Wer braucht heuchlerische Anschreiben? Die Deutsche Bahn will drauf verzichten

Die Deutsche Bahn verlangt von ihren jungen Bewerbern, den Azubis, keine heuchlerischen, unsinnigen Anschreiben mehr, hat dpa jüngst vermeldet. Halleluja. Endlich. Ein erster richtiger Schritt in die richtige Richtung. Wenigstens von einem der ganz großen Arbeitgeber. Sind die Erfahrungen damit positiv, will die Bahn diesen Feldversuch auf alle anderen ausweiten. Hoffen wir mal, dass das Vorbild Schule macht. Jedenfalls sollten sich daran alle anderen Unternehmen ein Beispiel nehmen. Denn…

.
Bewerbungs-Zirkus
– Erstens machen andere Länder durchaus nicht so einen Bewerbungs-Zirkus wie die Deutschen – und trotzdem finden Unternehmen auch da geeignete Mitarbeiter. Ein Start-up, das versuchte, Kandidaten aus dem Ausland hierher zu holen, um den Facharbeitermangel zu beheben, berichtete: Spaniern etwa war nicht begreiflich zu machen, wie formell die Deutschen das Bewerbungsprozedere haben wollen. Und dass ein Theken- oder Strandfoto von ihnen doch völlig ausreicht und vor allem doch ganz authentisch sei?
.
– Zweitens sind die Anschreiben sowieso meistens gelogen oder irgendwie geheuchelt. Wer 30 oder mehr Bewerbungen rausschickt, schreibt ja 30 mal, er will nur zu diesem einem Unternehmen, weil er es ja ach so bewundert. Oder so ähnlich.
.
.
Abgelehnte Bewerber zu zehntausenden als Trophäe
.
– Drittens sind diese Anschreiben die pure Zeitverschwendung en gros: Bestes Beispiel ist die Lufthansa, die 2017 stolz darauf war, dass sie von mehr als 110.000 Bewerbern sich 3.000 herausgepickt und somit 93,6 % aller hoffnungsfrohen Bewerbern eine Abfuhr erteilt hat. 107.000 am Ende überflüssige, mühevoll verfasste, ganz individuelle Anschreiben. Die Airline war stolz darauf, dass sie so begehrenswert erscheint – aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die enttäuschten Hoffnungen von so vielen Menschen, denen sie aber abverlangt, große Mühe auf diese anbiedernden Anschreiben zu verwenden. Das, obwohl…
.
Anschreiben als Kanonenfutter für Personaler
.
– …viertens: Gerade die Anschreiben liefern das Kanonenfutter für die Personaler. Die nämlich haben eigentlich keine Zeit für ihre Kandidaten-Post und nehmen sich je Bewerbung maximal fünf Minuten Zeit laut Eigenangaben in einer Umfrage der Personalberatung Kienbaum. Wenn die Angabe mal nicht schwer übertrieben und die tatsächliche Zeit sehr viel kürzer ist. Die weit verbreitete Faustregel der Aussortierer ist: Zwei Kommafehler im Anschreiben und/oder eine nicht so glanzvolle Mathe-Note und  – zack – ´abgelehnt`. Wenige Sekunden fürs Aus – und das gemessen an dem großen Zeitaufwand, mit dem die Bewerber sich bitteschön ins Zeug legen sollen.
.
.
Wie junge Leute diesen drolligen Herausforderungen begegnen? Entweder sie quälen sich ohne Ende und investieren viel nutzlose Zeit, um anschließend meist enttäuscht zu werden.
.
Oder sie feilen lange an einem perfekten Anschreiben – womöglich unter Hinzuziehung von Profis und Eltern – und schicken dann ein- und dieselbe Fassung an -zig Unternehmen. Gucken die Personaler dann sowieso nur auf Kommata und Mathe-Note, war beides irgendwie sinnlos.
.
Also können sich auch gleich alle die Arbeit sparen – und die Unternehmen schauen nur noch auf die Fakten: Vita und Zeugnisse.
.
Zwar hat die Deutsche-Bahn-Personalerin Carola Hennemann gemeint, dass die angehenden Azubis überfordert seien mit den Anschreiben. Aber das kann sie kaum auf alle Bewerber bei der Deutschen Bahn gemünzt haben von Ingenieuren über Sachbearbeiter bis hin zu Führungskräften – denn all denen bleibt ja womöglich bald auch die Qual des Anschreibens erspart.
.
..
.
Lese-Tipps:
Abgewiesene Bewerber als Zierde: Die Firma ist stolz – und ganz viele Menschen enttäuscht | Management-Blog
sowie:

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Alle Kommentare [1]

  1. Treffer! Toller Kommentar zum Anschreiben-Wahnsinn. Sie haben absolut recht: Das Fordern von Anschreiben in der Bewerbung provoziert Heuchelei und Lüge. Wollen das die Personaler wirklich?
    Ich habe drüben bei uns im Blog mal fünf Tipps für Bewerber aufgeschrieben, die zu den Anschreiben-Muffeln gehören. Mein (geheimer) Favorit: Versuchen Sie es doch mal mit einem Ein-Satz-Anschreiben:
    https://www.lvq.de/karriere-blog/2018/06/28/anschreiben-bewerbung-alternativen/
    Wie finden Sie das?