Daimler und Benz Stiftung: Internet und seelische Gesundheit – Forschung jenseits von Technikangst und Bedenkenlosigkeit. Interview mit Medienethiker Tobias Matzner.

 

Internet und seelische Gesundheit – Forschung jenseits von Technikangst und Bedenkenlosigkeit

 

Internettechnologien durchdringen unseren Alltag in allen Lebensbereichen. Dies wirkt sich auf unser psychisches Befinden aus. Aber was bedeutet das für den Einzelnen und welche Konsequenzen ergeben sich für moderne Gesellschaften? Besteht Handlungsbedarf – und falls ja, für welche Akteure? Beim 22. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung diskutierten Forscher und Denker über den Umgang mit technischem Fortschritt in einer schnelllebigen Zeit und erörterten die Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Als wissenschaftlicher Leiter der Veranstaltung sprach der Medienethiker Professor Tobias Matzner mit Johannes Schnurr von der Daimler und Benz Stiftung über den aktuellen Stand der Forschung und der Diskussion.

 

Tobias Matzner (Foto: Daimler und Benz Stiftung)

 

Johannes Schnurr für die Daimler und Benz Stiftung: Herr Matzner, welche gesellschaftliche Rolle nehmen Internettechnologien ein? Weshalb ist der Zusammenhang von Internet und Psyche denn überhaupt ein Thema für uns?

Matzner: Internettechnologien betreffen eigentlich alle Bereiche der Gesellschaft. Das Internet verändert die Art und Weise, wie wir arbeiten, es verändert unsere Freizeitgestaltung, es verändert Beziehungen usw. Diese Veränderungen gehen sehr, sehr schnell und sie stellen übliche Handlungsweisen, Vorstellungen und Normen, die wir haben in unserer Gesellschaft, infrage. Immer, wenn sich etwas so schnell verändert und wenn diese Veränderung etwas fraglich macht, dann ist ein großes Bedürfnis nach Orientierung da. Natürlich sind die Psychologie, die Psychiatrie, überhaupt die Medizin Bereiche der Gesellschaft, die hier große Orientierung versprechen.

 

Spielsucht, Handysucht, Fake News in den sozialen Netzwerken, Verletzung der Privatsphäre, Cybermobbing unter Schülern – gibt es einen Medienhype um die Gefahren des Internets? Wie schätzen Sie als Medienethiker die Situation ein?

Wir haben in den vergangenen Jahren das Internet vor allem als großes Potenzial gesehen, als großes soziales Potenzial, aber vor allem auch als großes wirtschaftliches Potenzial. Wir waren alle beeindruckt von den enormen Gewinnen, die IT-Firmen, Start-ups undsoweiter gemacht haben. Und jetzt kommen wir in eine Zeit, in der wir sehen, dass alles gar nicht so rosig ist. Alles hat auch seine Schattenseiten. Ich glaube, an all den von Ihnen angesprochenen Debatten ist etwas dran. Aber gleichzeitig halte ich es nicht für zielführend, jetzt von der großen Euphorie zu der totalen Skepsis und der Bewertung dieser Technologie als etwas Bösem und Gefährlichem überzuschwenken, sondern wir müssen irgendwie versuchen, hier jetzt einen Mittelweg zu treffen. Das ist auch das, was wir beim Berliner Kolloquium versucht haben.

 

Beim Berliner Kolloquium kommen Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen zusammen. Auch in Ihrem von der Daimler und Benz Stiftung geförderten Ladenburger Kolleg forschen unter anderem Mediziner, Psychologen und Psychiater, Pädagogen und Medienexperten gemeinsam. Weshalb ist dieses interdisziplinäre Vorgehen wichtig?

Wenn wir gerade über Technologien reden, ist der Fokus oft sehr eng. Es ist so: Ich und meine Technologie – was macht dieses Smartphone mit mir, was bedeutet das für mich? Das ist nur ein Teil der Geschichte.

Was in dieser Perspektive fehlt, das sind die sozialen Bedingungen, die kulturellen Bedingungen, die ethischen Werte und Normen, aber auch die wirtschaftlichen und ökonomischen Bedingungen in unserem Leben. In unserem Forschungsprojekt wollen wir eine detaillierte Auseinandersetzung mit der einzelnen Person und ihren psychischen Problemen, die dann aber in Bezug gesetzt wird zu einem gesellschaftlichen Gesamtbild. Und sie wird auch in Bezug gesetzt zu einer Reflexion, welche Menschenbilder und Werte wir eigentlich gerade haben, wo diese herkommen und ob diese noch treffend sind.

 

Welche Gruppen in unserer Gesellschaft sind von dem Thema „Internet und seelische Gesundheit“ besonders betroffen und in welcher Form?

Betroffen sind fast alle, auch deswegen, weil man sich Internettechnologien eigentlich nicht mehr entziehen kann. Selbst wenn man sie individuell gar nicht nutzt, nutzen Menschen in unserer Umgebung diese Technologien, machen Fotos von uns und laden diese hoch. Ganz besonders relevant ist zum Beispiel auch der Bereich Arbeit. Internettechnologien führen dazu, dass das Arbeits- und Privatleben zunehmend verschwindet. Man kann überall arbeiten. Das ist für viele eine große Bereicherung und bedeutet Flexibilität, es kann aber auch enormen Druck aufbauen. Ganz besonders betroffen sind sicher auch Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen und hier großes Bedürfnis haben nach Orientierung. Folgende Frage ist ja fast schon ein Klassiker: Wie gehe ich mit einer Technologie um, die meine Kinder viel besser verstehen als ich selbst?

 

Welchen besonderen Fokus haben Sie als Medienwissenschaftler und -ethiker auf das Thema?

Was mich gerade besonders interessiert, ist tatsächlich der Fakt, dass wir eine Debatte darüber haben, dass Technologien auch affektiv und emotional auf uns wirken. Das wird aber oft sehr negativ gesehen. Die Idee ist immer noch, dass wir eigentlich rationale, selbstbestimmte Menschen sein müssen. Wenn wir dann affektiv unbewusst angesprochen werden, dann ist das etwas Böses, fast schon: Wir werden ausgetrickst. Das finde ich eine verengte Perspektive, denn unser affektives, emotionales Leben gehört zum Menschsein dazu. Ich suche eine Perspektive, die dem ganzen Menschen gerecht wird, nicht nur dem vernünftigen Teil von uns, aber auf eine Art und Weise, die eben einen Missbrauch dieser Möglichkeiten versucht auszuschließen.

 

Welche konkreten Empfehlungen geben Sie uns als Gesellschaft an die Hand? Was sollte, was kann der Einzelne tun?

Als Gesellschaft müssen wir uns vor allem von dem Druck befreien, irgendwelchen Dingen hinterherlaufen zu müssen, zum Beispiel weil wir psychische Gefahren abwenden müssen oder weil wir besonders in Europa angeblich den Anschluss an irgendeine Entwicklung verpassen würden. Wir haben gerade gesehen, dass Europa mit der neuen Datenschutz-Grundverordnung plötzlich zu einem wichtigen Player geworden ist in der internationalen Welt der Internettechnologie über Europa hinaus.

Es geht um diese Frage: Welche Gestaltungsmöglichkeiten können wir als Gesellschaft für Internettechnologien ermöglichen? Für Einzelne ist es schwer, Empfehlungen zu geben. Wir müssen erst einmal sehen, dass wir in unserer Gesellschaft tatsächlich ganz unterschiedliche Menschen haben mit ganz unterschiedlichen Herkünften, Bedürfnissen, Anforderungen und Haltungen zur Technologie. Wir müssen darauf achten, dass alle Menschen mitkommen. Wir können eine potenzielle Entwicklung, die vielleicht in der Zukunft gut sein wird, jetzt nicht auf dem Rücken von Einzelnen austragen. Wir müssen Einzelnen die Möglichkeit geben, Techniken nutzen zu können, aber nicht unbedacht. Niemand kann oder sollte unbedarft irgend etwas tun.

Wir müssen sicherlich Bildungs- und Informationsangebote verstärken. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir die Verantwortung für einen sinnvollen Umgang mit Technologie komplett bei den Einzelnen abladen und sagen: Ihr müsst euch eben vernünftig verhalten und Industrie und Politik können tun, was sie wollen, und alle Individuen müssen dann darauf reagieren.

 

Blicken wir einmal mutig 20 Jahre in die Zukunft? Was wäre Ihre Idealvorstellung, wie sollte sich das Verhältnis von Internet und seelischer Gesundheit entwickeln?

Ich glaube nach wie vor, dass Internettechnologien ein großes Potenzial haben, Informationen für mehr Leute bereitzustellen, Interaktion und Auseinandersetzung in der Gesellschaft zu erhöhen. Ich hoffe, dass wir es schaffen, dieses Potenzial zu realisieren. Das bedeutet sicher auch, dass es nötig ist, das Internet und Internettechnologien als gesamtgesellschaftliche Ressource zu sehen. Hier sollte, meiner Meinung nach, eine öffentliche oder soziale Organisation dieser Ressource ein Teil davon sein, die also nicht nur privatwirtschaftlich auf dem freien Markt angeboten wird.

 

Und jetzt mal Hand auf’s Herz: Was erwarten Sie ganz realistisch? Welche Entwicklungen wird es in den nächsten Jahren geben?

Das ist vielleicht die schwierigste Frage. Sie haben gerade 20 Jahre in die Zukunft blicken lassen. Wenn Sie einmal überlegen: Vor gut zehn Jahren wusste niemand, was Facebook ist oder fast niemand in Deutschland. 2006 – nun sind es zwölf Jahre her – wurde es für die breite Bevölkerung geöffnet. 20 Jahre sind hier eine Riesenzeit. Wenn Sie mich nach einer realistischen Einschätzung fragen, dann kann ich diese für so eine lange Zeit gerade einfach nicht geben. Ich wüsste es auch gerne, aber da bin ich überfragt.

 

Das Interview steht auch im Daimler Blog.

 

 

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