EuGH-Urteil: Mehr Schutz für Behinderte in der Probezeit – und vermutlich auch für Schwerkranke ohne Behindertenausweis

Wer in der Probezeit eine Schwerbehinderung erleidet, hat jetzt dank Europäischem Gerichtshof (EuGH) bessere Karten

 

Die Grundregel ist klar: Arbeitnehmer in der Probezeit können ohne Begründung  gekündigt werden. Auch Mitarbeiter mit einer Behinderung – eigentlich und bislang war es jedenfalls so. Der Europäische Gerichtshof (Rs. C-485/20) stellt sich nämlich jetzt auf die Seite der plötzlich Behinderten: Wer erst in der Probezeit eine so starke gesundheitliche Einschränkung erleidet, dass er seinen ursprünglichen Job nicht mehr ausüben kann, dem muss der Arbeitgeber eine andere freie Stelle im Unternehmen anbieten. Arbeitsrechtler Dirk Monheim von der Kanzlei Eversheds Sutherland in München zeigt auf, wie sich das EuGH-Urteil jetzt auf die Praxis auswirkt. Denn immerhin werden die meisten Schwerbehinderten erst im Verlaufe ihres Berufslebens gehandicappt. (Gastbeitrag)

 

Dirk Monheim (Foto: PR/Eversheds)

 

Herzfehler während der Probezeit

Worum ging es bei dem EuGH-Urteil?  Bei einem Facharbeiter der belgischen Eisenbahn trat während der Probezeit ein so schwerer Herzfehler auf, dass er einen Herzschrittmacher bekommen musste. In der Schienenwartung, für die er eingestellt worden war, konnte er damit jedoch nicht mehr arbeiten. Der Herzschrittmacher reagierte empfindlich auf genau diese elektromagnetische Felder, die in den Gleisanlagen vorkommen.

 

Der Mann wurde deshalb zunächst ins Lager versetzt. Noch vor Ende der Probezeit bekam er dann doch die Kündigung. Dagegen zog er vor Gericht und der belgische Conseil d’État fragte den EuGH: Darf jemand mit einer Behinderung in der Probezeit gekündigt werden, weil er eine bestimmte Aufgabe nicht mehr erfüllen kann? Oder muss das Unternehmen prüfen, ob es für den Mitarbeiter eine andere geeignete Stelle im Unternehmen gibt, um seine Kündigung zu vermeiden? Ist das die Konsequenz der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie für Menschen mit Behinderung im Beruf, dass der Arbeitgeber dem Betroffenen einen anderen Arbeitsplatz zuweisen muss, für den er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit hat, sofern eine solche Maßnahme den Arbeitgeber nicht übermäßig belastet?

 

Der EuGH urteilte zugunsten der Behinderten: Ja, das Unternehmen muss das tun. Jedenfalls dann, wenn es erstens eine freie Stelle gibt, die grundsätzlich in Betracht kommt, und zweitens der Mitarbeiter die nötige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit hat und drittens, wenn der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird.

 

War bisher anders war: Schutz erst ab dem siebten Monat

Bisher hatten behinderte Mitarbeiter ein Recht auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz. Das bedeutet konkret: Kann jemand auf seinem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr weiterarbeiten, muss der Arbeitgeber prüfen, ob nicht entweder der Arbeitsplatz leidensgerecht umgestaltet oder der Mitarbeiter an einem anderen Arbeitsplatz weiterarbeiten kann.

Schwerbehinderte geniessen zudem besonderen Kündigungsschutz, wenn sie erst einmal länger als sechs Monate bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt waren. Bis dahin durften Unternehmen ausnahmslos jeden Mitarbeiter entlassen und brauchten das auch nicht weiter begründen. Ab dem siebten Monat hingegen dürfen sie Behinderte nur kündigen, wenn sie dafür die Zustimmung des Integrationsamtes beziehungsweise des Inklusionsamts haben.

 

Mehr Schutz für Schwerbehinderte wie für gesundheitlich stark Eingeschränkte

Das EuGH-Urteil ändert das nun in bestimmen Fällen. Nämlich dann, wenn es für den schwerbehinderten Mitarbeiter eine andere Stelle in der Firma gibt, auf der er weiter arbeiten könnte – vorausgesetzt, das ist auch für den Arbeitgeber unzumutbar. Neu ist nun nach dem EuGH-Urteil noch ein weiterer Punkt: Dass die Unternehmen diese Lösungen auch den Mitarbeitern anbieten müssen, die keinen Schwerbehindertenausweis haben, sondern nur gesundheitlich stark eingeschränkt sind wie ein Astmatiker beispielsweise.

 

Nur, was für Unternehmen zumutbar ist

Einen Arbeitsplatz so umzugestalten, dass ein Mitarbeiter mit Einschränkungen da weiterarbeiten kann, ist Unternehmen oft zumutbar. Was die Company nicht tun muss: Extra eine andere Stelle zu schaffen, das wäre unzumutbar. Gibt es aber eine freie Stelle, die für den Mitarbeiter passen würde, muss der Arbeitgeber sie – nach diesem EuGH-Urteil – ihm auch schon in der Probezeit anbieten. Vorausgesetzt, es ist nicht zu teuer und es gibt womöglich sogar öffentliche Mittel oder andere Unterstützungsmöglichkeiten dafür. Die muss ein Unternehmen jetzt auch versuchen, zu bekommen, so will es die bisherige Rechtsprechung zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement.

 

Mehr Schutz für schwer Kranke und Behinderte, aber nicht grenzenlos

Behinderte oder schwer erkrankte Mitarbeiter haben stärkeren Schutz innerhalb der Probezeit als bisher. Trotzdem hebelt der EuGH den Sinn der Probezeit – nämlich festzustellen, ob Mitarbeiter und Unternehmen zusammenpassen – nicht komplett aus: Reicht die Qualität der Arbeitsleistung nicht aus oder passt es persönlich oder menschlich einfach nicht, ist eine Kündigung in den ersten sechs Monaten weiter möglich. Was jedoch für Unternehmen schwieriger werden kann: Zu belegen, dass nicht doch die Einschränkung ein Grund für die Kündigung war und er verpflichtet war, eine alternative Beschäftigungsmöglichkeit zu suchen.

Womöglich tut sich jetzt nach dem EuGH-Urteil mancher Arbeitgeber nun schwerer, gerade Menschen mit Einschränkungen zunächst für die Probezeit eine Chance zu geben. Dann wäre schwerbehinderten Bewerbern mit dem Urteil tatsächlich ein Bärendienst erwiesen worden.

 

 

 

 

 

 

 

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