„Managern großer Konzerne sollte der Fall zu denken geben“, schreibt Ex-„Capital“-Chefredakteur Ralf-Dieter Brunowsky über die Middelhoff-Biographie von „Handelsblatt“-Redakteur Massiomo Bognanni. Und weiter: „Bognanni listet Thomas Middelhoffs berufliche Karriere mit all ihren Sprüngen und Rissen minutiös auf, immer aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters, der mit dem Delinquenten nicht gesprochen hat. Ihm war angeboten worden, das Buch gemeinsam mir Middelhoff zu verfassen, aber Bognanni hat sich darauf zu Recht nicht eingelassen. Dazu ist seine Sichtweise viel zu weit von Middelhoffs Selbstdarstellung entfernt. Middelhoff konnte er daraufhin nicht mehr sprechen.“
Hier ein Buchauszug aus Bognannis „Middelhoff – Abstieg eines Star-Managers“:

Buchautor Massimo Bognanni, Redakteur beim „Handelsblatt“
Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen
Zwei Wärter führen Middelhoff an diesem 14. November 2014 zur Zelle. Trakt A, die Aufnahme. Jeder Häftling durchläuft diese Station. Egal, ob Steuerhinterzieher, Vergewaltiger oder Mörder. Die Frischlinge sind im Schnitt um die 30 Jahre alt. Middelhoff könnte ihr Vater sein.
Der Neue wird in seine Zelle geführt. Die schwere Stahltür ist mit Holz verkleidet. Ein kleiner Spion mit einer Klappe ist zu sehen. Neben der Tür klebt ein gelber Zettel, der für den neuen Häftling noch verhängnisvoll werden wird. »15 Minuten Kontrolle« steht darauf geschrieben.
Zwei Schritte zur Seite ist die Gefängniszelle groß, vier nach vorn, mehr nicht. An der Wand ein Waschbecken, daneben ein Klo. Die Matratze ist aus gelbem Schaumstoff, der wackelige Schrank aus Spanplatten. Keine Tapeten, keine Teppiche. Nur eine Holzleiste, an der persönliche Fotos befestigt werden können. Die schwere Zellentür fällt knarzend in die Fugen. Der Schlüssel dreht. Klick, klick, dann: Isolation.
Middelhoff, der freiheitsliebende Manager, der manchmal mehrfach am Tag über Kontinentalplatten und Zeitzonen hinweg geglitten war, ist weggesperrt. Dieses Mal legt ihm das Schicksal, das es so außerordentlich gut mit ihm gemeint hatte, einen dicken Brocken in den Weg. Wieder eine Aufgabe für ihn, den Teufelskerl. Middelhoffs Anwälte werden Revision einlegen.
Nach wenigen Tagen legt er die Häftlingskluft ab. Als Untersuchungshäftling darf er seine Privatkleidung tragen. Middelhoff wirkt auf das Justizpersonal wie eine Autoritätsperson, würdevoll, die Haare stets gekämmt, frisch rasiert sitzt er da in seiner Zelle. Das Hemd sauber gebügelt, dazu trägt er meist Stoffhose und eine braune Strickjacke.
Beim Gefängnisleiter, Alfred Doliwa, bittet er darum, in der Aufnahmeabteilung bleiben zu dürfen. Normalerweise müsste er in den B-Trakt verlegt werden. Doch Middelhoff bevorzugt das bekannte Territorium, bittet darum, in Einzelhaft zu bleiben. Schließlich braucht er Ruhe zur Arbeit. Längst hat er einen neuen Plan gefasst, blitzschnell eine Perspektive geschaffen. Eine Tür schließt sich, eine andere geht auf. Middelhoff bestellt Bleistift und viel Papier.
Er schreibe seine Memoiren, erklärt er Bewachern. Auf eine bizarre Weise, so schien es, verwirklicht er sich hier, hinter schwedischen Gardinen, seinen Jugendtraum: ein Buchautor zu sein. Zunächst nutzt er noch die Freistunde. Er trottet mit auf den Spaziergängen in dem kargen Innenhof. Wie eingesperrte Raubkatzen tigern die Häftlinge dort im Kreis herum. Ständig beobachtet von Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen Wärtern in Wachtürmen. Doch die Mithäftlinge erkennen ihn. Der prominente Ex-Manager weckt Begehrlichkeiten, schildert er den Wärtern. Middelhoff verzichtet auf den Freigang.
Auch sonst bevorzugt er die eigenen vier Wände. Tagsüber ist die JVA ein lauter Ort. Zwei bis drei Mal in der Woche schrillt der Alarm auf allen Gefängnisfluren. Weil sich wieder einer selbst verletzten wollte oder einen Beamten angegriffen hat. Ständig ertönen Durchsagen. Gruppen von Häftlingen gehen polternd über die Gitterroste zu ihren Sportgruppen oder in die Werkstätten. Fremde Sprachen schwirren durch die Luft. Middelhoff wagt sich in diese Welt nur hinaus, wenn es sein muss.
Massimo Bognanni: „Middelhoff – Abstieg eines Star-Managers“, Campus Verlag, 24,95 Euro, 288 Seiten: http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wirtschaft-gesellschaft/wirtschaft/middelhoff-14239.html
Wie jeder hier darf Middelhoff für 210 Euro im Monat bei einem Händler einkaufen. In Tüten wird dann die Bestellung frei Haus geliefert. Das Essen wird in der Zelle serviert. Auf dem Speiseplan stehen Graupensuppe mit Mettwurst, Chili-con-Carne und gekochte Eier mit Spinat und Kartoffeln. Seine Familie darf er zwei Mal im Monat sehen, jeweils eine Stunde lang. Der Besucherraum ist eng. An den gelb gestrichenen Wänden hängt eine geschmacklose Zeichnung einer leicht bekleideten, knienden Frau. Weil anfänglich Verdunkelungsgefahr besteht, also Absprachen getroffen werden könnten, um Beweise aus dem Weg zu schaffen, sitzt die ganze Zeit ein Beamter daneben. Keine Privatsphäre.
Regelmäßig besucht er den evangelischen Pfarrer, singt im Kirchenchor. Den Rest der Zeit investiert er in seine Autobiografie. Bei leise laufendem Radio sitzt er konzentriert am Schreibtisch. Kommt jemand herein, erhebt er sich zögerlich, mit dem vorwurfsvollen Gestus, gerade aus einem wichtigen Gedankengang gerissen worden zu sein. Es gebe schon interessierte Verlage, sagt er.
Das Schreiben, so wirkt es auf das Wachpersonal, gibt ihm eine Struktur. Seine Unternehmung lautet: Memoiren schreiben. Das Vorstandsbüro seiner Ich-AG ist die gerade einmal acht Quadratmeter große Zelle.
Die Insolvenz
Das »Personal Statement« setzte Bruno Wu im Januar 2015 auf, verschickte es per E-Mail, förmlich im Ton, hart im Inhalt. Die Entzauberung einer vermeintlichen Erfolgsgeschichte. Noch vor wenigen Monaten hatte Middelhoff gesagt, er baue gerade wieder einen Medienkonzern auf, in China: »Da kommt noch was!«
In Bruno Wus Brief klang das nun anders. Ursprünglich, so weit waren sich die beiden einig, wollten die Freunde Wu und Middelhoff mit der BT Capital ein großes Business aufziehen, in dem sie ihrer beiden Aktivitäten bündelten. Doch aus verschiedenen Gründen hätten sie noch nicht einmal das Joint Venture gründen können, geschweige denn ins operative Geschäft starten. 2014 erdachten sie, so beschreibt es Wu, schließlich eine Alternative, um Middelhoffs angekratzte Reputation zu retten. Einen Medienfonds in China. Auch diese Idee habe sich nun erübrigt.
Seit der Verurteilung sei, heißt es da trocken, ein gemeinsames Business in China unmöglich. Seit dem Urteilsspruch seien alle Gespräche abgebrochen worden, auch mit Investoren. Der massive Reputationsverlust mache eine Geschäftsentwicklung unmöglich.
Herr Wu hat endgültig kalte Füße bekommen. Dies war nur der Auftakt zu weiteren Einbrüchen. Middelhoff hatte sie alle pariert: die Angriffe Bergers, die Pfändung seiner Uhr. Doch den entscheidenden Schritt in der Phalanx der Gläubiger macht eine Behörde, das Finanzamt Bielefeld-Außenstadt.Sie stellt einen Insolvenzantrag, der gravierende Folgen hat. Middelhoff hatte lange mit sich vor dem letzten Schritt gerungen. Anwälte, Freunde, die Familie drängten ihn. Allein, es blieb keine andere Wahl. Am 31. März 2015, einem Dienstag, um 14:02 Uhr, beantragt Middelhoff seinerseits die Privatinsolvenz. Der Mann, der einst bei Bertelsmann 40 Millionen Euro Bonus für einen gelungenen Deal erhielt, kann Steuerschulden nicht mehr zahlen.
Es ist eine Steuerlast von schätzungsweise mindestens 5 Millionen Euro, die am Schluss den Ausschlag gibt. Die Bielefelder Finanzbeamten fordern die Summe für Einnahmen aus dem Beratervertrag Middelhoffs mit der Kölner Privatbank Sal. Oppenheim. Middelhoff gab später an, das Bankhaus habe sich sein Wissen und seine Kontakte zu Investoren sichern wollen. Die Honorare seien nur »virtuell« – sie wurden verrechnet mit Kreditverpflichtungen.
Der Insolvenzantrag verändert alles. Middelhoff, der sein Image als millionenschwerer Macher pflegte, ist pleite. Am Nachmittag wird Thorsten Fuest von Brinkmann & Partner in Bielefeld zum Insolvenzverwalter bestimmt. Die Kanzlei unterhält gute Verbindungen zur Münchener Großkanzlei Noerr, die die Interessen des Großgläubigers Deutsche Bank vertritt. Jetzt übernimmt ein Jurist in Ostwestfalen den verwickelten Fall. Die Dinge sind verworren, die Spuren der Middelhoff-Gelder ähneln einem »Drip Painting« von Jackson Pollock, lauter bunte Schlieren, Kreise und Ellipsen. Und wer weiß, ob sich seine gewieften Gegner nicht weitere Schritte überlegen? Manöver vielleicht gegen die Kinder.»Irgendwo muss doch das Geld sein«, sagt Berater Berger vor Vertrauten. Man vermutet »Asset Protection«, vulgo gebunkertes Geld.
Insolvenzverwalter Thorsten Fuest muss erfahren sein in der Welt der Hochfinanz, kundig mit Fonds und Immobilien, geschickt im Umgang mit Spitzenanwälten und mit ungehaltenen Millionären; immerhin hat sein Chef, Kanzleigröße Gerhard Brinkmann, das Handwerk einst an der Seite des Branchenveteranen und Arcandor- Insolvenzverwalters Klaus Hubert Görg gelernt.
Fuest weiß um die Aufregung auf allen Seiten, will sich aber keine Gefühle, keine Schlammschlacht leisten. Nur die Zahlen sollen wichtig sein. Gerade weil er das Erbe von »Big T« ermittelt. Weil es der Name Thomas Middelhoff ist, der auf den Aktendeckeln prangt. Und weil unter den Gläubigern die Beraterlegende Roland Berger und Immobilienmogul Josef Esch zu finden sind.
Thorsten Fuest wälzt seit seiner Bestellung Gerichtsunterlagen, fragt Gläubiger, richtet ein eigenes Sonderkonto ein. Nur: Selbst nach Wochen der Suche hat er kein Geld gefunden. »Null Euro und null Cent« habe er sichern können, so sein erster Wasserstandsbericht.
Alles verschwunden, verschollen, verprasst? Auf der Suche nach verborgenen Schätzen wird Fuest eine »Zahlungsflussanalyse« bis zurück in die 1990er Jahre vornehmen. Jahrelange Recherchen stehen ihm bevor. Der 43-Jährige, keine Krawatte, offenes Hemd, nimmt die Sache sportlich: »Solche Herkulesaufgaben spornen mich an.«
Mindestens 50 Gläubiger haben mit Middelhoff noch eine Rechnung offen. Da ist etwa Berater Roland Berger, der 7 Millionen Euro fordert. Da ist der Immobilienfonds Gewobag mit Forderungen von knapp 1 Million Euro. Da sind die Bank Sal. Oppenheim, die Sparkasse KölnBonn und der Arcandor-Insolvenzverwalter. Auch Josef Esch will immer noch 2,5 Millionen Euro zurück. Zu den Gläubigern zählen zudem Bedienstete Middelhoffs.
Einige Forderungen sind Gegenstand von Prozessen. Wie hoch die Schulden insgesamt sein werden, ist unsicher. Middelhoffs Ziel dagegen ist klar: eine rasche Restschuldbefreiung. Nur wenn er glaubhaft alles daransetzt, seine Gläubiger zu bedienen, wird ihm die Restschuld erlassen. Im besten Fall könnte er nach drei Jahren die Reset-Taste drücken. Doch das gilt nur, wenn Fuest keine verborgenen Vermögen findet.
Folter-Gate
Middelhoff verfolgt seinen finanziellen Niedergang hinter den dicken Mauern der JVA Essen. Nichts wurde daraus, dank Revision vor Weihnachten in Freiheit zu sein. Auch die anderen Haftprüfungen liefen ins Leere. Middelhoff hat stark an Gewicht verloren, ist gesundheitlich angeschlagen. Die nächste Haftprüfung steht kurz bevor, es ist April 2015. Der leidenschaftliche Pianist spielt über seine Anwälte nun eine Klaviatur, die er selbst aus dem Gefängnis heraus bestens beherrscht: die der Medien.
Es geht um jenen kleinen gelben Zettel am Rahmen seiner Zellentür, den Middelhoff zunächst in seiner Tragweite kaum wahrnehmen konnte. Erst später bekommt er die Folgenschwere der knappen Information zu spüren, die da steht: »15 Minuten Kontrolle«. In Middelhoffs Zelle wurde jede Viertelstunde die Metallplatte über dem Spion beiseitegeschoben. Ein Beamter kontrollierte regelmäßig, auch in der Nacht. Bewegte sich der Brustkorb? Gab es ein Lebenszeichen? War der Insasse leblos, klopfte der Wärter an.
Anfang April stecken Middelhoffs Mannen der Bild am Sonntag exklusive Informationen. Die Kontrollen zur Suizidprävention seien die reinste Folter! 672 Stunden Schlafentzug hätten den Häftling krank gemacht. Möglicherweise unheilbar. Die Boulevard-Journalisten bekommen Einblicke in die Krankenakte. Die Ärzte diagnostizieren Chilblain Lupus, eine seltene Immunschwächekrankheit. Die Symptome erinnern an Frostbeulen (Chilblain = Frostbeule): Middelhoff klagte über geschwollene Hände und Füße. Sohn Jan, 31, meldet sich zu Wort: »Mein Vater hatte zu keinem Zeitpunkt Selbstmordabsichten.«
Noch am gleichen Tag setzt sich Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner an den Schreibtisch – und widmet seine »Post von Wagner« dem »lieben Thomas«: »Wenn nur die Hälfte stimmt, was Ihre Anwälte sagen – Schlaffolter etc. – haben Sie mein Mitgefühl. Ich mag nicht, wenn Menschen leiden. Menschen, die wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilt wurden, sollen büßen. Aber nicht leiden. Knast ist für niemanden leicht. Vielleicht ist der Knast leichter für Zuhälter und Gewohnheitsverbrecher. Middelhoff war der Chef des damaligen Weltkonzerns Bertelsmann, Chef von Karstadt. Middelhoff lebte in der Welt der Götter und Helden. Er ist nun krank, abgemagert. Er büßt nicht nur, er leidet.«
Auch der Süddeutschen Zeitung gibt Middelhoffs Anwalt Einblicke in die Krankenakte. Middelhoff habe der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt. Middelhoff, 1,91 Meter groß, habe bei Haftantritt 87,4 Kilogramm gewogen. Nach fünf Monaten Haft wiege er nur noch rund 70 Kilo. Gewebe an Händen und Füßen zerfalle. Middelhoff könne sich kaum das Hemd zuknöpfen, einen Stift halten.
»Irgendwann muss dem Martyrium ein Ende gesetzt werden«, sagt der Jurist Sven Thomas dem Westfalenblatt. Weitere Reaktionen bleiben nicht aus. Das Middelhoff-Bild in der Öffentlichkeit wandelt sich. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, fürchtet nun, an Middelhoff werde ein Exempel statuiert. »Es ist nicht Haftzweck, einen Menschen zu brechen«, schreibt der gelernte Jurist in seinem Kommentar. »Fürsorge darf nicht zur Schikane werden. Haft ist als solche hart genug; sie darf nicht so gestaltet werden, dass sie einen Menschen mehr als unvermeidbar drangsaliert und malträtiert.«
Auch die Völkerrechtsexpertin von Amnesty International meldet sich zu Wort. Middelhoffs Haftbedingungen könnten eine unmenschliche Behandlung darstellen und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Der Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönenhausen, Hubertus Knabe, fühlt sich an schlimmste Tage der Vergangenheit erinnert. »Was über die Behandlung von Thomas Middelhoff in der Justizvollzugsanstalt Essen bekannt geworden ist, erinnert mich an die Methoden des DDR-Staatssicherheitsdienstes«, diktiert der Historiker den Journalisten von Spiegel Online in den Block. Auch die Stasi habe Gefangene zermürbt, indem sie die ganze Nacht hindurch immer wieder das Licht angemacht habe.
Es vergeht kein Tag, da melden sich auch die Grünen in der Debatte zu Wort in Gestalt von Renate Künast. Das zuständige Gericht solle die Mittel nochmals prüfen. Möglich sei auch, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen und tägliche Meldeauflagen für den Freigänger zu verhängen. Die Berichte verfehlen ihre Wirkung nicht. Selbst vor den Landtag Nordrhein-Westfalens schafft es die Causa Middelhoff. NRW-Justizminister Thomas Kutschaty sieht sich gezwungen, vor dem Rechtsausschuss Rechenschaft abzulegen. Am 22. April 2015 weist er die Kritik aus dem Middelhoff-Lager zurück.
Der Minister sieht hinter der Diskussion eine gezielte Kampagne Middelhoffs – und stellt sich vor die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Essen, die zu Unrecht in ein schlechtes Licht gerückt worden seien. Kutschaty dankt dem Personal für den professionellen Umgang mit dem schwierigen Fall Middelhoff. Acht Seiten lang ist sein Untersuchungsbericht. Die Annahme der möglichen Suizidgefährdung Middelhoffs beruhe auf zwei psychologischen Gutachten. Das eine sei kurz nach der Aufnahme von der Anstaltspsychologin erstellt worden, schließlich hatte Richter Schmitt noch im Gerichtssaal einen entsprechenden Hinweis vermerkt.
Das zweite Gutachten verfasste der Leiter des Psychologischen Dienstes vor der ersten Haftprüfung im Dezember. Middelhoff hätte der Dauerkontrolle entgehen können, wenn er der Unterbringung in einer Zweierzelle zugestimmt hätte. Doch er habe das Angebot mehrfach abgelehnt. Middelhoff habe sich auch zu keinem Zeitpunkt bei der JVA beschwert.Im Gegenteil. Gegenüber den Psychologen habe Middelhoff geäußert, er fühle sich »gut aufgehoben« und »er schätze die Art und Weise des Umgangs der Bediensteten mit ihm«.
Doch wirkungslos blieb Middelhoffs Vorstoß in die Öffentlichkeit nicht. Fachleute sprechen bei so etwas von »Litigation PR«, also einer gezielten Kampagne als Begleitung juristischer Streitigkeiten. Das Lager Middelhoff hat die öffentliche Meinung gedreht, Druck auf die Behörden ausgeübt. Das Landgericht Essen setzt den Haftbefehl gegen Middelhoff schließlich aus. Gegen Auflagen.
Das Gericht taxiert die Kaution auf 895 000 Euro. Middelhoff muss seine Reisepässe abgeben und sich mehrfach in der Woche auf dem Polizeirevier melden. Doch Middelhoffs Anwalt Fromm hat alle Mühe, die Kaution einzutreiben. Zusagen habe er, ja. Doch er könne nicht mit Sicherheit sagen, »ob alle, die einen Beitrag zugesagt haben, auch leisten werden«. Über eine quälende Woche lang dauert es, dann bestätigt das Landgericht: Die Kaution ist hinterlegt. Middelhoff kommt frei.
Spekulationen schwirren durch die Medien, wer denn das Geld zur Verfügung gestellt habe. War es die Familie? Freunde aus Amerika? Oder Klinikbetreiber Ulrich Marseille? Ein Name fällt dabei nicht. Und doch hat auch Mark Wössner Geld beigesteuert. Middelhoffs Mentor und Förderer. Sein Ziehvater.
Für Wössner ist es ein Schlussstrich. Er ist durch mit Middelhoff. Unversöhnlich. Erst allmählich, nach dem Symposium zu seinem Geburtstag, war ein Verdacht bei ihm aufgelodert, den er jahrelang weggewischt, verdrängt, überhört hatte. Doch Wössner forschte nach, führte Gespräche. Seine Meinung war nun gefällt, unumstößlich: Thomas Middelhoff war es gewesen, der damals bei Bertelsmann-Patriarch Mohn dafür gesorgt hatte, dass er, Wössner, hatte gehen müssen. Middelhoff, so seine Analyse, habe es nicht ertragen können, in die riesigen Fußstapfen seines Mentors zu treten. Er sei zu Mohn gegangen, habe eine Entscheidung provoziert: entweder Wössner oder Middelhoff. Für seinen einstigen Günstling empfindet er jetzt nur noch: Mitleid. Das hat selbst der Thomas nicht verdient. Deshalb ringt sich Wössner zu der Geste durch.
Zurück ins Gefängnis
Die Villa Aldea war ihr Rückzugsort, hier verbrachten die Middelhoffs glückliche Feriensommertage. Als es in Deutschland bedrohlich und ungemütlich wurde, bot das Anwesen in Saint-Tropez gar eine Heimat. Während des Strafprozesses schöpfte Middelhoff hier neue Energie. So viele Erinnerungen. Am 30. September 2015 wird in einem Büro ganz in der Nähe des mondänen Jachthafens von Saint-Tropez, notariell besiegelt, dass es für die Middelhoffs keine neuen Glücksmomente in der Aldea mehr geben wird. Die Villa: passé. Ein Ehepaar, Londoner Investmentbanker, einst bei Goldman Sachs beschäftigt, lässt sich den Spaß 22 987 370 Euro kosten, es kauft die Villa. Oder genauer gesagt: die Gesellschaft, der die Villa gehört. Das sandfarbene Haupthaus – Middelhoff wird es in diesem Leben wohl nicht mehr als Eigentümer betreten.
Für Middelhoffs Gläubiger in Deutschland ist dieser 30. September trotzdem kein Freudentag. Denn seit 2014 steht da eine Schuld von 6,2 Millionen Euro im Grundbuch – zugunsten der niederländischen Gesellschaft Pyrite, die wiederum im Einflussbereich von Middelhoffs Anwalt Hartmut Fromm zu verorten ist. Daneben lastet noch eine Hypothek von 13 Millionen Euro zugunsten der Bank Crédit Agricole Suisse, die mittlerweile CA Indosuez heißt. Nach Abzug von Gebühren und Steuern bleibt wohl nur ein kläglicher Rest.
Nicht der einzige Verlust dieser Tage: Eine knappe Überschrift, zwei nüchterne Absätze – mehr benötigt der Bundesgerichtshof (BGH) nicht, um Thomas Middelhoffs Vita als Topmanager um das düstere Kapitel eines Wirtschaftskriminellen zu erweitern. Middelhoffs Revision, verkündete der BGH an einem Montagvormittag im Februar 2016 trocken, werde als unbegründet verworfen. Das Urteil gegen ihn sei rechtskräftig. Für den 62-Jährigen bedeutet die juristische Schlappe: Er muss wohl bald wieder in die Justizvollzugsanstalt einrücken. Sobald die Akten am Landgericht eingegangen sind, wird über den Strafantritt entschieden.
Bielefeld, wenige Wochen später, Ortsteil Eckardtsheim, die Einrichtung der Bodelschwinghschen Stiftung. Middelhoffs Tochter fährt den Vater im roten Mini zur neuen Arbeitsstelle. Ab heute wird er in einer Behindertenwerkstatt aushelfen. Um die Stelle habe er sich selbst bemüht. Wie früher drängeln sich die Fotografen um den besten Schuss, Passanten laufen mit Handy-Kameras neben dem einstigen Topmanager her. Middelhoff hat einen beigen Pulli über das hellblaue Hemd gezogen. Dazu eine beige Hose und dunkelbraune Schuhe. Der beige Parker flattert. Middelhoff hat sichtbar an Gewicht verloren. Die ihm stets eigene Jugendlichkeit – verflogen.
Die neue Arbeit erhöht seine Chancen, die Reststrafe im offenen Vollzug absitzen zu können. Middelhoff, der einst Hunderttausende Beschäftigte unter sich hatte, ist nun eine einfache Hilfskraft. Zu Middelhoffs Aufgaben, so der Leiter der Einrichtung, zählten das Aufräumen und Tischdecken. Ebenso, wie »Dinge von A nach B« zu tragen. »Big T«, »T-Rex«, »Magier«, »Majestät« – heute nur noch Laufbursche. Monatsgehalt: 1 785 Euro brutto. Das Geld fließt an seinen Insolvenzverwalter.
Am Freitag, den 13. Mai 2016, um kurz vor 16 Uhr, tritt Middelhoff erneut seine Haft an. Er ist in der JVA Bielefeld untergebracht. Nur eine Woche später ist klar: Er darf in den offenen Vollzug, bald als Freigänger tagsüber in der Behindertenwerkstatt arbeiten. Nur die Nächte muss er weiterhin im Gefängnis verbringen.
Anfang Juli verbreitete der Focus die Meldung vom Ehe-Aus der Middelhoffs. 35 Jahre lang waren sie verheiratet. Das Paar, das sich auf dem Parkett einer Tanzschule kennen gelernt hatte. Cornelie hat auf ihren Beruf als Architektin verzichtet, die fünf Kinder überwiegend allein großgezogen, regelmäßige Geschäftsessen erduldet, selbst in den Ferien auf ihren Mann verzichtet. Gemeinsam haben sie jahrelang die Medienberichte nach dem Arcandor-Aus durchgestanden. Im Strafprozess ist Cornelie gar selbst in die Öffentlichkeit getreten, um ihrem Mann beizustehen. Jetzt trennten sich ihre Wege im Stillen. Ohne Schlammschlacht, ohne Rosenkrieg.
Der Focus spekulierte, das Paar habe sich aus finanziellen Überlegungen getrennt. Die Trennung folge einem Kalkül: Die Middelhoffs wollten mit der Scheidung Teile ihres Vermögens retten. Das Ehepaar lebe in einer »Zugewinngemeinschaft«. Die Hälfte aller Einnahmen der Ehefrau entfielen auf Thomas Middelhoff – und stünden damit den Gläubigern zu. Durch die Scheidung, so wird ein Middelhoff-Anwalt zitiert, hätten diese keinen Zugriff. Insolvenzverwalter Thorsten Fuest widerspricht dieser Theorie. Das mache weder juristisch noch logisch Sinn. »In Deutschland muss sich niemand scheiden lassen, um sein Vermögen vor dem Insolvenzverwalter des Ehegatten zu schützen.«
Im Juli vollbringt Insolvenzverwalter Fuest das, was Middelhoffs Anwälten über Jahre nicht geglückt ist: Er beendet den jahrelangen Rechtsstreit mit Sal. Oppenheim. Middelhoff und das Bankhaus schließen einen Vergleich. Eigentlich sollte im Oktober das Urteil verkündet werden. Doch die Streithähne kommen Richter Stefan Singbartl zuvor. Details zu dem Deal nennen die Parteien nicht. Grund zur Freude dürfen auch Middelhoffs Gläubiger haben: Insidern zufolge erhält Middelhoff Geld von Sal. Oppenheim.
Ein Teil des Geldes von Middelhoffs Festgeldkonten, um das der Pleitier jahrelang gekämpft hatte, fließt nun in die Insolvenzmasse. Fuest ist derweil Middelhoffs Anwälten auf der Spur. So fahndet er nach den 2,4 Millionen Euro aus dem Immobilienverkauf des Fonds Ossendorf VII, die an die Kanzlei des Middelhoff-Verteidigers Winfried Holtermüller geflossen sind. Das Geld, befindet Fuest, hat die Kanzlei unrechtmäßig kassiert. Die Parteien einigen sich auf einen Vergleich. 1,55 Millionen Euro muss die Kanzlei zurückzahlen.
Nicht nur deshalb hat der Geldtransfer in die Kanzleikassen einen Beigeschmack. 50 000 Euro der Millionensumme sind den Ermittlungen zufolge zurück an ein nahes Familienmitglied geflossen. Seitdem fragen sich die Gläubiger: Sichern sich die Middelhoffs etwa noch Gelder über ihre Anwälte?
Mit dem gleichen Misstrauen blicken sie auf die 6 Millionen Euro, die sich Firmen aus dem Umkreis des Middelhoff-Vertrauten Hartmut Fromm als Grundschuld auf die inzwischen verkaufte Villa Aldea haben eintragen lassen. Hat Fromm tatsächlich berechtigte Forderungen in Höhe von 6 Millionen Euro? Die Ermittlungen des Verwalters werden wohl noch Jahre dauern und bis ins Ausland reichen. Gewissenhaft geht er der Frage nach, ob Middelhoff tatsächlich nirgendwo Geld gebunkert hat, das den Gläubigern zusteht.
Gleichzeitig prüft er, ob die Transfers an Hartmut Fromm rechtens waren. An einer weiteren Front endet die Schlammschlacht. Das Schreiben enthält nur einen Satz – und doch ist seine Wirkung groß: Middelhoff zieht seine Gegenklage gegen Unternehmensberater Roland Berger zurück. Die Probleme lichten sich. Der Wust aus Schuldnern und Verschiebungen, aus Klagen und Gegenklagen entwirrt sich.
Am 11. Mai 2017, an seinem 64. Geburtstag, steht Middelhoff erneut vor Gericht. Dieses Mal teilt er sich die Anklagebank mit acht früheren Arcandor-Aufsichtsräten und deren teuren Anwälten. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Der Aufsichtsrat des strauchelnden Handelsriesen habe Middelhoff den Bonus von 2,3 Millionen Euro nach Lust und Laune gewährt – unabhängig von den erbrachten Managementleistungen oder der Situation des Unternehmens. In den Augen der Staatsanwaltschaft haben die Kontrolleure Untreue in besonders schwerem Fall begangen. Middelhoff werfen sie »Anstiftung zur Untreue« vor. Es sind 34 Verhandlungstage angesetzt. Beinahe so viele wie beim ersten Strafverfahren gegen Middelhoff.
Doch dieser Prozess nimmt eine andere Wende. Schon am zweiten Verhandlungstag meldet sich Middelhoff zu Wort. Offen erzählt er von seiner Arbeit in der Behindertenwerkstatt, in der er Bewohner zur Toilette begleite, ihnen beim Essen helfe, leichte Spaziergänge mache. Zwei Brüche, so Middelhoff, habe es in seinem Leben gegeben. Der eine sei die Verurteilung vor dem Essener Landgericht. Der zweite Bruch seien die Kontrollen in der Untersuchungshaft gewesen. Er sei nun krank. Unheilbar. An Augen, Niere, Herz.
Der Rechtsstaat kennt Gnade. Das Verfahren gegen Middelhoff, verkündete der Richter wenige Prozesstage später, werde nach Paragraph 154 der Strafprozessordnung eingestellt. Kein Freispruch, aber auch kein Prozessmarathon mehr. Der Paragraph greift, wenn der Angeklagte schon wegen einer anderen Tat rechtskräftig verurteilt wurde und eine mögliche weitere Strafe im Vergleich nicht »ins Gewicht« fällt. Mit anderen Worten: Middelhoff hat genug gebüßt. Die Staatsanwaltschaft Bochum hat auch all die anderen Verfahren eingestellt: wegen einer möglichen Insolvenzverschleppung; der Oxford-Spende; einer etwaigen Falschaussage unter Eid. Ebenso haben die Kollegen in München ihr Verfahren gegen Middelhoff wegen einer möglichen Falschaussage im Kirch-Prozess ad acta gelegt.
Als der Vorsitzende der Ersten Strafkammer des Landgerichts Essen an einem Tag im Juni 2017 die Einstellung verkündet, zeigt Middelhoff keine Regung. Kein Lächeln. Keine Siegerpose. Nicht einmal ein Nicken. Auch nach dem Termin gibt er keine Statements ab, schultert die Ledertasche, zieht von dannen. Middelhoff verlässt vorerst die Bühne. Im Stillen. Er wurde als Wunderkind gefeiert. Diente als Romanvorlage. Taugte zum Prügelknaben. Mal bewunderte ihn das Publikum, mal schlugen ihm Hass und Hohn entgegen. Nur eines war es mit Middelhoff nie: langweilig.
Ich glaube dieses Buch werde ich mir mal anschaffen. Das ist sicherlich sehr interessant. Es gibt so viele Star Manager in Deutschland die Dreck am stecken haben und damit durchkommen. Müsste auch mal Rhetorik lernen um so durchzukommen wie die! Danke für den Beitrag!