Stellen Sie sich mal vor, Ihr Chef bittet Sie nach jedem Urlaub zum Gespräch und fragt sehr interessiert nach, was Sie denn so gemacht und erlebt haben. Intensiv, nicht nur pro forma. Dasselbe Spiel, wenn Sie nach einer Krankheit in die Firma zurück kommen. Der Vorgesetzte fragt Sie leutselig aus: Was waren denn so die Symptome? Wie lautete die Diagnose? Wie geht es Ihnen jetzt, perspektivisch und so weiter? Regelmäßig.
35,5 Millionen Euro Buße für H&M – für das jahrelange Mitarbeiter ausspionieren und aufschreiben
Beim Textilfilialisten H&M aus Schweden lief es genau so. Systematisch zogen die Führungskräfte ihren Leuten Informationen aus der Nase. Mindestens seit sechs Jahren. Und genau dafür bekam der Textilfilialist jetzt eine exorbitant hohe Quittung: Eine Rekord-Geldbuße von 35,3 Millionen Euro verhängte kürzlich der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar gegen H&M wegen Datenschutzverstößen. Und fast wäre es sogar noch mehr geworden.
Munition sammeln, um Mitarbeiter eines Tages zu übervorteilen
Warum die Buße derart hoch ausfiel, das erklärte mit Arbeitsrechtler Philipp Byers aus der Kanzlei Watson Farley & Williams beim Lunch im Kytaro in Düsseldorf, der sich hier einen Teller Moussaka bestellt hat. Solche eine riesige Sammelaktion von Führungskräften hat vermutlich einen ganz speziellen Zweck, den so gar kein Mittel heiligt: Man will sich wappnen. Mitarbeiter in Schach halten können, sie klein halten. Und mehr noch, das Arbeitsrecht einfach mal für sich auszuhebeln: Um bei einem Konflikt mit dem Mitarbeiter die Karten, die er – der eventuelle spätere Gegner – in der Hand hält, schon vorher zu kennen. Und ihn austricksen zu können, um womöglich eine Abfindungszahlung einzusparen.
Kündigungsschutz ist ein zahnloser Tiger, das weiß jeder Personalchef
Außen hui, innen pfui? Ist das allgemeine Duzen vor allem deshalb angeordnet, um die Mitarbeiter in der falschen Sicherheit zu wiegen, dass H&M es gut mit ihnen meint? Sie einlullt, aber sich selbst schon mal heimlich für den Kriegsfall munitioniert? Womöglich. Kurzum: Faire Arbeitgeber sehen anders aus. Wo sie ohnehin am längeren Hebel sitzen und jeden Angestellten vor die Tür setzen können, egal was das Gesetz will. Ist der Betreffende erst mal draußen, gelingt es ihm ohnehin fast nie, wieder rein zu kommen und seinen Job wieder zu erkämpfen. Das Gespenst zeichnen die Arbeitgeber zwar immer noch an die Wand, aber tatsächlich weiß jeder Personalchef, dass der Kündigungsschutz ein zahnloser Tiger ist und er alles mit etwas Geld regeln kann.
Doch zurück zu Byers Aufklärung: Welche Details aus dem Privatleben können so wertvoll für einen Arbeitgeber sein?
Also zum Beispiel, wenn der Angestellte zum Beispiel gerade eine Scheidung hinter sich hat, seinen Kindern Unterhalt zahlen muss und er auf den Job besonders angewiesen ist. Mit dem Hintergrundwissen wird der Mitarbeiter berechenbar.
Oder wenn eine Mitarbeiterin eben nicht flexibel ist und mal eben umziehen kann – aus persönlichen Gründen. Will ein Arbeitgeber sie loswerden, braucht er sie nur versetzen – möglichst weit weg. So kann er sie weichkochen und sie geht irgendwann von alleine, ohne Abfindung. Zur Freude des Vorgesetzten, der genau dafür womöglich eine Prämie mit dem Unternehmen ausgehandelt hat. Dann sind die Infos über ihre Interessenlagen bares Geld wert, jedenfalls für deren Führungskräfte. Moralisch indiskutabel, rechtlich unzulässig und daher keinem zu raten.
Das war es nämlich auch im Falle H&M, die Vorgesetzten trugen die gesammelten Infos in eine Datenbank ein, in die alle anderen Führungskräfte auch hineinschauen konnten.
Eine IT-Panne sorgt am Ende für 35,3 Millionen Euro Buße
Wie das ganze Ausforschen und Sammeln heraus kam? Eine IT-Panne war´s. Vor einem Jahr wurde plötzlich das ganze rechtswidrige Dossier für die ganze Belegschaft sichtbar. Und einer gab´s dann an die Presse, sagt Byers. Weil H&M dann der Behörde dann doch zumindest ein Datenschutzkonzept mit Datenschutzkoordinator, Whistleblower-Schutz, Auskunftskonzept und Schadenersatzzahlungen für die bislang Betroffenen präsentierte, fiel die Buße niedriger aus. Bei so etwas mitzumachen, ist für auch für jeden einzelnen gefährlich, erzählt Byers.
Mindestens vier mögliche Leaks
Er warnt stets die Unternehmen: Legen Sie bloß keine Gedankendossiers an. Wer es verwaltet, ist Mitwisser. Wenn der sich rächen will an der Firma, kann er ein Leck sein. Die IT-Leute sehen es – und können ebenso ein Leck sein. Oder eben ein simpler IT-Fehler wie im Falle H&M.
Was Auskunftsansprüche zutage fördern: „Der nervt, der muss weg“
Und dann gibt es eine noch eine weitere, neue Möglichkeit, wie Betroffene gesammelte Daten herausbekommen: Der Auskunftsanspruch gegen den Arbeitgeber auf Offenlegung sämtlicher Daten. Byers erzählt, dass der ein Unternehmen schon 18 Monatsgehälter eines Ex-Pats kostete. Der Mann stritt mit der Company darum, wo er in der Hierarchie hin gehöre und zu welchem Gehalt, bis er seinen Anspruch auf Datenauskunft geltend machte. Dann entdeckte er in einer der Mails den Kommentar „der nervt, der muss weg“. Der Satz wurde dann teuer. Denn bis dahin hatte das Unternehmen immer abgestritten, den Expat lediglich loswerden zu wollen – diese Taktik war nun tot. Die Methode Weichkochen und Abfindung einsparen, ging nicht mehr. Das Unternehmen konnte nun nicht mehr anders, als um die Abfindung zu verhandeln.
Seit Corona niedrigere Abfindungen
Insgesamt jedoch sei die Höhe der Abfindungen seit Corona-Beginn gesunken, beobachtet der Arbeitsrechtler. Nicht nur dass bei Unternehmen wie Mitarbeitern die Bereitschaft sinkt, sich zu einigen. Sondern die Arbeitgeber seien geiziger mit den Abfindungen geworden. Warum? Weil sie keine Präzedenzfälle und Nachahmer auf den Plan rufen wollen, denn der Betriebsrat sieht ja die Zahlen, erklärt der Münchner.
Beobachtenden Mitarbeiter gehen übermorgen – wenn man sie nicht missen will
Das Problem sei auch, dass es beim Personalabbau immer nur um die Zahl der Köpfe geht, sagt Byers. Nicht aber, dass man nach der Krise nicht so schnell wieder entsprechend qualifizierte Leute findet. Und dass jeder Personalabbau Loyalitätseinbußen bei den verbleibenden Mitarbeitern bewirke – sobald die ein Abwerbeangebot bekommen, sind sie dann weg.
Byers Supergau: erst bitten Unternehmen die Belegschaft um Gehaltsverzicht, dann kommt als zweites doch der Arbeitsplatzabbau und dann haben auch alle anderen Beobachter das Vertrauen in ihre Company verloren und – das ist die dritte Welle – gehen übermorgen.
Gelernt ist gelernt: Kollegen waren Nummern – und ich bin´s auch
Denn die Menschen haben gelernt, dass sie für ihren Arbeitgeber nur eine Nummer sind. Denn wer bleibt heute noch lebenslang bei einem Unternehmen – was früher durchaus üblich war? Kaum einer. Denn sobald die Unternehmen von Shareholdern beeinflusst werden und „Kostenblöcke lösen“ müssen, ist es danach mit der Loyalität der Mitarbeiter auch nicht mehr weit her. Erstaunlich ist eigentlich nur, dass die Top-Manager genau diese Logik und die Folgen ausblenden. Oder gar nicht erkennen.
H&M will jetzt übrigens 800 Arbeitsplätze abbauen und 250 Filialen schließen.
https://www.onlinehaendler-news.de/online-handel/haendler/133975-h-m-plant-stellenabbau
Hervorragender Beitrag!