Standpunkt Utz Claassen: Die industrielle Wahnsinnstat Dieselgate oder die Angst, die Wahrheit zu sagen

Die industrielle Wahnsinnstat Dieselgate

Ein Kommentar von Utz Claassen, der als Seat-Vizepräsident der jüngste Markenvorstand in der Geschichte des Volkswagen-Konzerns war.

Die kürzere Fassung dieses Gastbeitrags ist in der aktuellen WirtschaftsWoche

 

Utz Claassen

Utz Claassen

 

Wer genau die Verantwortung trägt für die Manipulation von Abgastests bei VW, gemeinhin plakativ umschrieben mit „Dieselgate“, ist noch nicht klar. Durchaus klar ist aber ein fortlaufender Werteverfall.

 

Die Angst der Mitarbeiter, die Wahrheit zu sagen

Bestimmte Ziele werden rücksichtslos durchgesetzt. Mitarbeiter und Manager haben Angst davor, die Wahrheit zu sagen. Gleichzeitig mangelt es an Möglichkeiten, dies zu tun. Abweichende Meinungen werden im günstigen Fall nicht gehört, im ungünstigsten mundtot gemacht. Die Wahrheit gilt als unbequem – und oftmals als unerwünscht. Fast jeder weiß, dass so vielfach der Alltag in Unternehmen aussieht – und in der Politik selbstverständlich auch.

 

Deswegen sind auch keineswegs die VW-Mitarbeiter für Dieselgate verantwortlich­ – sie sind zusammen mit elf Millionen Kunden und vielen Aktionären die Hauptgeschädigten einer industriellen Wahnsinnstat. Und auch der Konzern selbst ist keinesfalls Täter, sondern vielmehr Opfer – Opfer des unfassbaren Handelns einzelner, deren Anzahl und Namen wir noch nicht kennen.

 

Inkompetenz, Selbstüberschätzung, Selbstverliebtheit und das Gefühl, nicht mehr angreifbar zu sein – eine fatale Mischung

Es ist eine Eigenschaft von Wahnsinnstaten, dass man sie rational nicht erklären kann. Die Symptome sind jedoch häufig dieselben: Eine Mischung aus Inkompetenz, Selbstüberschätzung, Selbstverliebtheit, dem Gefühl, nicht mehr angreifbar zu sein, und dem falschen Glauben, dass Regel- und Kontrollmechanismen für die Handelnden selbst nicht mehr gelten. Dabei müssten alle Beteiligten doch eigentlich wissen: Nachhaltig setzt sich immer die Wahrheit durch. Diejenigen, die die Verantwortung tragen, sind dann allerdings oft schon über alle Berge, und andere müssen dann „den Mist ausbaden“.

 

Die Wahrheit lässt sich institutionell schützen – auch durch Schutz von Whistelblowern

Dabei ließe sich mancher Missstand vermeiden: Die Wahrheit lässt sich institutionell schützen. Etwa durch eine Anti-Mobbing-Betriebsvereinbarung, die Kollegen aktiv schützt, indem sie sowohl die Unwahrheit als auch das Unterbinden der Wahrheit massiv sanktioniert. Alle in der Belegschaft müssen wissen, dass niemandem ein Nachteil daraus entstehen kann, dass er die Wahrheit sagt. In meiner Zeit als Vorstandschef von Sartorius haben wir das durchgesetzt; dort wurde es sanktioniert, wenn jemand relevante Informationen nicht weitergegeben oder die Wahrheit unterdrückt hat. Der Vorgesetzte eines Whistleblowers, der auf Missstände aufmerksam gemacht und dafür dann Nachteile zu erdulden hatte, wurde hingegen in den vorgezogenen Ruhestand verabschiedet, damit alle in der Belegschaft wussten, wie wir in solchen Fällen handeln.

 

VW: Der Betriebsrat und Ferdinand Piëch als Chance für die Zukunft

Für VW ist es jetzt eine Riesenchance, dass Betriebsrat und Mitbestimmungskultur dort so stark sind. Denn es ist im Grunde nun Aufgabe der Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter, genau eine solche Kultur einzufordern, in der niemandem ein Nachteil dadurch entstehen darf, dass er die Wahrheit sagt und sich damit möglicherweise unbequem verhält. Sie sind ebenso wie der frühere Konzernchef Ferdinand Piëch nun wichtige Impulsgeber, die helfen können, diese Krise zu überwinden. Piëch hat die Wahrheit immer geschätzt. So kenne ich ihn seit 22 Jahren, und so habe ich ihn als meinen Aufsichtsratsvorsitzenden in meiner Zeit bei Seat mehrere Jahre aus nächster Nähe erlebt.

 

Vorfahrt für die Wahrheit

Ich bin deshalb ganz sicher: Großaktionäre, Aufsichtsrat, Belegschaft, Gewerkschaft und Kunden werden nun bei VW das erzwingen, was in der Beletage von Politik und Management mitunter schon fast als Regelbruch verstanden wird: Vorfahrt für die Wahrheit!

 

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Alle Kommentare [1]

  1. Eine moderne Firma hat immer die Mitarbeiter so zu schulen, dass sie keine Angst haben dürfen die Wahrheit zu sagen und noch besser, die Verantwortlichen der Firma müssen es fördern die Wahrheit zu sagen und dafür sorgen, dass es genügend Möglichkeiten gibt Meinungen zu veröffentlichen.

    Guter aussagekräftiger Artikel von Prof Dr.Utz Claassen