Das Milliardengrab Digitalisierung: Massive Investitionen der Unternehmen und trotzdem geht nichts voran. Eine Analyse von Digital-Pionier Mattes Schrader

Milliardengrab Digitalisierung: Warum trotz massiver Investitionen in den Unternehmen nichts vorangeht, analysiert Digital-Pionier Mattes Schrader, CEO der Digitalagentur OH-SO

Die jüngsten Quartalszahlen von Amazon, Shein und Temu haben es wieder einmal klar gemacht: Die reinen Online-Unternehmen laufen den traditionellen Wettbewerbern weiter davon. Nach mehr als zehn Jahren Digitalisierungshype ist die Aufholjagd verpufft. Wie konnte das passieren?

 

Mattes Schrader (Foto: Privat)

 

Thema versemmelt

Die kurze Antwort lautet: Das Thema wurde versemmelt, weil nicht die Marketingabteilung, sondern die IT-Abteilungen mit ihrer prozessorientierten Kultur das Ruder übernommen haben.

Ja, ich höre die Einwände. Also hier die lange Antwort.

In der Tat gibt es kaum einen größeren Kontrast zwischen Theorie und Praxis als im Marketing. Die zentrale Bedeutung des Marketings hat der legendäre Managementtheoretiker Peter Drucker früh erkannt: „Da der Zweck eines Unternehmens darin besteht, einen Kunden zu schaffen, hat das Unternehmen zwei – und nur diese zwei – grundlegenden Funktionen: Marketing und Innovation. Marketing und Innovation erzeugen Ergebnisse; alles andere sind Kosten.“

 

Marketing umfasst im Drucker’schen Sinne alle Aktivitäten, Prozesse und Verantwortlichkeiten, die darauf zielen, Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, zu kommunizieren, zu vertreiben und zu verkaufen, um die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden zu erfüllen und dabei einen Mehrwert für das Unternehmen zu schaffen.

 

Aus irgendeinem Grund hat sich die Marketingpraxis über die Jahre allerdings auf nur einen Aspekt verzwergt: die Kommunikation vulgo Werbung. Die eigentliche Digitalisierung wurde anderen Abteilungen überlassen – den Prozessdefinierern, Effizienzoptimierern und Programmierern.

 

Ungenutzte kreative Möglichkeiten

Die digitale Großchance, Kunden über neue Produkte, Vertriebswege und Preisstrategien zu kreieren, wurde verstolpert. Das Spielfeld, welches sich aufspannte, da heute Menschen ohne Medien und andere Mittler direkt erreichbar sind, blieb unbespielt. Der kreative Möglichkeitsraum – ein modernes Smartphone besitzt heute mehr Rechenleistung als sämtliche Computer weltweit zusammengenommen zu dem Zeitpunkt, als die heutigen Unternehmenslenker studierten – blieb ungenutzt.

 

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Verantwortung für die Digitalisierung kulturell in der Marketingfunktion von Unternehmen beheimatet sein muss. Nur hier gibt es einen Echoraum über die essenzielle Frage, wie Menschen ticken und was sie von einer Marke erwarten.

 

Mit aller Macht der Graviationskraft in Großunternehmen widersetzen

Vor einigen Jahren schrieb ich zu Beginn der Digitalisierungswelle das Buch „Transformationale Produkte“. Darin versuchte ich, meine Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Arbeit für Startups und viele digitale Konzernbeiboote zu kondensieren. Die zentrale Botschaft lautete, digitale Angebote super konsequent auf den Kunden neu zu konzipieren und zu implementieren. Sich also mit aller Macht der Gravitationskraft in Großunternehmen zu widersetzen, bestehende Strukturen und Prozesse lediglich zu digitalisieren, anstatt sie grundlegend zu überdenken und neu zu gestalten. Frei nach meinem damaligen Kunden und CEO von Telefónica, Torsten Dirks: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, haben Sie einen scheiß digitalen Prozess”.

 

Das braucht eine robuste Haltung, die sich aus der radikalen Identifikation mit den Menschen, ihren Bedürfnissen und der Ambition, für diese einen Wertbeitrag zu leisten, speist. Und es beginnt mit einem zentralen Wertversprechen, welches aus der Marke ableitbar sein muss – oder diese neu im Wettbewerb positioniert.

 

In vielen Unternehmen haben die Digitalisierungsbudgets mittlerweile ihren Peak überschritten. Und es fällt immer schwerer, die vorhandenen Budgets zu rechtfertigen, eben weil sie nicht die Nadel im Geschäft drehen. Gleichzeitig versprechen generative KI und die großen Sprachmodelle insbesondere in der Softwareentwicklung signifikante Effizienzgewinne. In den ersten Quartalsberichten des Jahres 2024 ist schon ablesbar, dass KI-Methoden und Werkzeuge eingesetzt werden, um signifikante Kostensenkungs- und Effizienzprogramme auszurollen.

 

Es kann nicht beim Heben der Kostenpotenziale bleiben

Der größte Fehler wäre jetzt, es beim Heben der Kostenpotenziale zu belassen. Wer relevant bleiben will und Menschen begeistern will, muss gleichzeitig für die nächste Phase der Digitalisierung KI mit Kundenzentrierung und Innovation übersetzen. Die Chance, das Rennen gegen die Online-Unternehmen am Ende doch noch zu gewinnen, ist gering. Aber Digital kann immer noch einen echten Beitrag fürs Wachstum und die Wertentwicklung leisten. Das wäre doch schon mal ein Anfang.

 

 

 

 

 

 

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