Buchauszug Matthias Nöllke: „Machtspiele“

Buchauszug aus Matthias Nöllkes „Machtspiele“ : Machtdynamiken im Büro, typische Machtsituationen und ihr wahrer Sinn und Zweck – vom alltäglichen Machtgeplänkel bis hin zur bösartigen Intrige. 

 

Autor Matthias Nöllke

 

Soft-Power-Spiele

Was du zusammendrücken willst, das musst du erst richtig sich ausdehnen lassen. Was du schwächen willst, das musst du erst richtig stark werden lassen. Wem du nehmen willst, dem musst du erst richtig geben. Das Weiche siegt über das Harte. Das Schwache siegt über das Starke. Lao Tse: Tao te King

Macht und Weichheit, im abendländischen Denken reimt sich das noch nicht so recht zusammen. Dabei gibt es auch bei uns eine reiche Tradition von höchst wirksamen »Soft-Power-Spielen«, die einige irrtümlich für das Kontrastprogramm zu den sonst üblichen Machtspielen halten, bei denen ja eher Härte und Rücksichtslosigkeit gefragt sind. Doch manchmal geht es eben auch ohne Härte, wenn man seinen Willen durchsetzen möchte. Unter Umständen, über die noch zu reden sein wird, kommen Sie auf die weiche Tour sogar eher zum Ziel. Aber Ihr Gegenspieler eben auch.

 

Soft-Power-Spiele der Führungskräfte, die gar nicht menschenfreundlich sind

Daher möchte ich in diesem Kapitel Ihren Blick für die Soft-Power-Spiele schärfen, die durchaus nicht immer so lieb und menschenfreundlich sind, wie sie daherkommen. Sie lernen vier typische Spiele kennen, die Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern treiben: Die »Eigenverantwortung«, das »Stühle wechseln«, »Ein Auge zudrücken« und das »Enttäuschungsspiel«.

 

Der Nährboden für die weiche Macht Soft-Power-Spiele setzen ein bestimmtes Umfeld voraus, in Organisationen eine bestimmte Unternehmens- oder Spielkultur. Allzu dominantes, bosshaftes Auftreten steht dort zumindest offiziell nicht hoch im Kurs. Mitarbeiter sollen dort keine Befehlsempfänger sein, sondern sie sollen partizipieren, sich einbringen, mitentscheiden oder zumindest einverstanden sein mit dem, was geschieht (was häufig auf ein und dasselbe hinausläuft).

 

In einem Umfeld, in dem rauere Sitten herrschen, wären Soft-Power-Spiele völlig fehl am Platz. Eine Führungskraft, die es damit versucht, würde sich unter Umständen lächerlich machen. Auf der anderen Seite scheint es aber durchaus möglich, die weichen Spiele durch härtere Varianten anzureichern oder ganz ins harte Rollenfach überzuwechseln.

 

Matthias Nöllke: „Machtspiele – Wie wir unseren Willen durchsetzen.“, Haufe Verlag, 226 Seiten 19,95 Euro, https://shop.haufe.de/prod/machtspiele

 

Eigenverantwortung

Eines der beliebtesten Soft-Power-Spiele heißt »Eigenverantwortung«. Dabei geht es natürlich nicht um echte Eigenverantwortung (sonst wäre es ja kein Spiel), sondern darum, dass der Mitarbeiter die Verantwortung dafür zugeschoben bekommt, das zu tun, was die Führungskraft will. Das ist etwas verkürzt gesagt, denn was die Führungskraft will, ist ebenfalls in hohem Maße davon abhängig, was andere wollen ‒ der eigene Chef, die Kunden, die Lieferanten, die Investoren, die Öffentlichkeit oder irgendwelche anderen Personen, von denen Sie und ich nichts ahnen.

Doch verwässern wir nicht die Grundidee, die wieder auf unsere vertraute Machtspielregel hinausläuft: Wer Macht sucht, muss Verantwortung loswerden. Der Mitarbeiter soll sich selbst darum kümmern, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wie er das fertig bringt, ist seine Sache. Hier hat er »freie Hand« ‒ und das ist gut so, denn in dem »Wie« liegt eine ganze Menge an Unannehmlichkeiten und Zumutungen, um die sich die Führungskraft nun nicht mehr kümmern muss. Die Probleme hat erst einmal der Mitarbeiter an den Hacken. Und das Wort »Probleme« existiert im Wortschatz eines versierten Eigenverantwortungsspielers nur in Verbindung mit dem Wort »Lösungen«.

 

Das Ziel ist das Ziel des Vorgesetzten – der Weg ist ihm egal

Nun ist das bestimmte Ziel, das der Mitarbeiter eigenverantwortlich ansteuert, natürlich ziemlich genau das, was sein Vorgesetzter erreichen möchte. Ein anderes Ziel würde der gar nicht zulassen. Dass er sein Ziel zum Ziel des Mitarbeiters macht, ist schon der ganze Trick bei der Sache. Es ist der Weg, den er ihm freistellt. Aber der Weg ist dem Chef auch herzlich egal. Er ahnt nur, dass er beschwerlich ist, also nichts, mit dem man sich gerne abgibt.

Nehmen Sie hingegen einen autoritären Chef, der seinen Mitarbeiter an die kurze Leine nimmt und ihm vorschreibt, was er zu tun hat: Weg und Ziel zugleich. Da gibt es eine klare Trennung zwischen dem, was der Chef, und dem, was der Mitarbeiter will. Auch das hat seine Vorteile, denn es erlaubt dem Mitarbeiter, Dinge zu tun, die er von sich aus nie tun würde, die er aber erledigt, weil ein anderer dafür die Verantwortung trägt.

Beim Spiel »Eigenverantwortung« muss der Chef auf solche Sonderwünsche verzichten. Doch dafür hat er etwas viel Wichtigeres erreicht: Er hat den Mitarbeiter darauf verpflichtet, seinen Willen als Ziel zu übernehmen. Erinnern wir uns:

Macht besteht darin, gegenüber anderen seinen Willen durchzusetzen ‒ auch gegen Widerstreben, wie Max Weber sagt. Nun, hier entfällt das Widerstreben. Denn der Mitarbeiter brennt förmlich darauf zu tun, was sein Chef von ihm verlangt.

 

Gute Mitarbeiter setzen sich ehrgeizige Ziele

Versierte Eigenverantwortungsspieler geben den Mitarbeitern nicht einfach ihre Ziele vor, um dann zu behaupten, dies seien deren eigene Ziele. Das wäre plump, ein halbwegs intelligenter Mitarbeiter würde sich vielleicht auf diese Komödie einlassen, aber nur, um den Schein zu wahren. Nein, das Eigenverantwortungsspiel geht so weit, dass sich die Mitarbeiter ihre Ziele selbst setzen. Anders gesagt, als Mitarbeiter fällt es in Ihre Verantwortung, worauf Sie sich verpflichten. Niemand schreibt Ihnen das vor.

 

Alle Macht dem Mitarbeiter, könnte man nun annehmen. Aber das ist damit gerade nicht bezweckt. Vielmehr geht es darum, dass der Mitarbeiter für seine Ziele Verantwortung übernimmt. Setzt er sich zu mickrige Ziele, fällt das auf ihn zurück. Sein Chef wird ihn sanft dazu bewegen, sich mehr zuzutrauen, was nichts anderes heißt als: mehr zu leisten. Mit diesem Argument wird er auf besonders offene Ohren stoßen, wenn der Mitarbeiter mit anderen im Wettbewerb steht, deren ehrgeizige Ziele er möglichst zu übertreffen  versucht. Dabei sorgt der Vorgesetzte dafür, die Ziele in die richtigen Bahnen zu lenken und aufeinander abzustimmen. Denn wenn sich jeder ohne jede Koordination seine Ziele setzen würde ‒ und seien sie noch so hoch angesetzt ‒, bräche das Chaos aus.

 

Wenn sich der Mitarbeiter kaputt macht, ist es seine Sache

Ziele und Interessen Und wo ist jetzt der Haken bei diesem Spiel? Warum ist es gar nicht so lieb und menschenfreundlich? Eigenverantwortung ist doch eine gute Sache, oder nicht? Im Prinzip schon. Solange sie nicht in einem Machtspiel gegen denjenigen eingesetzt wird, der sie übernehmen soll. Dann gibt es nämlich gleich zwei mehr oder weniger große Haken, an denen der »Eigenverantwortungsnehmer« über den Tisch gezogen wird: Der Mitarbeiter legt seine Ziele in einem Rahmen fest, der es gar nicht erlaubt, eigene Interessen ins Spiel zu bringen. Er kann sich nur entscheiden, mehr oder weniger Leistung in eng begrenzten Feldern zu erbringen ‒ um damit bei seinem Vorgesetzten Punkte zu sammeln. Die Verantwortung für den Weg wird dem Mitarbeiter nur überlassen, weil ihm so viel abverlangt wird, dass der Vorgesetzte den Weg nicht verantworten kann. Wenn der Mitarbeiter sich kaputt macht, ist das seine Sache.

Echte Eigenverantwortung setzt zwingend voraus, dass ich meine Interessen wahren kann. In dem Augenblick, in dem ich von ihnen absehen muss, ja gezwungen bin, gegen sie zu handeln, kann von Eigenverantwortung keine Rede mehr sein. Und genau das geschieht in diesem Spiel: Bestimmte Interessen, die ich als Mitarbeiter habe, genauer: alles, was außerhalb der Interessen der Organisation liegt, kann ich gar nicht geltend machen, wenn ich mich nicht lächerlich machen will. Denn es geht nur darum, ein möglichst hohes Leistungsversprechen abzugeben, um sich gegenüber seinem Chef auszuzeichnen.

 

Der Weg ist der Weg – Dankbar sein müssen, wenn man tut, was der Chef will

Wenn mir als Mitarbeiter überlassen bleibt, wie ich mein Ziel erreiche, dann wirkt das erst einmal sehr sympathisch: mehr Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten. Doch löst sich diese Freiheit augenblicklich in Luft auf, wenn ich Mühe habe, den eingegangenen Verpflichtungen hinterherzuhetzen. Meinen Chef kann ich dafür nicht verantwortlich machen, denn ich habe mich selbst dazu verpflichtet. Freiwillig. Habe ich die eigenen Fähigkeiten am Ende überschätzt?

Zerknirscht wende ich mich an meinen Chef, der entweder verständnislos und panisch reagiert (»Wie können Sie uns so hängen lassen?!«) oder aber freundlich und hilfsbereit (immerhin bewegen wir uns auf der Ebene der Soft-Power-Spiele). Gemeinsam finden wir eine Lösung. Oder sagen wir besser: Wir spielen das Spiel »Wir finden eine Lösung«, denn wieder achtet der Chef darauf, dass alles ganz eigenverantwortlich geschieht, er sich also nicht die Hände mit der lästigen Verantwortung schmutzig macht. Und ich bin ihm auch noch unendlich dankbar dafür, dass er mich nicht hängen lässt, sondern mich auch noch dabei unterstützt, wenn ich tue, was er will.

 

Gefahren – die Freiheit, sich totzuschuften

Auch wenn es im Allgemeinen harmlos bleibt und sich die Mitarbeiter an die spezielle Form der »Eigenverantwortung« gewöhnen, so kann das Spiel auch zerstörerische Folgen haben. Mitarbeiter reiben sich auf und sind dabei der Ansicht, sie würden die Dinge steuern. Eine Gesprächspartnerin für dieses Buch, die dem »Eigenverantwortungsspiel« auf den Leim gegangen war, betonte, dass sie in ihrer Firma »kommen und gehen« könne, wann sie wolle. Was in ihrem Fall hieß: Niemand konnte sie hindern, extrem früh zu kommen und extrem spät wieder zu gehen ‒ und am Wochenende noch Arbeit mitzunehmen.

Aber auch für den Machtspieler kann das Spiel unangenehme Konsequenzen haben: Wenn die Mitarbeiter durchschauen, wer hier wem die Ziele setzt und wer sich für wen aufreibt, fühlen sie sich ausgenutzt und werden das Spiel hintertreiben. Darüber hinaus hinterlässt das Spiel verbrannte Erde. Der eigentlich ganz sympathische Gedanke der Eigenverantwortung wird durch solche Spielchen in Verruf gebracht.

 

Gegenstrategien

Das Spiel »Eigenverantwortung« ist schwerer zu durchkreuzen, als man meint. Denn Sie stellen sich selbst ins Abseits, wenn Sie nicht mitspielen, sich keine ehrgeizigen Ziele vornehmen und auch die Verantwortung dafür nicht übernehmen wollen. Sie setzen sich dem unangenehmen Verdacht aus, dass Sie zu jenen unreifen Persönlichkeiten gehören, denen man immer alles vorschreiben muss, die keinen Biss haben und die unfähig sind, Verantwortung für sich zu übernehmen. Auch als Aufklärer in Sachen »echter Eigenverantwortung« werden Sie sich nicht gerade beliebt machen.

 

Nie auf unrealistische Ziele festnageln lassen

Es hilft also nichts: Sie werden das Spiel mitspielen müssen. Da Sie immerhin wissen, wie der Hase läuft, können Sie versuchen, das Beste daraus zu machen. Das heißt: Lassen Sie sich niemals auf unrealistische Ziele festnageln. Nutzen Sie die Freiheiten und Gestaltungsspielräume, die Sie haben. Und wenn es keine gibt, fordern Sie sie ein oder nehmen Sie sich die Freiheiten einfach. Und schließlich: Schlagen Sie Alarm, wenn es Schwierigkeiten gibt. Es sei denn, Sie können das Problem tatsächlich »eigenverantwortlich« lösen. Ansonsten aber gilt: Holen Sie Ihren Chef mit ins Boot, wenn Sie ihn brauchen. Fordern Sie, dass er Sie unterstützt, denn selbstverständlich bleibt er mitverantwortlich.

 

Stühle wechseln: Wenn sich Mitarbeiter in den Chef versetzen sollen

Führungskräfte müssen hin und wieder Entscheidungen treffen, die bei ihren Mitarbeitern gar nicht gut ankommen. Womöglich formiert sich Widerstand, es gibt Gegenforderungen oder es wird sogar ein Ultimatum gestellt mit dem Ziel, dass die Entscheidung zurückgenommen wird. Um solche unerfreulichen Entwicklungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, spielen manche Vorgesetzte das Spiel »Stühle wechseln«. Dabei geht es darum, dass die Mitarbeiter sich in die schwierige Lage ihres Chefs hineinversetzen, um zu erkennen, dass der mal wieder die bestmögliche Entscheidung getroffen hat.

 

Für wen ist das Spiel geeignet?

Das Spiel eignet sich für Vorgesetzte, die ihren Mitarbeitern einen unerfreulichen Beschluss verkaufen müssen, egal, ob sie einem einzelnen  Mitarbeiter die betrübliche Mitteilung machen müssen, dass nicht er, sondern sein unsympathischer Konkurrent die Projektleitung übernimmt, oder ob sie der gesamten Belegschaft zu erklären haben, dass sich irgendeine Regelung verschärft hat, eine Vergünstigung weg fällt oder das Geld wieder einmal knapp ist. Auch wenn sich in jüngster Zeit in den Führungsetagen der Organisation einige unerfreuliche Vorfälle abgespielt haben, die erklärungsbedürftig sind, kommt hin und wieder das »Stühle wechseln« zum Einsatz.

 

Der Spielverlauf

Das Spiel beginnt damit, dass der Vorgesetzte seinen Mitarbeitern die fragliche Entscheidung mitteilt und ihnen die näheren Hintergründe erläutert. Und während die Gesichter immer länger werden, vollzieht er den zweiten Spielzug: Er wechselt den Stuhl. Geistig, versteht sich. Das heißt, er versetzt sich in die Situation seiner Mitarbeiter, die, so wie die Dinge nun einmal liegen, ziemlich unerfreulich ist. Er sagt Sätze wie: »Ich kann verstehen, wenn Sie jetzt bedrückt sind.« Oder: »Ich an Ihrer Stelle wäre jetzt auch enttäuscht. Nach der ganzen Arbeit, die Sie in dieses Projekt investiert haben.« Oder: »Ich weiß, dass Ihnen das völlig unverständlich erscheint und Sie wütend auf mich sind. Ich an Ihrer Stelle wäre es auch.«

 

Verstehen Sie den Chef und es hätte schlimmer kommen können oder: es gab keine andere Wahl

Daraufhin folgt Spielzug Nummer drei: Ein Satz, der fast immer mit dem Wörtchen »aber« beginnt und der den Perspektivenwechsel vollendet: Die Zuhörer sollen auch Sie, den Chef, verstehen. Unter den aktuellen Umständen hätten Sie gar keine andere Wahl gehabt, als diese Entscheidung zu treffen.

Es folgen noch ein, zwei Erläuterungen, die deutlich machen: Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können. Ja, eigentlich waren noch ganz andere Maßnahmen in der Diskussion, die Sie aber abwenden konnten. Daran schließt sich häufig, aber nicht zwingend, die klassische Frage an: Wenn jemand von den Mitarbeitern eine bessere Lösung in dieser Frage wüsste, dann, bitte sehr, sind Sie dankbar, sie zu erfahren.

 

„Meine Tür steht immer offen“

Da im Normalfall niemand eine bessere Lösung aus dem Hut zaubert, kann das Spiel damit sein Bewenden haben. Es ist aber auch möglich, das Spiel noch ein Weilchen weiter zu treiben. Der Chef bleibt geistig auf dem Stuhl der Mitarbeiter und versucht umgekehrt, seine Mitarbeiter ständig auf seinen Stuhl zu zwingen. Je nach dem Härtegrad seiner Zumutung kann er auf Verständnis hoffen. Oder auch nicht. Das ist aber auch kein Drama, denn der Chef »versteht« auch das »vollkommen«. Womöglich beschließt er seine Erklärungen mit folgenden Sätzen: »Ich erwarte nicht, dass Sie diese Entscheidung gutheissen. Doch bitte ich Sie: Denken Sie einmal über die Sache nach. Und wenn Sie Anregungen oder Vorschläge haben, bitte, meine Tür steht immer offen …«

Und wenn durch die offene Tür tatsächlich ein Mitarbeiter mit einem Vorschlag oder einer Anregung kommt, wird er nicht etwa zurückgewiesen. Nein, gleichgültig, wie weltfremd, utopisch oder unbrauchbar der Vorschlag ist, der Vorgesetzte ist »dankbar«. Denn mit seinem Vorschlag dokumentiert der Mitarbeiter, dass er sich auf das Spiel eingelassen hat: Er nimmt den Platz seines Vorgesetzten ein, steht vor den gleichen Problemen, unterliegt den gleichen Sachzwängen und verfügt doch nicht annähernd über die gleichen Informationen.

Geradezu ideal verläuft der Stuhlwechsel, wenn sich der Vorgesetzte irgendein unwesentliches Detail herausgreifen kann, das er berücksichtigen wird. Denn damit kann er gegenüber den Mitarbeitern immer darauf hinweisen, dass die Entscheidung »auf Ihren Wunsch« noch verändert wurde.

 

Die Mitarbeiter ins Boot holen

Selbstredend verwendet nicht jeder Vorgesetzte so viel Mühe auf den Stuhlwechsel, und nicht immer wird so viel Mühe aufzuwenden sein. Denn das hängt ganz von der Schwere des Falles ab. Das Ziel ist aber immer gleich: Die Mitarbeiter sollen die Entscheidung akzeptieren, sie sollen sie zumindest hinnehmen. Und dazu ist der Perspektivenwechsel das geeignete Mittel.

Dass sich der Vorgesetzte seinerseits in die Rolle des Mitarbeiters versetzt, macht ihn in dieser Situation kaum angreifbar. Er kann ja alles verstehen ‒ aus Mitarbeiterperspektive. Dass sich daraus leider keine nennenswerten Konsequenzen ergeben, ist eben Teil des Spiels.

 

Gefahren

Wird das Manöver als reine Showveranstaltung empfunden, schafft es nicht gerade Vertrauen. Außerdem nutzt sich die Sache durch mehrmaligen Gebrauch ab. Wer sich immer wieder anhören muss, dass ihn sein Chef ja so gut verstehen kann, der fühlt sich irgendwann verschaukelt.

Gegenstrategien Wenn es nur darum geht, dass Ihr Chef Ihnen schonend etwas beibringen will, das Sie ohnehin akzeptieren müssen (Kollege bekommt Projektleitung), brauchen Sie keine Gegenstrategie. Ihre Interessen decken sich ja: Ihr Chef möchte die Beziehung zu Ihnen nicht belasten. Das möchten Sie ganz sicher auch nicht. Anders verhält es sich, wenn Sie dazu gebracht werden sollen, irgendeine Kröte zu schlucken, die Ihr Vorgesetzter oder die Geschäftsleitung ausgebrütet hat.

Sie müssen sich keineswegs auf den Stuhlwechsel einlassen. Sie sind ja gerade nicht der Vorgesetzte. Artikulieren Sie Ihre Interessen. Vielleicht lassen sich daraus konkrete Forderungen ableiten. Und vielleicht verfügen Sie über das eine oder andere Druckmittel (zum Beispiel Dienst nach Vorschrift machen, Öffentlichkeit herstellen, Arbeit niederlegen), mit dem Sie Ihren Forderungen Nachdruck verleihen können.

 

Ein Auge zudrücken

In jeder Organisation gibt es Vorschriften, Anweisungen, Verfahrensregeln, die offiziell eingehalten werden müssen. Im praktischen Leben weichen die Mitarbeiter jedoch davon ab. Sie vereinfachen sich die Sache, halten Dienstwege nicht ein, unterlaufen umständliche Sicherheitsbestimmungen, verwenden leichteres, billigeres oder offiziell nicht zugelassenes Material, kürzen vorgeschriebene Prozeduren ab. Dadurch erleichtern sie sich die Arbeit, werden schneller fertig und/oder erzielen bessere Ergebnisse. Darüber freut sich natürlich auch der Chef, zumal wenn er mit diesen besseren Ergebnissen seine Vorgaben bequem erreicht und/oder seine Konkurrenten ausstechen kann.

 

Abweichen vom offiziellen Kurs 

Auf der anderen Seite schafft dieses Abweichen vom offiziellen Kurs natürlich auch ein gravierendes Problem: Denn der Vorgesetzte ist nicht nur dafür zuständig, dass seine Mitarbeiter eine möglichst gute Leistung erbringen, sondern auch dafür, dass alles mit rechten Dingen zugeht, also so, wie es vorgeschrieben ist. Werden Vorschriften übertreten, so müsste er das eigentlich unterbinden. Besonders dringlich ist das natürlich, wenn Sicherheitsbestimmungen verletzt oder irgendwelche krummen Sachen gedreht werden. Schreitet er hier nicht ein, so fällt das auf ihn zurück.

 

Das ist der Hintergrund für das Spiel »ein Auge zudrücken«. Dabei duldet der Vorgesetzte bestimmte Praktiken, die offiziell nicht erlaubt sind. Er tut das aber nur, solange er sie (scheinbar) nicht bemerkt. Dann würde er nämlich sofort einschreiten und den Verstoß ahnden. Doch er drückt ein Auge zu: einmal als verschwörerisches Augenzwinkern, vor allem aber, um die Abweichungen nicht mitzubekommen.

 

Vorschriften unterlaufen lassen

Das Spiel kann sich auf einem ganz harmlosen Niveau abspielen: Der Vorgesetzte sieht es nicht so eng, wenn sein Mitarbeiter sich die Arbeit einfacher macht, indem er die Regeln übertritt. Manche Vorschriften sind alte Zöpfe, die sich niemand abzuschneiden traut. Sie scheinen nur den Sinn zu haben, alles umständlicher zu machen. Sie sind einfach nicht praxistauglich, sondern nur lästig. Sie sind von Leuten erdacht, die keine Ahnung haben, wie der normale Arbeitsalltag abläuft. Das meinen zumindest die Praktiker, die sich diese Vorschriften nach ihren Bedürfnissen zurechtschneidern oder sie völlig umgehen.

 

Wenn von Mitarbeitern erwartet wird, dass sie Vorschriften umgehen

Dafür können sie bei ihrem Vorgesetzten auf volles Verständnis rechnen. Ja, es ist sogar möglich, dass es von den Mitarbeitern erwartet wird, die Vorschriften zu umgehen. Weil es alle hier so halten ‒ und noch keinem etwas passiert ist. Und weil es gar nicht möglich ist, auf geradem Wege die Vorgaben einzuhalten. Die Verstöße werden inoffiziell toleriert, aber natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht im Gesichtskreis des Vorgesetzten stattfinden.

 

Wer sich erwischen lässt, wird bestraft

Mitarbeiter, die mit dem Spiel noch nicht vertraut sind, begehen manchmal den Fehler, ihren Vorgesetzten den Regelverstoß merken zu lassen. Sie gehen davon aus, dass der doch ohnehin Bescheid weiß und über die Sache hinweggehen wird. Allerdings tut er das nicht, sondern ahndet den Verstoß, mitunter sogar recht streng. Der Mitarbeiter fühlt sich ungerecht behandelt, weil sich in seiner Abteilung doch alle so verhalten und ungestraft davonkommen. Erfahrene Kollegen erklären ihm milde lächelnd: »Du darfst dich eben nicht erwischen lassen.«

 

Chef-Kontrollen, auf die alle vorbereitet sind

Unter Umständen führt der Vorgesetzte sogar Kontrollen durch, allerdings so, dass alle vorbereitet sind, mögliche Spuren verwischen können und sich nur der Dümmste erwischen lässt, um den es niemandem leid tut. Geht es um etwas schwerere Verstöße, kann er auch eine unabhängige Kontrollinstanz beauftragen, deren Aufgabe darin besteht, nichts Nennenswertes zu entdecken. Um die Kontrollinstanz bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen, sind alle betroffenen Mitarbeiter aufgerufen, sich vorzusehen und sich keinesfalls erwischen zu lassen.

Damit jedoch unter diesen erschwerten Bedingungen Normverstöße noch weiter möglich sind, wird zeitnah ein Frühwarnsystem eingerichtet, das die Arbeit der Kontrollinstanz aufmerksam begleitet und in gewissem Sinne ja auch unterstützt. Denn wer der Kontrollinstanz jetzt noch ins Netz geht, ist entweder dumm, tollkühn oder fühlt sich unangreifbar ‒ alles keine Eigenschaften, mit denen man sich für die Organisation empfiehlt.

 

Vergünstigungen entziehen

Dass dieses Spiel auch dazu dient, kriminelle Machenschaften zu decken, sollte Ihnen nicht den Blick dafür verstellen, dass es häufig um ganz harmlose Dinge geht, um simple Abweichungen vom vorgeschriebenen Weg, um Tricks, inoffizielle Arbeitserleichterungen, die auch der Mitarbeiter selbst ins Spiel bringt. So berichtete mir ein Angestellter, dass es ihm inoffiziell gestattet war, eine bestimme Software zu nutzen, weil er mit der Firmensoftware nicht zurechtkam. Jeder wusste davon, doch hätte er das nie offen aussprechen dürfen. Er musste den Schein wahren, und alle anderen auch.

 

Inoffizielle Arbeitserleichterungen – die sich auch als Druckmittel eignen

Weil sie den Mitarbeitern zugute kommen, eignen sich diese inoffiziellen Vergünstigungen auch als Druckmittel. Wollen die Mitarbeiter nicht so, wie der Vorgesetzte will, kündigt er an: »Ich werde es nicht länger hinnehmen, dass sich hier keiner an die Regeln hält. Jeder glaubt, er kann tun, was er will. So geht es nicht!« Er droht mit Sanktionen und macht zum Erstaunen seiner Mitarbeiter zeitweise sogar ernst damit, bis sich das Verhältnis wieder entspannt und alle wieder harmonisch zusammenarbeiten.

 

Den Vorgesetzten trifft nie eine Schuld

Der Hauptnutzen dieses Spiels besteht wieder einmal darin, Verantwortung loszuwerden. Natürlich gilt der Vorgesetzte als der Verantwortliche für alles, was in seiner Abteilung passiert. Aber was sich hinter seinem Rücken abspielt, dafür wird er nicht im Ernst zur Rechenschaft gezogen. Es sei denn, ihm wird im Zuge des »Schuldschiebens« die Verantwortung  aufgeladen. Ansonsten kann er sich immer darauf berufen, von allem nichts gewusst zu haben. Wenn das glaubhaft ist, geht es allenfalls um die Frage, ob er von den Vorfällen »hätte wissen müssen« ‒ was schon sehr viel vager klingt und viel Spielraum lässt, den Vorgesetzten zu entlasten ‒ wenn man will. Und meist will man.

Denn für jede Organisation bedeutet es eine eklatante Schwächung, wenn sie ständig ihr Führungspersonal auswechseln muss. Abgesehen davon würden die Verantwortlichen nur noch extrem defensiv agieren, wenn sie wirk lich für alles zur Verantwortung gezogen würden, was hinter ihrem  Rücken passiert.

 

Unter dem Zwang der Verhältnisse

Nun muss es keineswegs so sein, dass in Wahrheit den Vorgesetzten die Schuld trifft, nicht nur, weil es oft die Mitarbeiter sind, die sich unter dem Zwang der Verhältnisse ihre Arbeit vereinfacht haben. Manche Abweichung vom offiziellen Weg hat sich im Laufe der Jahre eingeschliffen und bewährt. Der Vorgesetzte könnte den Kampf gegen diese Missstände aufnehmen, doch ist die Chance sehr hoch, dass er damit scheitert. Daher ist es ein Gebot politischer Klugheit, bei den kleinen Abweichungen tatsächlich ein Auge zuzudrücken und das Spiel so zu spielen, wie ich es hier geschildert habe.

 

Nur wenige Vorgesetzte räumen auf, legen Sümpfe trocken

Der Vorgesetzte gerät jedoch schnell auf vermintes Gelände, wenn die Abweichungen nicht mehr so harmlos sind, wenn es sich um die bereits erwähnten krummen Dinger dreht. Man würde natürlich erwarten, dass ein halbwegs integerer Vorgesetzter da einschreitet, dass er aufräumt und gegebenenfalls den Sumpf trockenlegt. Doch das scheint sehr viel leichter gesagt als getan zu sein. Gehören solche Machenschaften wie etwa Korruption zu den üblichen Gepflogenheiten, so bringen offenbar nur wenige Vorgesetzte den Mut auf, dagegen anzugehen. Vielmehr scheinen sie in diesem Fall gleich beide Augen zuzudrücken.

 

Augen zu ‒ von oben nach unten. Im Zweifel gibt sich der Chef entsetzt

Das Spiel kann in großem Stil angelegt sein und die ganze Organisation durchziehen. Die oberste Führungsebene hat keine Ahnung, welche schmutzigen Geschäfte an der Basis laufen. Dabei werden Vorgaben gemacht, die sich nur durch mehr oder weniger regelkonforme Abkürzungen einhalten lassen. Solange die Sache gut geht, will niemand so genau hinschauen.

 

Nichts gewusst, getäuscht worden – und in der Branche üblich

Das Gleiche gilt auch für den Umgang mit Zulieferern oder Geschäftspartnern. Es werden Aufträge ausgeschrieben, die sich realistischerweise nur erfüllen lassen, wenn an der einen oder anderen Stelle nachgeholfen wird. Fliegen diese Praktiken auf, so gibt sich der Auftraggeber entsetzt. Davon habe man nichts gewusst, man sei von seinem Geschäftspartner getäuscht worden. Und dieser Geschäftspartner hat natürlich auch eine Erklärung für seine Machenschaften: Auf andere Weise hätte er den Auftrag gar nicht bekommen. Und überhaupt sei das in der Branche üblich.

 

Gefahren

Das »Augenzudrücken« macht die Organisation geschmeidiger, doch ist es irritierend, wenn für die Mitarbeiter nicht klar ist, welche Maßstäbe denn nun gelten. Und erst recht zerstört es das Vertrauen, wenn der Vorgesetzte seine Leute im Regen stehen lässt und sich ahnungslos gibt. Die Mitarbeiter müssen verstehen, wie das Spiel läuft, welche Abkürzungen sie nehmen dürfen und unter welchen Bedingungen. Extrem gefährlich wird es, wenn der Vorgesetzte krumme Touren duldet. Möglicherweise wird er dadurch erpressbar. Und wenn die Sache auffliegt, ist fraglich, ob er sich wirklich aus der Verantwortung stehlen kann. Etwas wird gewiss an ihm kleben bleiben.

 

Gegenstrategien – wenn die Leistung auf offiziellem Weg unerreichbar ist 

Solange das Spiel für Sie durchschaubar bleibt und es nur um die kleinen Abkürzungen geht, können Sie es mitspielen. Es haben ja alle etwas davon. Unter Umständen bleibt Ihnen auch gar keine andere Wahl, weil Sie Ihre Leistung gar nicht erbringen können, wenn Sie sich an den offiziellen Weg halten. In diesem Fall könnten Sie schon versuchen, den Vorgesetzten ein wenig festzunageln ‒ sofern es sich nicht gerade um irgendwelche persönlichen Vorlieben handelt (wie bei dem Beispiel mit der Software). Es ist nämlich nicht in Ordnung, dass Sie Ihre Arbeit nur dann erledigen können, wenn Sie von dem offiziellen Weg abweichen und dann für die Abweichungen bestraft werden.

Wenn möglich, sollten Sie Ihren Chef über Ihr Dilemma informieren. Es geht darum, dass Sie ihn ins Boot holen, dass Sie sich absichern und vermeiden, dass der Regelverstoß, von dem auch Ihr Vorgesetzter profitiert, an Ihnen hängen bleibt. Und was die krummen Dinger betrifft, so gibt es nur eine Gegenstrategie: Lassen Sie die Finger davon.

 

Das »Sei-kein-Arschloch«-Spiel

Unser Selbstwertgefühl beruht nicht nur darauf, dass wir viel leisten und wirksam sind. Mindestens ebenso wichtig ist es, dass wir meinen: Im Großen und Ganzen sind wir moralisch in Ordnung, loyal und vertrauenswürdig. In der Welt würde es besser zugehen, wenn sich unsere Mitmenschen genauso anständig verhalten würden wie wir. Kaum jemand meint von sich, dass er wirklich unmoralisch ist.

 

Jeder strebt danach, sich für einen „anständigen“ Menschen zu halten 

Kommt es doch mal vor, dass wir nicht nach unseren eigenen Maßstäben handeln, dann machen wir die Umstände dafür verantwortlich. Wir konnten nicht anders. Oder wir waren nicht ganz bei uns. Eine absolute Ausnahme. Wer hingegen gewohnheitsmäßig Normen bricht, der hat nicht selten einen strengen »Ehrencodex«. Dass der eingehalten wird, gleicht die Dinge wieder aus ‒ und sorgt dafür, dass man sich für einen besonders »anständigen« Menschen halten kann. Danach streben wir alle. Denn nur dann fühlen wir uns gut, mit uns selbst im Reinen. Gewissensbisse und Schuldgefühle sind belastend beim Spiel um die Macht.

 

Genau an dieser Stelle setzt ein ausgesprochen softes und defensives Machtspiel an. Der Gegenspieler soll davon abgehalten werden, seine Machtposition auszunutzen. Und zwar einzig und allein dadurch, dass man ihm zu verstehen gibt: Wenn Sie das tun, dann verhalten Sie sich unfair, unmoralisch, niederträchtig.

Das mag als sehr schwaches Druckmittel erscheinen. Doch sollten Sie es nicht unterschätzen. Wenn es frühzeitig ins Spiel gebracht wird, kann es außerordentlich wirksam sein. Und zwar nicht nur wenn die Möglichkeit besteht, die fragwürdigen Manöver des Gegenspielers auf die Vorderbühne zu bringen. Manchmal ist es ausreichend, ihm gewissermaßen vorauseilend den Spiegel vorzuhalten, um ihn von seinem Tun abzuhalten. Er soll erkennen: Wenn ich so handle, mache ich mich zum Bösewicht. Nicht nur in den Augen der anderen, sondern auch in meinen eigenen.

 

Nur die besten Absichten unterstellen

Das »Sei kein Arschloch«-Spiel hat vor allem dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Anschein gewahrt bleibt, der Gegenspieler habe sich selbst entschieden, seine Machtposition nicht auszunutzen. Er ist ein so fairer, anständiger Mensch, dass er es »nicht nötig« hat, Sie zu schädigen. Er kommt Ihnen sogar noch entgegen. Sie belohnen ihn dafür mit dem angenehmen Gefühl, ein guter Mensch zu sein.

 

Das heißt, Sie dürfen den anderen nicht merken lassen, dass Sie ihm unterstellen, er könnte auch anders. Nein, Sie lassen ihn spüren, dass Sie davon ausgehen, er werde sich anständig verhalten. Gleichzeitig müssen Sie ihm vor Augen führen, was für schlechte Menschen das sind, die rücksichtslos ihren eigenen Vorteil durchsetzen und ihre Mitmenschen schädigen. Im Idealfall halten Sie ihn nicht nur davon ab, sich so zu verhalten. Sie bringen ihn auch noch dazu, diejenigen zu verurteilen, die sich über die moralischen Skrupel hinwegsetzen. Ein Hinweis noch: Das »Sei kein Arschloch«-Spiel funktioniert nur in einem Umfeld, in dem zumindest die Illusion aufrechterhalten wird, dass man anständig miteinander umgeht.

 

Gefahren

Dieses Spiel können Sie nahezu gefahrlos betreiben. Allenfalls riskieren Sie, dass man an Ihr eigenes Verhalten ähnliche Maßstäbe anlegt. Dann sehen Sie sich heftiger Kritik ausgesetzt, wenn sich das Blatt wendet und Sie selbst nicht zögern, Ihre Machtposition auszuschöpfen. Doch das ist ein ganz neuer Fall. Und hohe Ansprüche an das Verhalten anderer haben noch niemanden davon abgehalten, sich selbst allerlei Freiheiten herauszunehmen.

 

Gegenstrategien: Unbeeindruckt bleiben, wenn andere einen ablehnen

Wir haben es bereits angesprochen: Das »Sei kein Arschloch«-Spiel ist sehr defensiv ausgerichtet und hat eigentlich nur Aussicht auf Erfolg, wenn Sie sich von den Fairplay-Appellen erreichen lassen. Ist das so, dann brauchen Sie keine Gegenstrategie. Sie folgen ja nur ihren ethischen Grundsätzen.

Versierte Machtspieler lassen sich von diesem Spiel wenig beeindrucken. Sie durchschauen sofort, auf welchem Register die anderen spielen. Und sie haben keinerlei Scheu, sich bei den anderen unbeliebt zu machen. Das ist ja ohnehin eine Grundvoraussetzung, um dauerhaft eine Machtposition einzunehmen. Man darf sich nicht allzu sehr davon beeindrucken lassen, dass andere Menschen einen ablehnen. Doch nun möchten auch und gerade diejenigen, die sich im Machtgefüge recht weit oben befinden, gute Menschen sein, die sich nichts vorzuwerfen haben. Dies lässt sich auf zweifache Art erreichen: Die (ohnehin etwas feingesponnenen) Einwände nimmt man gar nicht wahr. Oder man wertet diejenigen ab, die sie vorbringen. Es lässt sich sehr leicht behaupten: Die verfolgen ihre eigenen fragwürdigen Interessen, denen man entschieden entgegentreten muss.

 

Das Enttäuschungsspiel

Unser kleines Kabinett von Soft-Power-Spielen wäre unvollständig, wenn wir nicht wenigstens einen Vertreter der Kategorie »Spiele auf der Klaviatur der Gefühle« vorstellen würden. Das »Enttäuschungsspiel« nimmt hier einen herausragenden Platz ein ‒ vergleichbar etwa mit dem »Opferspiel«, das jedoch eher von unten nach oben gespielt wird, während mit dem Enttäuschungsspiel vornehmlich der Vorgesetzte einzelne Mitarbeiter unter Druck setzen kann.

Aber ‒ das gilt sowohl für das Opfer-, wie für das Enttäuschungsspiel ‒ beide können auch in der Gegenrichtung gespielt werden: Der Vorgesetzte kann sich als beklagenswertes Opfer ins Spiel bringen (erst recht im Rahmen eines Soft-Power-Spiels) und der Mitarbeiter kann seinen Vorgesetzten mit der scharfen Waffe der Enttäuschung quälen.

 

Für wen geeignet? Enttäuschung ist kostbar – und sollte nicht an jeden verschwendet werden 

Zwingend erforderlich ist ein intaktes persönliches Verhältnis zwischen dem enttäuschten Vorgesetzten und seinem enttäuschenden Mitarbeiter. Das Spiel kommt vor allem für, sagen wir: hochwertige Beziehungen in Frage. Von Mitarbeitern, an denen Ihnen nichts liegt, sollten Sie nicht einmal im Spiel enttäuscht sein. Denn Sie entwerten Ihre Enttäuschung, wenn Sie über alles und jedes enttäuscht sind. Enttäuschung ist etwas Kostbares, das Sie nicht an jeden verschwenden sollten, der sich Ihrem Willen widersetzt.

Enttäuschung will verdient sein. Und noch etwas sollten Sie im Auge behalten: Gefühlskalte Karrieremenschen werden Sie mit dem Enttäuschungsspiel nicht erreichen, womöglich werden Sie bei denen eher Erheiterung auslösen.

 

Spielverlauf

Wie beim Opferspiel geht es auch beim Enttäuschungsspiel um emotionale Verstrickung. Auch hier müssen Sie zunächst einmal eine gute Beziehung zu Ihrem Gegenspieler aufbauen. Als Vorgesetzter sind Sie in einer privilegierten Situation. Im Normalfall versuchen Mitarbeiter, ihrem Vorgesetzten zu gefallen, seine Anerkennung zu bekommen. Denn sie sind von ihm abhängig, wie sie nur allzu gut wissen. Wenn ihr Vorgesetzter wollte, dann könnte er etwas für sie tun, ihre Arbeit erleichtern, ihnen interessante Aufgaben geben, lästige Kollegen vom Hals halten und vieles mehr. Wenn er sie hingegen nicht mag … Einer aktuellen Studie zufolge ist ein schlechtes Verhältnis zum Chef Kündigungsgrund Nummer eins. Kaum jemand hält es länger aus, wenn der Chef gegen ihn ist.

 

Den Mitarbeiter anerkennen und allmählich überfordern

Umgekehrt heißt das: Wenn Sie eine gute Beziehung aufbauen wollen, werden Sie offene Türen einrennen. Dabei greift eins ins andere, da Sie als Chef den Mitarbeiter ja tatsächlich schätzen. Darum wollen Sie ja überhaupt Macht über ihn. Und dazu müssen Sie ihn erst einmal emotional an sich binden. Als Vorgesetzter, versteht sich. Sie geben ihm Anerkennung, Sie fördern ihn ‒ und Sie fordern ihn.

 

Das grausame Enttäuschungsspiel

Hier liegt bereits das Scharnier, an dem das eher freundliche Spiel, das bis hierher dem Spiel des Lobens so ähnlich scheint, umklappt in das grausame Enttäuschungsspiel. Denn Sie fordern den anderen nicht nur, Sie überfordern ihn allmählich ‒ nicht allzu sehr, aber doch immerhin genug, um enttäuscht zu sein, dass er das, was Sie sich von ihm versprochen haben, nicht erreicht hat. Und wenn Sie bis hierher alles richtig gemacht haben, wird dies Ihren Gegenspieler entsetzlich wurmen.

 

Im Folgenden setzen Sie ihn immer wieder unter Enttäuschungsdruck: Wenn er nicht das tut, was Sie wollen, sind Sie enttäuscht. Wenn er sich eine Aufgabe nicht zutraut, sind Sie enttäuscht. Wenn er für Ihr Anliegen gerade keine Zeit hat … Sie haben das Prinzip begriffen. Dabei ist es unabdingbar, den Mitarbeiter immer wieder aufzubauen, ihm einzuhämmern, dass Sie an ihn glauben. Aber er muss wissen: Wenn er nicht spurt, setzt es den Peitschenhieb der Enttäuschung.

 

Der Spieler macht sich abhängig, um zu kontrollieren

Vielleicht halten Sie das Enttäuschungsspiel nur für die schwarze Schwester des weißen Spiels des Lobens. Doch gibt es einen wichtigen Unterschied: Während beim Loben der Vorgesetzte über der ganzen Angelegenheit schwebt und seine Lobportionen austeilt, ist er hier regelrecht verstrickt. Er macht überhaupt gar keinen Hehl daraus, dass er auf den Mitarbeiter angewiesen ist. Im Gegenteil, er übertreibt diese Abhängigkeit, bis es dem Mitarbeiter im Gewissen schmerzt. »Ich brauche Sie«, lautet die Botschaft, »Sie dürfen mich einfach nicht hängen lassen.«

 

Er plant den Mitarbeiter einfach nach seinen Vorstellungen ein, er rechnet fest mit ihm, weil sonst das ganze Projekt kippt. »Ich weiß, Sie schaffen das, Frau Goldbach«, verkündet der Chef ‒ und droht unterschwellig mit maßloser Enttäuschung, wenn seine Mitarbeiterin die Erwartungen nicht erfüllt. Daher wird Frau Goldbach alles tun, dem Vertrauen ihres Chefs gerecht zu werden. Und danach wartet dann der nächste dicke Fisch, der ebenfalls gefangen und zerlegt werden muss.

 

Es gehört zum Enttäuschungsspiel dazu, dass mit der Enttäuschung nicht nur gedroht wird, sondern dass der Mitarbeiter sie auch hin und wieder zu schmecken bekommt. Irgendetwas lässt sich immer finden, was nicht gut gelaufen ist, erst recht, wenn der Mitarbeiter überlastet ist. An dem Grad seiner Zerknirschung kann der Vorgesetzte ablesen, wie viel Macht er aktuell noch über seine Spitzenkraft besitzt.

 

Glänzende Aussichten

Das Enttäuschungsspiel wird gerne in Verbindung mit dem Spiel »glänzende Aussichten« gespielt. Denn auch die sind es, mit denen der Vorgesetzte seinen Mitarbeiter antreibt, und nicht nur mit Lob und Anerkennung. Die glänzenden Aussichten bleiben häufig unbestimmt oder werden halb im Scherz geäußert, außerdem lassen sie sich mit dem Enttäuschungsspiel wieder in weite Ferne rücken.

 

Das Spiel mit Gefühlen: Sie sind nicht echt und ein Mittel, um zu gängeln

Oberflächlich betrachtet geht bei dem Enttäuschungsspiel alles mit rechten Dingen zu. Es ist nur allzu verständlich, dass ein Vorgesetzter gedämpft reagiert, wenn ein Mitarbeiter die Hoffnung, die er in ihn setzt, nicht erfüllt. Das wenig Menschenfreundliche bei diesem Spiel liegt denn auch gar nicht darin, dass sich der Vorgesetzte über seinen Mitarbeiter ärgert und von ihm enttäuscht ist. Das Bedenkliche, ja Abstoßende ist vielmehr, dass seine Gefühle nicht echt sind, dass sie ein Mittel sind, um den Mitarbeiter zu gängeln. Seine Enttäuschung ist nicht angemessen. Um Druck auszuüben, reagiert der Vorgesetzte enttäuschter, als es ihm eigentlich zusteht.

 

Gefahren: Das Spiel wird durchschaut

Spielt der Chef allzu oft auf dem Enttäuschungsregister, nutzt sich der Effekt allmählich ab. Der Mitarbeiter nimmt die Sache nicht mehr ganz so ernst. Und wenn er das Spiel durchschaut und die Absicht bemerkt, ist der Schaden beträchtlich. Das Vertrauensverhältnis, auf dem das Enttäuschungsspiel ja letztlich aufbaut, wird durch solche Manöver zerstört.

 

Gegenstrategien: Wenn die Leistung nur dem Chef zugute kommt – die Enttäuschung abprallen lassen, 

Der erste Schritt besteht darin, dass Sie als Mitarbeiter das Spiel überhaupt durchschauen. Das ist häufig schwer genug, denn schließlich entwickelt es sich ja aus einem guten persönlichen Verhältnis heraus. Sie fühlen sich von Ihrem Chef anerkannt und hoch geschätzt ‒ die Enttäuschung ist ja nur die Kehrseite davon. Dass er Sie vereinnahmt, können Sie ihm eigentlich nicht vorwerfen. Er fordert Sie und verlangt Ihnen Höchstleistungen ab ‒ das ist doch eigentlich etwas Positives. Solange sich das Spiel auf diesem Niveau bewegt, können Sie durchaus mitspielen ‒ sogar wenn Sie vermuten, dass die Enttäuschung von Ihrem Chef manchmal überdramatisiert ist.

Bedenklich wird es jedoch, wenn Sie ausgenutzt werden. Wenn Sie sich aufreiben und diese Leistung nicht Ihnen zugute kommt, sondern ausschließlich Ihrem Chef. Dann wird es höchste Zeit, dass Sie sich aus dieser emotionalen Verstrickung lösen. Zeigen Sie Ihrem Chef, dass er mit seiner Enttäuschungsnummer keine Macht über Sie hat. Haben Sie den Mut, seine Enttäuschung einfach an sich abprallen zu lassen. Sie werden feststellen, wie Ihnen plötzlich wieder Macht zuwächst.

 

 

 

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