandanten. Man müsse erst mal die Begründung der Richter abwarten, heißt es. Die wird traditionell locker noch ein halbes Jahr mindestens dauern, nur ob es da praktische Hinweise geben wird? Normalerweise nicht. Ich frage mich auch: warum soll in den Urteilsgründen der Gesundheitsschutz – der ja vernünftig klingt, wenn die Menschen bis 67 Jahre arbeiten können sollen und Arbeitnehmermangel herrscht – wieder zurücknehmen?

 

Oder hoffen sie auf Lücken im Urteilsspruch, damit sich die Unternehmen weiter nicht um die Gesundheit ihrer Leute kümmern müssen?

 

Der deutsche Gesetzgeber jedenfalls hatte die ganze Zeit nicht auf das EuGH-Urteil reagiert, anstatt dies umzusetzen – zum Schutz der Arbeitnehmer und ihrer Gesundheit. Nun wurden sie überholt von den Bundesarbeitsrichtern. „Sie alle wurden kalt erwischt, hatten sie das Thema doch nie besonders ernst genommen“, so Byers.

 

Michael Krekels (Foto: DFK)

 

Aufzeichnungspflicht für leitende Angestellte

Wer jetzt plötzlich womöglich auch seine Arbeitszeiten aufschreiben oder erfassen muss, sind die leitenden Angestellten, gibt Michael Krékels, Vorstandsvorsitzender vom Berufsverband DFK für Fach- und Führungskräfte zu bedenken. Denn unter die Arbeitsschutzgesetze fallen auch die Führungskräfte, sagt er. Und die sind es, die oft eine 60-Stunden-Woche haben. Das Thema könnte spannend werden, erwartet Krekels

 

Vertrauensarbeitszeit funktioniert auch weiterhin

Eine andere Frage nach dem BAG-Urteil: Ist das Modell Vertrauensarbeitszeit damit nun hinüber? Nein, sagt Byers: „Das Urteil macht die Vertrauensarbeitszeit nicht kaputt“, betont Byers. Die Arbeitgeber könnten die Pflicht zur Erfassung auf die Mitarbeiter übertragen, so lautet seine Rat. Dann treffe das Unternehmen wiederum keine Pflicht zur ständigen Kenntnisnahme der erfassten Arbeitszeiten, so der Münchner.

„Diese Vorgehensweise funktionierte bisher schon bei der Dokumentation der Überstunden und das BAG hat sich jetzt auch nicht dem entgegengestellt.“, sagt Byers.  Auf diese Weise wird die Vertrauensarbeitszeit nicht abgeschafft, da der Arbeitgeber die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer nicht minutiös nachprüfen muss.

 

Philipp Byers (Foto: C.Tödtmann)

 

Überstunden nach der achten Arbeitsstunde mussten sowieso schon aufgeschrieben werden

Ob der Arbeitgeber dann die aufgeschriebenen Überstunden einfach nur glauben  muss? Nein, meint Byers. Die Mitarbeiter sollen ja vielmehr selbst ihre Arbeitszeiten und damit auch etwaige Überstunden erfassen. Dadurch kann er auch die Bezahlung der Überstunden vom Arbeitgeber verlangen. Dies konnten die Mitarbeiter auch schon vor der aktuellen BAG-Entscheidung, weil sie Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden täglich dokumentieren mussten. So verlangt es das Arbeitszeitgesetz. Byers: „Letztlich kommt es nur darauf an, ob vom Arbeitgeber oder Mitarbeiter die aktive Pflicht ausgeht, Arbeitszeiten und damit auch Überstunden zu erfassen.“

 

Überstunden-Anträge und Genehmigen nach altem Muster funktioniert im Internetzeitalter nicht – erst recht nicht bei Vertrauensarbeitszeit und Experten

Bleibt die Frage, wie es bei Vertrauensarbeitszeit mit dem Modell der Gerichte funktionieren soll, dass Überstunden erst einmal vorher beantragt und genehmigt werden müssen. In Zeiten von Arbeitszeitverdichtung, hohem Zeitdruck, immer engeren Terminen und schnelleren Reaktionszeiten, ist solch ein althergebrachtes Vorgehen eigentlich nur noch in wirklich gemütlichen Jobs möglich. Wenn der Termin drängt, ohnehin zu wenig Personal da ist, krempeln gute Mitarbeiter die Arme hoch und hauen ran – statt zu diskutieren.

Zumal etliche Arbeitnehmer auch in die Abendstunden hinein arbeiten – so wie Mütter mit Kindern etwa – und kaum um 22 Uhr die Vorgesetzten wegen Überstunden-Genehmigungen aufscheuchen können – und wollen. Wer würde schon bei Calls rund um den Erdball zu nächtlichen Zeiten mit Kollegen oder Geschäftspartnern in USA oder Hongkong erst mal unterbrechen, um den Chef zu fragen, ob man weiter machen soll? Wo doch gerade die Wochenarbeitszeit erreicht ist?

Ganz abgesehen davon: Klar haben Vorgesetzte keine Neigung, Überstunden zu genehmigen und werden immer erst anzweifeln, ob die nötig sind – und unterstellen, der Mitarbeiter könne keine Prioritäten setzen und habe seinen Job nicht im Griff.

Doch das ist oft genug nur Beleidigung seiner Intelligenz, zumal Chefs heute  Coachingfunktion haben und Expertenjobs ihrer Mitarbeiter gar nicht im Detail überblicken können. Besonders nicht nach jahrzehntelangen Entlassungswellen, wo schon objektiv die Arbeitsverdichtung klar ist.

Wie das Arbeitsrechtler Byers sieht? Auch nach dem BAG-Urteil gibt es Überstunden bei einer Vertrauensarbeitszeit, auch ohne eine vertraglich vereinbarte Regelarbeitszeit, sagt er. „Eine klassische Überstundenanordnung durch den Chef wird es dabei aber in den seltensten Fällen geben“, meint der Arbeitsrechtler.

Und weiter: „Wer will schon am Abend darüber diskutieren, ob nun Überstunden anzuordnen sind oder nicht. Der Mitarbeiter wird vielmehr seine Überstunden aufschreiben und dem Vorgesetzten vorlegen. Hier ist gegenseitiges Vertrauen zwischen Mitarbeiter und Arbeitgeber wichtig. Ansonsten wird es Diskussionen geben, ob die Überstunden tatsächlich notwendig waren oder der Arbeitnehmer schlichtweg den Arbeitstag verbummelt und dadurch seine Arbeitszeiten nach oben aufgestockt hat.“

Das würde jedenfalls dazu führen, dass die Motivation gen Null sinkt, weiter für die Firma zu kämpfen, statt den Griffel fallen zu lassen, wenn die Stundenzahl erfüllt ist. Dann brauchen Arbeitgeber sich auch nicht mehr über Quiet Qitters aufregen – die haben sie sich dann selbst zuzuschreiben.

 

Lesetipps Quiet Quitter: 

Quiet Quitter, das neue Feindbild amerikanischer Arbeitgeber: Sie machen keine Geschenke mehr. Dabei wäre die Lösung recht einfach | Management-Blog (wiwo.de)

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