Buchauszug aus Lars Vollmers „Zurück an die Arbeit“: Alle müssen wieder mehr arbeiten dürfen – statt zu machen, was nur wie Arbeit aussieht

Mitarbeiter und ihre Chefs verbringen in den meisten Unternehmen mehr als die Hälfte ihrer Zeit mit Tätigkeiten, die wie Arbeit aussehen, aber keine Arbeit sind: Meetings, Jahresgesprächen, Budgetverhandlungen, Reports, Genehmigungsprozeduren, Power-Point-Präsentationen, Unternehmensleitbildern, Organigrammen – reinem Business-Theater, das keine Wertschöpfung erzeugt, nicht dem Kunden dient und nur eins ist: Verschwendung. Management-Vordenker Lars Vollmer analysiert, was in den Unternehmen falsch läuft und warum: Weil Unternehmen 100 Jahre alten Prinzipien und Methoden arbeiten. Ein Buchauszug:

 

Rituale, Reports und Regierungserklärungen

In den meisten Unternehmen wird viel zu wenig gearbeitet! – Ja, Sie lesen richtig! Die meisten Mitarbeiter UND vor allem die meisten Führungskräfte müssen meiner Ansicht nach deutlich mehr arbeiten, wenn sie wollen, dass ihr Arbeitsplatz auf Dauer bestehen bleibt und ihr Unternehmen floriert. Deutlich mehr!

Im ersten Moment mag das klingen, als hätte ich mich im Jahrhundert geirrt oder würde moderne Unternehmen mit Galeeren oder Steinbrüchen verwechseln. Schon klar. Aber weder bin ich von der Mentalität oder von meinem Beruf her ein altkapitalistischer Hardliner, noch verkenne ich die Zeichen der Zeit. Im Gegenteil.

 

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„Zurück an die Arbeit! Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden“ von Lars Vollmer, Linde Verlag, Wien, 192 Seiten, 24,90 Euro

Link zum Shop: http://www.lindeverlag.de/titel-1-1/zurueck_an_die_arbeit-6409/

 

Dieses Buch ist für mich eine Herzenssache. Und nicht nur dieses Buch – mit meinem ganzen beruflichen Wirken geht es mir ganz besonders um eines: Arbeit muss wieder Freude machen. Sie muss funktionieren, Sinn ergeben und sich dauerhaft lohnen. Meine Vision sind viele, viele von Arbeit beseelte Menschen in wirtschaftlich erfolgreichen Firmen. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen im Gefühl, etwas Sinnvolles gerne und aus freien Stücken zu tun, dazu beitragen, dass es ihnen selbst und vielen anderen Menschen besser geht.

 

Alle müssen wieder mehr arbeiten dürfen

Und darum fordere ich, dass alle mehr arbeiten. Die Voraussetzung dafür ist: Alle müssen wieder mehr arbeiten dürfen! Mit alle meine nicht etwa nur den von Meetings Genervten, aber den auch. Ich meine nicht nur den vom Jahresbewertungsgespräch Frustrierten, aber den auch. Ich meine nicht nur den nach dem Assessmentcenter Enttäuschten, aber den auch. Ich meine nicht nur den an der Parteienkarriere gescheiterten Idealisten, aber den auch. Ich meine nicht nur den fassungslos von der Ignoranz seiner Kollegen und Unwirksamkeit seiner Projekte ermatteten internen Berater, aber den auch.

 

Ich meine nicht nur die Führungskraft in Wirtschaft und Gesellschaft, die sich danach sehnt, endlich mal wieder mit echten Kunden und echten Projekten arbeiten zu dürfen, aber die auch. Ich meine nicht nur die vom ständigen Leistungsdruck zermürbte Fachkraft, aber die auch. – Ich meine damit alle unzufriedenen Mitarbeiter und Führungskräfte in allen möglichen Organisationen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die gerne etwas Sinnvolles bewirken wollen, die gerne gute, ehrliche Arbeit leisten wollen, die aber das nagende Gefühl haben, irgendwie gar nicht mehr so richtig Zeit dafür zu haben.

 

Der wunderbarste Ort der Arbeitswelt: Der Konferenzraum

Aber der Reihe nach: Bitte stellen Sie sich zu Ihrem und meinem Vergnügen für ein paar Minuten einmal einen der wunderbarsten Orte der Arbeitswelt vor: den Konferenzraum eines großen Unternehmens! Es ist 14:53 Uhr. Fünf Mitarbeiter stehen neben dem großen Designer-Konferenztisch und begrüßen sich. Sie sind ruhig, freundlich, locker und gleichzeitig in gespannter Erwartung wie ein Wolfsrudel, das sich zur Jagd verabredet hat. Sie wissen genau, worum es geht. Und sie wissen vor allem, dass sie in ein paar Minuten gebraucht werden, weil sie die einzig Richtigen dafür sind …

 

Sie schalten ihre Handys aus. Sie klappen ihre Laptops zu und packen sie weg. Sie legen sich Stift und Papier zurecht und sprechen vorab mit der Protokollantin die Tagesordnungspunkte durch. Die Agenda wurde von der Assistentin der Chefin schon vor zwei Wochen zusammen mit der Einladung verschickt. Außerdem liegen in einem sauber gebundenen Handout die schriftlichen und vorab eingegangenen Stellungnahmen aller Teilnehmer zu jedem Punkt vor. Einer geht nochmal kurz präventiv auf die Toilette, um nachher den Ablauf nicht stören zu müssen. Besser fokussiert kann ein Team nicht sein.

 

 

Lars Vollmer

Lars Vollmer

 

 

Ein Traum von Konferenz

Endlich geht es los! Nach der Begrüßung durch die Abteilungsleiterin entspinnt sich zu TOP 1 auf der Liste eine Diskussion, die dank der optimalen Vorbereitung aller Teilnehmer fruchtbarer kaum sein könnte. Alle Teilnehmer wirken aktiv mit, argumentieren ausschließlich auf sachlicher Ebene, lassen einander ausreden und respektieren die gegenseitigen Standpunkte. Jeder Beitrag erhält genügend Raum, keiner wiederholt das Statement des Vorredners.

 

Die Beschlüsse werden begleitend für jedermann sichtbar visualisiert. Niemand würde sich erlauben, zwischendurch ein Telefonat zu führen oder gar den Raum zu verlassen. Niemand betritt den Konferenzraum von außen und stört das Meeting. So sind bis zur fünfminütigen Pause um 16:30 Uhr acht der zwölf Tagesordnungspunkte mit einem klaren Ergebnis bereits abgehakt. Gegen 17:15 Uhr ist die Runde mit allen Punkten durch, das Meeting ist beendet. 15 Minuten vor der Zeit. Alle bedanken sich gegenseitig, dann gehen die Teilnehmer mit einem guten Gefühl und den besten Wünschen für einen schönen Feierabend auseinander. Was für eine grandiose Arbeit!

 

Das perfekte Meeting – ein Wunschtraum von Mitarbeitern, die produktiv sein wollen

Haben Sie so ein Meeting schon einmal erlebt? Kommen Sie, seien Sie ehrlich! Also ich habe schon tausende Meetings erlebt, sowohl in meinen eigenen Unternehmen als auch in vielen Unternehmen, die ich beraten habe. Aber an ein derart perfektes Meeting kann ich mich nicht erinnern. Und das ist auch kein Wunder! Denn solche Meetings gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Das ist nur Phantasie von Managementromantikern, die mit viel naivem Verve idealistische Zerrbilder unserer Arbeit entwerfen. Ein Wunschtraum von Chefs und Mitarbeitern, die gerne produktiv sein wollen. Zu schön, um wahr zu sein!

 

In der rauen Wirklichkeit läuft so ein Meeting natürlich ganz anders. Die Einladung ist, wenn überhaupt, erst am Vorabend an einen überdimensionierten Verteiler gemailt worden, so dass keiner Zeit hatte, sich gedanklich und inhaltlich darauf vorzubereiten. Die Tagesordnung ist ein Fragment, so dass niemand weiß, worum es genau gehen wird. Da die Mehrzahl der Anwesenden zu den Themen sowieso nichts beitragen kann, ist das aber nicht so tragisch.

 

Nebensächlichkeiten und Hahnenkämpfe

Die Chefin hat kurzfristig angekündigt, fünf Minuten später zu kommen – „aber bitte fangen Sie schon mal ohne mich an!“. Als sie nach 25 Minuten eintrifft, werden die bis dahin abgehandelten Punkte noch einmal neu aufgerollt. Die Diskussion ist zäh und die Beiträge ufern aus. Um Nebensächlichkeiten wird gestritten und Hahnenkämpfe werden ausgefochten. Krawatten zwicken. Die Teilnehmer unterbrechen sich gegenseitig. Folgetermine drücken. Die Klimaanlage ist kaputt. Das Gelaber der anderen nervt. Die Mitteilungsschwaden, die durch den Raum wabern, sind inhaltsarm und Konflikt vermeidend weich gespült. Es wird berichtet und präsentiert, Ansprüche werden verhandelt, Anweisungen werden gegeben und Standpunkte werden dargelegt.

 

Das, was wirklich interessant wäre, wenn zum Beispiel ein echtes, drängendes Kundenproblem auf den Tisch kommt, wird sofort von der Chefin weg gemanagt. Nur gut, dass alle die Zeit für die Mail-Lektüre auf ihren immer wieder vibrierenden Smartphones nutzen können. Es ist ein Kommen und Gehen wie im Taubenschlag, der Kaffee ist lauwarm und die Protokollantin ist nicht zu beneiden.Gähn. Nach einer knappen Dreiviertelstunde ist die Hälfte der zu besprechenden Themen auf unbestimmte Zeit vertagt. Der Rest wird mehr oder weniger beiläufig abgehandelt, ohne dass neue Erkenntnisse gewonnen werden. Am Schluss ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem. Die Chefin schaut auf die Uhr, unterbricht den Kollegen mitten im Satz und bestimmt: „Das war’s. Herzlichen Dank. Und nun zurück an die Arbeit!“

 

Meetings als Plage, aber unvermeidbar – und unproduktiv

Ja, solche Meetings kennen Sie! Da bin ich sicher. Und ich kenne sie auch zur Genüge. In den meisten Unternehmen findet so ein Theater mit beängstigender Regelmäßigkeit statt. Alltägliche Routine! Meetings sind zu einer echten Plage geworden. Alle leiden darunter. Alle finden Meetings ätzend und machen sich darüber lustig! Aber dennoch sitzen alle in Meetings herum. Für die meisten Menschen, die daran teilnehmen, scheint es ganz normal oder zumindest unvermeidbar: „So ist das halt, wenn Menschen zusammenarbeiten! Für die Arbeit zahle ich schließlich keine Vergnügungssteuer! Hier geht es um’s Geschäft. Irgendwie müssen wir doch gemeinsam vorankommen.“

 

Eine zunehmende Zahl von Mitarbeitern hat aber auch ein schlechtes Gewissen und gibt sich oder den Kollegen oder dem Chef die Schuld. Sie spüren, dass diese Meetings unproduktiv laufen, und sehen die Lösung darin, sie einfach professioneller zu organisieren. Nach den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung womöglich. Zum Beispiel mit hübsch eingerahmten Besprechungsregeln und ampelfarbigen Kärtchen, die Zustimmung oder Ablehnung symbolisieren sollen.

 

Meetings als Zeitverschwendung

Try harder? Fail better! Das funktioniert alles nicht! Ich kann Sie nämlich beruhigen: Sie machen nichts falsch! Ein Meeting muss so oder ähnlich laufen! Es läuft auch nicht nur bei Ihnen so, sondern bei den meisten Unternehmen. Überall treffe ich auf Menschen, die davon genervt und gestresst sind. Die auch denken, dass sie oder ihre Organisation etwas falsch machen. Die versuchen, es zu verbessern. Und die es damit, so gut sie es auch meinen, nur noch schlimmer machen. Denn das ideale Meeting, wie ich es am Anfang skizziert habe, gibt es im echten Leben nicht. Das ist kein Zufall: Denn das kann es so gar nicht geben.

Und davon abgesehen: Ich bin sogar der Meinung, dass selbst solche perfekten Meetings, wenn es sie denn gäbe, in den meisten Fällen Zeitverschwendung und auf Dauer ebenso eine Plage wären! Das Problem ist tatsächlich nicht die schlechte Ausführung von Meetings, sondern der Anspruch an sie. Sie sind das falsche Tool für die richtige Aufgabe. Oder sie sind das richtige Tool für die falsche Aufgabe, ganz wie Sie möchten. Sie sind der Schraubenzieher, mit dem Sie den Nagel in die Wand treiben wollen. Oder sie sind der Hammer, mit dem Sie eine Schraube in die Stahlstrebe versenken wollen.

 

Meetings statt Miteinander-Reden

Dass da etwas falsch läuft, liegt nicht an den Menschen und ihren mangelnden Fähigkeiten, sondern an der Art und Weise, wie diese Menschen ihre Arbeit organisieren. Dass sie es zum Beispiel mit ritualisierten Meetings versuchen, anstatt miteinander zu reden. Nicht die Kollegen oder die Chefs sind blöd. Das Instrumentarium, das sie nutzen, ist blöd. Und nochmal zum Mitlesen: Nicht das Instrument Meeting an sich ist falsch, schlecht oder nervig. Nur liegt sein Zweck eben nicht darin, Informationen auszutauschen oder Entscheidungen herbeizuführen. Und deshalb kann so ein Friede-Freude-Eierkuchen-Meeting, von dem ich zu Beginn des Kapitels fabuliert habe, katastrophale Zeitverschwendung und hoch unproduktiv für das Unternehmen sein, auch wenn es sich superprofessionell anfühlt. Warum das so ist, erläutere ich später noch genauer, nur Geduld!

 

Alle leiden unter den Meetings – Chefs wie Mitarbeiter

Die Folge davon ist jedenfalls, dass viele Mitarbeiter in den meisten Unternehmen, ganz gleich, ob sie die Meetingrituale für unvermeidlich halten oder sich selbst die Schuld am Misslingen geben, in wachsendem Maße darunter leiden. Und ihre Chefs leiden genauso! Und ich meine echtes Leid! Ein Leiden, das sündhaft teuer ist und auf Dauer krank macht. Ein Leiden, das Menschen auf Dauer nicht ertragen, das sie zur Kündigung treibt, zu ausgedruckten und unterschriebenen genauso wie zu inneren Kündigungen. Manche lästern hinter vorgehaltener Hand über die Meetings und rollen vor dem nächsten Jour fixe mit den Augen. Und immer mehr beklagen sich auch lauthals: So eine Zeitverschwendung! So ein Theater! Und die Arbeit bleibt liegen! Die Arbeit? Bleibt liegen?

… Jetzt wird’s spannend. Lesen Sie das ruhig noch einmal. Etwas, das in den meisten Unternehmen so viel Raum einnimmt. Etwas, für das alle anderen Arbeiten unterbrochen und liegengelassen werden. Etwas, das so viele Ressourcen bindet (acht Teilnehmer mal zweieinhalb Stunden gleich zwanzig Personenstunden!). Das soll keine Arbeit sein? Genau. Es ist keine Arbeit. Und die Menschen wissen das intuitiv. Nach meiner Beobachtung empfinden die meisten solche Veranstaltungen tatsächlich als etwas, das sie von der Arbeit abhält. Sowohl die Mitarbeiter als auch die Führungskräfte leiden schwer unter dem Gefühl, nicht genug zur eigentlichen Arbeit zu kommen. Denn, verdammt nochmal, sie wollen doch arbeiten!

 

„Ich habe die Schnauze voll von dem Theater“

Manchmal kommt es ihnen so vor, als wären sie nichts weiter als Darsteller in einem Theaterstück, das jemand anderer geschrieben hat. Es ist ihnen, als ob sie in diesem Stück nicht sie selbst sind, sondern jeder von ihnen eine Rolle spielt, die nicht zu ihm oder ihr passt. Eine Fehlbesetzung, wie Lukas Podolski, wenn er nicht in Köln spielen darf. Und ihr heimlicher Stoßseufzer, den nur die Kollegen nicht hören dürfen, ist: „Ich habe die Schnauze voll von dem Theater!“

 

Die Frage ist dann nur: Wenn es keine Arbeit ist. Was ist es dann? Tja, das ist gar nicht so einfach zu erklären. Vor allem ist es zu wichtig, um darauf eine pauschale, oberflächliche, unpräzise oder gar polemische Antwort zu geben. So viel kann ich an dieser Stelle schon dazu sagen: Es ist eine teure Art von Beschäftigung, die auf eine ganz bestimmte Weise wertlos ist. Solche Beschäftigungen bewirken durchaus etwas im Unternehmen, sie sind keineswegs ohne Effekt. Aber dieser Effekt, diese Wirkung ist außerhalb des Unternehmens bedeutungslos. Es ist quasi organisationelle Selbstbefriedigung.

 

Warum das so ist, warum das so wichtig ist, wie es dazu gekommen ist und wie Unternehmen organisiert sein müssen, damit der Großteil der Beschäftigungen der Mitarbeiter wieder Arbeit genannt werden kann, das alles werde ich in diesem Buch mit Ihnen untersuchen und klären. Folgen Sie mir?

 

Gut, dass wir miteinander gesprochen haben

Mir fällt gerade auf, dass ich bis jetzt nur von Meetings erzählt habe. Aber es geht ja nicht nur um Meetings! Die sind auch kein Problem, sondern nur ein Symptom, das eine allgegenwärtige Ursache hat. Und Sie und ich kennen selbstverständlich noch viele weitere Symptome. Die passende Frage danach ist ganz einfach: Welcher Teil Ihrer Arbeit hält Sie denn noch von der Arbeit ab?

 

Pflichtprogramm: Mitarbeitergespräche – lästig und unerspriesslich

Ich denke mal laut für Sie mit, denn anders geht das in einem Buch ja auch gar nicht: Direkt nach Meeting kommt im Wörterbuch des Schreckens das Stichwort Mitarbeitergespräche! Ja, die turnusmäßigen Pflichttermine für fachliche und disziplinarische Vorgesetzte und deren Untergebene. Der richtige Zeitpunkt für Bewertungen, Ziele, Kritik, Lob und allgemeines Feedback … wie schön!

Sobald Sie kein naiver Business-Rookie mehr sind, sondern Ihre Portion Desillusionierung bereits geschluckt haben, wissen Sie, dass das in etwa so aussieht: Sie werden ins Besprechungszimmer des Chefs zitiert und müssen zwanzig Minuten ausharren, während der Ledersessel hinterm Schreibtisch erst einmal leer bleibt. Als der Chef endlich auftaucht, hat er wenig Zeit und ist schlecht vorbereitet. Konkret um die Leistung, die Probleme der Arbeit, den Kunden, die Arbeitsorganisation, Innovationen und Verbesserungen geht es in keinster Weise. Stattdessen sagt der Chef, dass es bei Ihnen doch im Großen und Ganzen recht gut laufe, aber natürlich trotzdem noch Luft nach oben sei. Und wie schwierig doch die Lage da draußen gerade sei, da müssten jetzt alle noch etwas Tempo und Power drauflegen. Über Ihr Gehalt mag er heute auch nicht sprechen, da die Vorgaben aus der Zentrale für das Personalkostenbudget immer noch auf sich warten lassen.

 

Freudlose Mitarbeitergespräche – für beide Beteiligten

Das war’s, nach weiteren zwanzig Minuten stehen Sie wieder draußen im Flur. „Gut, dass wir mal wieder miteinander gesprochen haben …“. Wirklich gut? Und wie fühlen Sie sich jetzt? Klar, so ein Mitarbeitergespräch könnte man besser machen. Aber so oder so: Es macht keine Freude, weder dem Chef noch dem Mitarbeiter. Beide finden es lästig und unersprießlich, aber es gehört heute zum unerlässlichen Pflichtprogramm vieler Unternehmen, Teams und Abteilungen, dem sich beide Seiten auf gar keinen Fall entziehen dürfen. Und wenn sich beide auch noch so viel mehr Mühe geben würden: Sie können es prinzipiell gar nicht so gestalten, dass während dieser zwanzig Minuten Machtdemonstration irgendein Wertschöpfungsbeitrag erzielt werden könnte.

 

Um dem Mitarbeiter dabei zu helfen, besser zu arbeiten, mit ihm neue Vorhaben ins Visier zu nehmen, gemeinsam zu lernen oder Widrigkeiten aus dem Weg zu räumen, könnte der Chef jederzeit und sofort ganz normal mit ihm reden. Und die meisten tun es sogar, ganz ohne ritualisierte Agenda in festem Turnus. Dazu nehmen sie ganz normale menschliche Kommunikation in Gebrauch. Gestik, Mimik und Sprache. Gesprochene Sätze. Wörter: „Hey, hast du’s mal so oder so versucht? Das dürfte besser klappen.“, „Du, das war stark!“, „So, wie du das machst, bekommen wir hier drüben Schwierigkeiten. Lass uns das mal anders anpacken, komm bitte mal rüber und schau dir das hier an!“

 

Überflüssig, nervig, zeitraubend – ein Das-macht-man-so

Obwohl sie fast immer überflüssig sind, obwohl sie nerven und unendlich Zeit kosten, setzen sich Mitarbeitergespräche dennoch in der ganzen Breite der Wirtschaft in den Köpfen immer weiter als normal fest: Als ein Das-macht-man-so, als ein Ausweis von Professionalität in der Führung. Interessant, nicht wahr? Der Grund dafür ist: Dieses soziale Phänomen hat tatsächlich einen Nutzen. Die Frage ist nur, welchen und für wen! Für den Kunden jedenfalls nicht.

 

Wie auf dem Basar: Inhalte sind egal

Oder schauen wir uns mal Budgetverhandlungen an, auch so ein faszinierendes Stammesritual. Da treffen in einem Unternehmen beispielsweise die Leiter der Regionalstandorte mit dem Deutschlandchef plus andere Länderchefs samt deren Werksleitern mit dem Europachef zusammen – eine riesige Konferenz von Führungskräften aus mindestens drei Hierarchiestufen. Vorausgegangen sind hunderte E-Mails, Videokonferenzen, versandte PowerPoint Slides und gewichtige Zwei-Ohren-Gespräche, also Telefonate. Eine Megakonferenz, enorm wichtig. Nach und nach präsentieren jetzt die Vertreter jedes Landes ihre jeweiligen Planzahlen. Für Produktionsmengen, Bestandshöhen und Absätze. Sie melden geplante Großinvestitionen an und welche Ressourcen personeller und materieller Art dafür benötigt werden.

 

Die Reaktion der Top-Manager entspricht einem längst eingeübten Standard: „Sie müssen weniger ausgeben!“ Und dann werden die Argumente der Landesvertreter in der Luft zerrissen. „Acht Mitarbeiter? Und was sollen die alle genau machen? Nach allem, was Sie beschreiben, reichen für Ihr Projekt sechs Leute völlig aus. Schreiben Sie fünf Mitarbeiter rein. Wir müssen uns ambitionierte Ziele setzen.“ Und so geht das munter weiter. Statt drei Millionen gibt es zwei Millionen, dafür wird das Absatzsteigerungsziel von zehn auf zwölf Prozent angehoben. Der Wettbewerb schläft nicht. Es geht zu wie auf einem Basar. Nein, nein, natürlich geht es da nicht um die Inhalte. Auf die schaut keiner der Beteiligten. Tatsächlich geht es einzig und allein um Zahlen. Nicht um Fakten!

 

Planungskosmetik – je dicker aufgetragen je verführerischer

Manche Zahlen müssen rauf. Andere müssen runter. Denn wenn die einen Zahlen rauf und die anderen Zahlen runter gehen, dann sehen weitere Zahlen, die aus den vorherigen Zahlen errechnet werden, irgendwie besser aus, oder? Nein, das hat mit der Realität nichts zu tun, es ist pure Kosmetik. Planungskosmetik! Je dicker aufgetragen wird, desto verführerischer! Also hineingelangt in die Schminktöpfe!

 

Top-Manager fordern mehr Output für weniger Input

Die Top-Manager erwarten im Groben mehr Absatz für mehr Umsatz bei geringeren Kosten für mehr Gewinn. Also mehr Output für weniger Input. Also mehr Produktivität. Sie müssen die Zahlen verbessern, nicht die Arbeit, nicht das Produkt, nicht das Erlebnis des Kunden. Sie wissen nicht, was in der Werkhalle anders gemacht werden muss, damit die Zahlen sich wie gewünscht verändern. Das ist aber auch gar nicht ihr Job. Und auch gar nicht der Anlass. Hier werden erstmal die Zahlen ausgehandelt, daraus ergeben sich Ziele und daraus ergeben sich Vorgaben, die nach unten weitergereicht und dann irgendwie exekutiert, ausgeführt, realisiert werden.

 

Präventives über-den-Tisch-ziehen

Und jede Partei glaubt genau zu wissen, wie die andere tickt, was sie denkt und wie sie handelt. Die eine Seite unterstellt der anderen, dass sie sie über den Tisch ziehen will. Und darum fangen sie selber schon mal präventiv mit dem Über-den-Tisch-Ziehen an: Sie wissen genau, dass ihre Planzahlen für den Ressourcenbedarf in jedem Fall noch heruntergehandelt werden, um Kosten zu sparen. Was also tun sie wohl deswegen? Ganz einfach, sie melden lieber gleich einen höheren Bedarf an Ressourcen an, der dann postwendend auf das gerade noch hinnehmbare Minimum zurechtgestutzt wird.

 

Manager müssen mitspielen, das Unternehmen kann nicht gewinnen

„It’s a game, a game, a game that we’re playing“, sangen die Bay City Rollers 1977. Und weiter: „I don’t mind but I don’t make the rules. Just a game for lovers and fools.“ Alle im Business kennen das Spiel, und alle spielen mit. Die Qualität eines Managers können Sie daran messen, wie gut er dieses Spiel beherrscht. Das Traurige daran: Jeder ist sich darüber im Klaren, dass er mitspielen muss und dass am Ende das Unternehmen nicht gewinnen kann, denn wenn einer der Manager das Spiel gewinnt, verlieren gleichzeitig andere.

 

Budgetverhandlungen als Karriere-Stopper

Schlimmer noch – wenn einer die Regel nicht kapiert, dann ist rasch Schluss für ihn. Game over! Ich erinnere mich an einen Standortleiter, der den Fehler beging, zum dritten Mal in Folge zu wenig Umsatzsteigerung auf den Verhandlungstisch zu legen. Er wurde vor versammelter Mannschaft gefeuert. Und hinter vorgehaltener Hand bedauerten ihn seine Kollegen. „War eigentlich ein guter Mann … aber diese Budgetverhandlungen, das konnte er halt einfach nicht.“

 

Viele Manager stehen unter dem enormen Druck, dass das, was sie verhandeln, nicht leistbar ist. Die Diskrepanz zwischen der Realität und den Spielzügen in der Budgetverhandlung ist häufig nur mit Zynismus zu ertragen. Alle tun so, als ob es noch Luft nach oben gäbe. Also werden die Planziele tapfer eingetragen wie die Lottozahlen auf dem Tippschein. Und der Frust an allen Ecken und Enden im Unternehmen wächst Spielrunde für Spielrunde. Alle Beteiligten sehen sich gezwungen, mitzuspielen, obwohl sie alle miteinander schon längst keine Lust mehr auf diese Budgetverhandlungen, auf die Mitarbeitergespräche und die Meetings und all das haben. Und die Arbeit muss ja schließlich auch noch gemacht werden! Sie sind das alles so leid – und leiden weiter.

 

Der Chef als Löschdecke

Ich gehe davon aus, dass Ihnen auch schon mal aufgefallen ist, dass alle leiden. Eben nicht nur die Mitarbeiter, sondern genauso die Chefs. Aber ironischerweise projizieren beide Seiten die Ursache ihrer Frustration jeweils auf die andere Seite: Die Chefs sind schuld aus Sicht der Mitarbeiter. Und die Mitarbeiter sind schuld aus Sicht der Chefs.

Ich finde das clownesk. Ein Bekannter von mir ist als Top-Führungskraft bei einem internationalen Dienstleister-Konzern tätig. Als Vertriebsleiter führt er ein Team von zwölf Sales-Leuten. Die Chefsicht beschreibt er mit den Worten: „Bei mir reagiert das Chaos – ich lösche nur noch Brände!“

 

Wenn Chefs wie Schäferhunde die Schafherde zusammenhalten

Bei der Arbeit wirkt er wie ein Schäferhund, der versucht, seine Schafherde zusammenzuhalten, die von einem Wolf gejagt wird. Er huscht von Meeting zu Meeting, spricht mit diesem Kunden, eilt in jene Conference Hall, dann wieder videokonferenziert er mit seinem Chef. Wie der vielzitierte Jongleur, der auf Teufel komm raus alle Bälle in der Luft halten muss, löst er eine Aufgabe nach der anderen, ohne dass er Zeit hätte, sich eingehend und intensiv mit einem Projekt zu beschäftigen.

Drei Stunden hinsetzen und mit ein paar Mitarbeitern ein echtes Problem lösen? Undenkbar! Stattdessen gibt er seinen Leuten immer mal wieder kleine Happen zu erledigen, damit die auch ja beschäftigt sind, während er alle Hände voll zu tun hat, dass das ganze Haus irgendwie stehenbleibt, anstatt ein Raub der Flammen zu werden.

 

Wie ein Fußballspiel mit vier Bällen

Führungskräfte wie er sind wie ein versprengter Feuerwehrmann inmitten eines Waldbrands, der den Kontakt zu seinem Trupp verloren hat. Wie der Spielmacher auf einem Fußballplatz, auf dem plötzlich mit vier Bällen gespielt wird. Wie der Koch eines Lokals, auf dessen Parkplatz zwei randvolle Busse hungriger Rentner einfahren, nachdem sich seine beiden Lehrlinge gerade krank gemeldet haben.

Sie fühlen sich höchstens in der Lage zu reagieren, aber nicht zu agieren. Oft schaffen sie es nicht einmal, alle Löcher zu stopfen, alle Töpfe umzurühren, alle Brände um sich herum zu löschen. Und dann gellen die ersten Pfiffe von den Rängen, die ersten Reklamationen kommen herein, langsam schließt sich die Flammenwand.

Der Chef als Löschdecke. Aber zum Glück haben sie doch immer noch ihre Mitarbeiter und können die Arbeit an sie delegieren! Ach wirklich? Denkste! Die Chefs sehen das zumindest anders. Denn dafür müsste der Mitarbeiter doch bitteschön auch mal unternehmerisch denken, mutiger, verantwortungsvoller und auch mal alleine zu einer Entscheidung fähig sein: „Ich hab meinen Leuten schon tausendmal gesagt, sie sollen selbstständig arbeiten. Aber die haben ja keinerlei Eigeninitiative! Dabei wird bei uns niemandem der Kopf abgehackt, wenn mal was schiefgeht!“

 

Keine Chance für Mitarbeiter, selbst Verantwortung zu übernehmen

Und deswegen sehen sich die Chefs dazu gezwungen, das Entscheidende selbst zu machen, und leiden darunter und machen ihren Mitarbeitern deswegen noch mehr Vorwürfe. Dabei geben sie ihnen gar nicht erst die Chance, selbst Verantwortung zu übernehmen. Natürlich sehen die Chefs das anders und beklagen immer heftiger, dass die Mitarbeiter heutzutage den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gerecht werden: Die trauen sich einfach zu wenig, die machen nur Dienst nach Vorschrift, die wollen einfach nicht die Extrameile gehen …

Ein unlösbares Problem. Da wartet ein gigantischer Berg an Arbeit, und keiner packt an. Es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn die Chefs von ihren Mitarbeitern etwas mehr Verantwortungsgefühl und Initiativbereitschaft verlangen? So klagen sie lauthals, fühlen sich überfordert und gehetzt, unverstanden und im Stich gelassen, die ganze Verantwortung auf ihren Schultern, wie Atlas, der die Last der Welt allein zu tragen hat und seit Jahrtausenden nicht erlöst wird.

 

Schrecklich viel zu tun: Der Chef entscheidet immer alles am Ende

Und wie geht es den Mitarbeitern dieser Führungskräfte? Die beklagen sich natürlich auch über ihre Chefs. Sie bemängeln, die hätten zu wenig Zeit für sie. Stimmt! Das wäre ja nicht so schlimm, wenn sie dann wenigstens selbstständig arbeiten könnten. Aber Pustekuchen: Ein Haufen an Regeln, Vorgaben und auditierten Prozessen hält sie davon ab. Denn eine der Hauptregeln ist ein für allemal in die Grundmauern der Unternehmen eingemeißelt: Der Chef entscheidet! Am Ende! Immer! – Der Chef? Aber das ist doch der, der keine Zeit hat. Und sich über seine Mitarbeiter beklagt, dass … – ach, liebe Leserin, lieber Leser, das haben Sie doch gerade schon alles gehört! Und so schließt sich der Circulus Vitiosus. Mitarbeiter, die gerne selbstständig arbeiten wollen und nicht dürfen und darunter leiden, sind abhängig von Chefs, die keine Zeit für echte Problemlösung haben und ihren Mitarbeitern vorwerfen, dass sie nicht selbstständig genug sind, mal ohne sie zu entscheiden.

 

Ein Aufgabenberg vor den Mitarbeitern, der bei guter Organisation nicht da wäre

Trotzdem haben die Mitarbeiter schrecklich viel zu tun. Jedenfalls sagen sie das. Was sie dabei empfinden, ist allzu oft viel eher frustrierte Beteiligungslosigkeit. Sprichwörtliche Sinnlosigkeit. Der Berg an Aufgaben, der sich vor ihnen türmt, wäre gar nicht da, wenn der Laden anders organisiert wäre und die Regeln, Vorgaben und Rituale nicht wären. Und wenn der Chef nicht bei der Arbeit stört, dann taucht die andere Sorte Störenfried auf. In Deckung: Ein Kunde!

 

Kunden stören in Unternehmen, die mit sich beschäftigt sind

In Unternehmen, die stark mit sich selbst beschäftigt sind, stören Kunden ziemlich. Angenommen, ein Mitarbeiter hat Kontakt zu einem Kunden oder Lieferanten. Es hakt an einem überraschenden Detailproblem, das der Mitarbeiter, vielleicht mit einem kleinen Kniff, lösen will. Allerdings weiß er: Die Policy des Unternehmens gibt in diesem Fall keine koschere Lösung her. Nach den Richtlinien dürfte er so nicht aktiv werden.

Nun hat er zwei Möglichkeiten. Entweder er sagt dem Kunden in schönster Richtlinientreue: „Tut mir leid, da ist nichts zu machen!“ Und vergrault ihn damit womöglich für immer. Oder er fasst sich ein Herz und verspricht ihm: „Ich kriege das hin, mir fällt dazu schon was ein. Ich melde mich wieder bei Ihnen!“ Und muss bewusst gegen die Vorschriften handeln.

 

Das Risiko des Handelns

Verstehen Sie das Dilemma? Es gibt keine gute Lösung! Für den Mitarbeiter ist das zutiefst leidvoll – im Zweifelsfall geht er also dem Risiko des Handelns aus dem Weg und macht lieber nur Dienst nach Vorschrift. Und überlässt die Entscheidung jemand anderem. Sie ahnen schon, wem: Dem Chef natürlich …

Wenn Sie dieses Spiel aus der Ferne betrachten, ist es durchaus unterhaltsam und nicht ohne Reiz. Man kann ganze Spielfilme und Fernsehserien daraus machen. Sehr lustig! Aber für die, die sich mittendrin befinden, ist es nicht lustig. Kein bisschen! Jeder ist mit jedem unzufrieden.

Darüber wird auch gesprochen: über die anderen, die Chefs oder die anderen Abteilungen, die nichts kapieren und nichts im Griff haben. Auch mit der eigenen Situation ist man natürlich alles andere als happy. Aber darüber spricht keiner. Denn das entspricht nicht den Spielregeln.

Wer im Unternehmen zugibt, dass er leidet, zeigt Schwäche. Und so ist das Leiden von Mitarbeitern und Führungskräften in Unternehmen meistens eine Art stilles Leiden. Leiden, immer nur leiden, warum reite ich so darauf herum? Mir sind hier vor allem drei Punkte wichtig: Erstens wird tatsächlich gelitten. Zweitens leiden (fast) alle. Und drittens machen die populären Gegenmaßnahmen gegen das Leiden alles nur noch schlimmer!

 

Regentänze des Managements

Nehmen wir zum Beispiel Arbeitszeiterfassung. Damit meine ich nicht das aus der Zeit der Industrialisierung stammende Stempeln am Aus- und Eingang der Werkhallen und Bürogebäude. Inwieweit das ins 21. Jahrhundert und in die meisten Arten von Unternehmen passt oder nicht passt, liegt ja ohnehin auf der Hand, nicht wahr?

Nein, ich meine das Time-Tracking, die genaue Tätigkeitserfassung. Warum führen Unternehmen bloß so etwas ein? Nun, zunächst weil es sozusagen zum Abrechnungsmodell gehört: Sie verkaufen dem Kunden nicht ein Ergebnis, sondern Arbeitsstunden. Und genau das wollen viele Kunden ja auch, denn sie kontrollieren gerne den Aufwand anderer und das geht eben recht einfach über die verbrauchte Zeit.

 

Keinerlei Aussage über die Effektivität

Dass darin keinerlei Aussage über die Effektivität der eingesetzten Zeit steckt, ist uns wohl allen klar. Und der Effekt, dass auf diese Weise derjenige teurer wird, der für eine Aufgabe mehr Zeit verbraucht, ist wohl so offensichtlich unsinnig, dass darüber keiner mehr diskutiert. Gemacht werden Stundensätze trotzdem gerne, denn es gibt einen angenehmen Nebeneffekt: Die Führungskräfte glauben, so für mehr Effizienz sorgen zu können, denn sie merken an den gebuchten Stunden, dass die Arbeitszeit nicht optimal genutzt wird, dass Projekte zu lang dauern, dass es für die rein rechnerisch zur Verfügung stehenden Zeitressourcen viel mehr Output geben müsste. Kein Zweifel, das stimmt!

Denn für die eigentliche Arbeit am Projekt bleibt in einer normalen Arbeitswoche neben all den Meetings, Team- und Chefgesprächen, Reportings, den zu bauenden Projekt-Doku-Excel-Sheets fürs Controlling und den zu bauenden Projektfortschritts-PowerPoints für das Mittwochsmeeting ja auch kaum Zeit. Und deshalb verlangen Chefs von ihren Mitarbeitern, dass sie zusätzlich nun auch noch etwas von ihrer knappen Zeit abknapsen, um die Zeitverwendung genau zu dokumentieren.

Mich erinnert das an einen Kapitän, der bemerkt, dass im Schiffsrumpf Wasser schwappt, und der deshalb die beiden Matrosen, die eigentlich gerade dabei waren, das Loch in der Schiffswand zu stopfen, dazu verdonnert, mit Eimern das Wasser auszuschöpfen.

 

Die Ohren anlegen – um wenigstens ein bisschen arbeiten zu können

Schlimmer dabei ist aber noch, dass die Mitarbeiter quasi zur Vorspiegelung falscher Tatsachen gezwungen werden. Denn die sind in einem heillosen Dilemma und können in dem Spiel nur verlieren: Entweder die reale verwendete Zeit ist höher als die geplante, dann schreiben sie in den Augen der Chefs zu viel Projektarbeitszeit auf. Ergo: Sie sind zu langsam. Oder sie schreiben in den Augen der Chefs zu wenig auf: Dann setzen sie die falschen Prioritäten und stecken nicht genügend Effort in die Arbeit. „Na gut, schreib ich halt das auf, was die hören wollen …“ – Ganz unabhängig davon, was wahr ist. Manipuliert der Mitarbeiter die Zahlen nicht, dann werden sie früher oder später vom Soll abweichen. Und dann wird er nicht in Ruhe gelassen, muss Meetings, Gespräche und so weiter über sich ergehen lassen und verliert noch mehr Zeit für die Arbeit. Also legt er die Ohren an, macht sich stromlinienförmig und verschmilzt mit dem Hintergrund … um wenigstens ein bisschen arbeiten zu können.

 

Wenn die gefühlte Wahrheit Leid erzeugt: Das Reporting

Ganz ähnlich beim Berichtswesen. Seufz, es wird immer mehr! Besuchsberichte, Prognosen, Abschätzungen über Produktspezifikationen … Kürzlich hat der Außendienstler eines Unternehmerkollegen behauptet, er sei an vier von fünf Tagen in der Woche mit Reports beschäftigt. Und was um alles in der Welt ist da so zeitraubend zu reporten? Seine entwaffnende Antwort: „Nun, meine ganze Arbeit mit den Kunden, vom ersten Wochentag und die Planung für die nächste Woche!“ Abgenommen habe ich ihm das nicht. Aber es ist wie oft die gefühlte Wahrheit, die das Leid erzeugt.

Reporting liegt nach wie vor im Trend. Was Reporting angeht, wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Vor ein paar Jahren trug das Schweinchen den Namen Value Reporting, jetzt heißt Miss Piggy gerade Integrated Reporting. Um ehrlich zu sein, Sie und ich müssen gar nicht genau wissen, was das bedeutet. Fakt ist: Google liefert mir zum Thema Reporting 428 Millionen Treffer – darunter Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von Artikeln darüber, wie wichtig Reporting ist, wie ich als Unternehmer es pflegen und ausbauen muss und wie ich dank Reporting mit mehr Informationen angeblich umso komplexere Probleme lösen kann.

 

Reporten statt die Probleme zu lösen – und sich hundsmiserabel fühlen

Es stimmt ja, dass die Probleme immer komplexer werden, aber mit Reporting wurde, seit die Menschen sesshaft sind, noch keines gelöst. Denn sie müssten ja von den Mitarbeitern gelöst werden, die stattdessen reporten müssen. Diese Mitarbeiter sind am nächsten dran an den Problemen und wüssten am ehesten, was zu tun ist. Im Gegensatz zu den Chefs, an die reportet wird. Die haben nun den Report und sind doch so schlau wie vorher. Und können ja doch nichts machen, außer Anweisungen geben, die auf ungenauen Reports basieren und die die Mitarbeiter von der Lösung der Probleme abhalten, weil sie nach dem Reporting als nächstes mit dem Befolgen neuer Anweisungen beschäftigt sind. Die Anweisungen passen immer seltener zu den echten Problemen, die dadurch natürlich nicht geringer werden. Also braucht es neue Reports … Ach, ist das herrlich absurd!

Bisweilen muss ich herzhaft lachen, weil das alles so schräg ist. Aber in anderen Momenten bin ich darüber betrübt, denn allen vom Berichtswesen Betroffenen – also fast allen Erwerbstätigen – geht es bei der Berichterei hundsmiserabel. Zeigen Sie mir den, der gerne Berichte schreibt!

Die Absurdität zu beschreiben macht Spaß und die zugehörigen Anekdoten können jede fade Party retten. Aber die Menschen leiden im Ernst! Darum ist mir am Ende weder danach, die Beteiligten auszulachen, noch irgendjemanden zu beschuldigen. Ich empfinde einfach Mitleid. Mein Mitleid steigt, wenn ich sehe, dass die Controlling-Abteilungen dieser unserer Unternehmenswelt dann trotzdem immer wieder neue Berichtsvarianten erdenken und etablieren. Willkommen, Big Data!

Warum tun die das? – Natürlich: Weil sie merken, dass die im Unternehmen geleistete Arbeit den komplexen Anforderungen immer weniger gerecht wird. Und das stimmt! Daraus schließen die Controller, dass die Chefs mehr Informationen brauchen, um bessere Anweisungen zu geben, die den komplexen Anforderungen besser gerecht werden. Und das ist falsch!

 

 

Change-Vorhaben schwappen als Management-Modewelle durch Unternehmen

Meetings undsoweiter – vergiftete Managementtools

Überall in den Unternehmen wird auf diese Weise der Hunger mit einer Diät vertrieben, der Kater mit Alkohol bekämpft und das Feuer mit Benzin gelöscht. Meetings, Mitarbeitergespräche, Budgetverhandlungen, Arbeitszeiterfassung, Reporting … das alles sind ganz unterschiedliche Managementtools, aber sie haben das gleiche Toxin intus.

Dieses Gift schwappt auch in einer der größten Management-Modewellen der letzten Jahrzehnte. Ich sage nur: Change! Jedes Jahr rauscht mindestens ein hippes Change-Vorhaben durch ein Unternehmen. Nicht selten sogar mehrere gleichzeitig. Da wird dann von der Unternehmensspitze und den Beratern eine Lean Transformation ausgerufen. „Wir müssen lean werden!“, lautet die Devise. Sie empfehlen, Commitment und Alignment aller Beteiligten neu auszurichten, horizontales und vertikales Alignment zu differenzieren. Und: „Wir müssen das leben!“

 

Chamge – Weil die Menschen nicht gut genug sind

Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen. Die Plastikwörter in diesen Aussagen sind einschüchternd, aber die von den Beratern empfohlene Richtung ist simpel: Die Kultur der Organisation muss sich ändern. Also: Die Mitarbeiter müssen ihr Verhalten ändern. Also: Die Mitarbeiter müssen sich ändern. Das bedeutet Change im Unternehmen übrigens implizit fast immer: Die Menschen müssen sich gefälligst ändern. Denn sie sind nicht richtig oder nicht gut genug!

Im Falle einer umfassenden Lean Transformation muss zunächst einmal der Vorstand Einigkeit demonstrieren. Selbst dann, wenn sich manche von ihnen dabei uneinig sind. Dies merken die Mitarbeiter zwar, wenn es hart auf hart kommt binnen weniger Nanosekunden, aber dieses als Vorleben etikettierte Schauspiel gilt noch immer als Grundlage für gelungenen Change.

 

Workshops zelebrieren, Dankbarkeit vorgeben

Währenddessen haben sämtliche Mitarbeiter und unteren Führungskräfte zu lernen, was es bedeutet, lean zu werden. Sie bilden darum jede Menge Arbeitsgruppen und zelebrieren einen Workshop nach dem anderen. Die Teilnehmer schreiben ihre Erwartungshaltung auf Kärtchen und bringen brav zur Sprache, was sie stört. Danach sind sie angeblich meistens dankbar und zufrieden, nach dem Motto: Ach wie befreiend, dass das alles endlich mal gesagt werden konnte!

Das ist Kindergarten! Und die ganzen Laberrunden, Workshops, Stuhlkreise und Kärtchenspiele kommen ja noch auf die Arbeit obendrauf! Wer kann sich das eigentlich alles leisten? Das ist nun wirklich das Gegenteil von lean!

Und der Effekt jeder verordneten Verhaltensänderung ist ohnehin nur von kurzer Dauer. Und zwar prinzipiell. Viele Erkenntnisse aus den Workshops erleben die Mitarbeiter im operativen Tagesgeschäft als nicht anwendbar. Der Rest ist schnell vergessen oder schlicht zu mühsam durchzuhalten.

 

Das Gefühl von Bitterkeit – und stets steigendem Frustrationsgrad

Das Einzige, was übrig und langfristig erhalten bleibt, ist ein Gefühl von Bitterkeit bei allen Beteiligten. Schließlich haben sie solche und ähnliche gut gemeinte Prozesse schon zigmal durchlaufen. Ohne dass sich jemals dauerhaft etwas geändert hätte. Darüber herrscht Einverständnis zwischen der Führung und den Mitarbeitern, wobei jeder der anderen Seite die Schuld dafür gibt. Und der Frustrationsgrad steigt mit jedem Mal weiter an: „Jetzt geht das Theater schon wieder los!“

In der Quintessenz sind heutige Change-Prozesse nichts anderes als ein weiterer hilfloser Versuch, etwas Unkontrollierbares unter Kontrolle zu bekommen. So ähnlich wie bei einem Regentanz … Das Giftige dabei ist, dass die Regentänze des Managements nicht das Wetter ändern sollen, sondern die Menschen.

 

Alle lieben ihre Jobs – sie hassen unproduktive Beschäftigungen und lästige Rituale

Damit Sie mich nicht missverstehen: Mitarbeiter und ihre Chefs leiden nicht unter der Arbeit selbst. Auch dann nicht, wenn sie über ihren Job schimpfen oder am Feierabend im Familien- und Bekanntenkreis ihr tagtägliches Leid klagen. Nicht die Arbeit macht sie unfroh. Sondern das ganze andere Zeugs!

Denn das ganze andere Zeugs, die unproduktiven Beschäftigungen, die lästigen Rituale, die unsinnigen Regeln, das Reporting, die wirkungslosen Programme und so weiter haben nicht nur die Eigenschaft, dass sie allen die Zeit zum Arbeiten stehlen, sie haben außerdem noch die unangenehme Eigenschaft, ständig das implizite Signal auszusenden: Du bist nicht richtig so, wie du bist. Du solltest anders sein. Du solltest besser sein!

 

Die meisten arbeiten gerne – wenn man sie denn ließe

Die meisten Menschen, die einen Job haben, mögen ihn eigentlich sehr gerne. Sie haben ihn sich schließlich aufgrund ihrer Neigungen und Fähigkeiten ausgesucht. Und sie sind definitiv nicht von Natur aus faul, sondern sie arbeiten gerne – oder besser gesagt, sie würden gerne arbeiten, wenn man sie denn ließe. Da macht es auch keinen Unterschied, in welcher Branche oder auf welcher Hierarchiestufe ein Mensch arbeitet.

Ich erinnere mich an ein Video-Interview mit dem Mitarbeiter einer Abfallverwertungsgesellschaft im Außendienst, also mit einem Müllmann. Der Grund, warum sich ehrbare Bürger kaum trauen, das Wort Müllmann auszusprechen und lieber eine distanzierende Worthülse dafür verwenden, ist der gleiche Grund, warum eine der Fragen, die dieser Müllmann vor der Kamera beantworten sollte, lautete: „Wie oft haben Sie schon gelogen, wenn jemand Sie auf einer Party nach Ihrem Job fragt?“

Oh, wie arrogant! Dahinter steht die Annahme, dass dieser Job ja nun wirklich ein Scheißjob sein muss. Aber welch Überraschung für den Fragesteller! Der Müllmann sagte: „Ich muss gar nicht lügen!“ Denn er mag seinen Job wirklich gerne. Und er kann auch schlüssig erklären, wieso: Er hat zwar ein festes Tagespensum, aber die Einteilung bleibt ihm selbst überlassen. Freiheit, das ist cool. Und er ist immer draußen, an der frischen Luft. Nochmal Freiheit, nochmal cool. Außerdem gesund. Und er tut etwas Sinnvolles. Etwas, wovon alle Menschen einen Nutzen haben. Müllmann sein, das ist für ihn der coolste Job auf der Welt!

Bei so viel unerwarteter Begeisterung muss der Journalist natürlich nachhaken, ob das denn nun bedeutet, dass er mit seinem Job rundum zufrieden ist? Die Antwort ist eine erneute Überraschung: Nein, er ist überhaupt nicht zufrieden! Und warum nicht? – Weil sich jetzt so ein junger Disponent immer einmischt und bestimmt, welche Touren angeblich besser sind, und jetzt haben sie diesen neuen Laster bekommen, mit dem es viel schwieriger geworden ist, durch die engen Straßen zu kommen und und und …

 

Was stört: die Bedingungen der Arbeit, das Arbeitsumfeld, das vorgegeben wird

Völlig egal, in welcher Branche oder in welcher Hierarchie- oder Gehaltsstufe Sie nachschauen: Das, was stört, ist nicht die Arbeit, denn Menschen wollen produktiv sein und etwas Sinnvolles schaffen. Was stört, sind vielmehr immer die Bedingungen der Arbeit, das Arbeitsumfeld, das zur Verfügung gestellt wird. Darunter leiden die Menschen. Denn damit fängt das ganze Theater an. Plötzlich muss man mitspielen anstatt seinen eigentlichen Job zu machen.

Und dann haben Sie höchstens noch die Wahl, sich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so zu Herzen nehmen, dass Sie im Burnout landen, sprich: sich halb zu Tode stressen, oder ob Sie sich innerlich angesichts der Wirklichkeit so weit von Ihrem Anspruch distanzieren, dass Sie im Boreout landen, sprich: sich halb zu Tode langweilen.

 

Auch Politiker tun nur so, als ob sie regieren oder opponieren würden

All diese Phänomene gibt es nicht nur in den Unternehmen. Wenn Sie sich umschauen, sehen Sie es überall – nicht zuletzt in der Politik. Viele der Rituale und Prozeduren, die in den Unternehmen für Leiden sorgen, haben dort ihre Pendants. Nehmen Sie die wuchernden Gesetze und Verordnungen. Nehmen Sie die wachsende Zahl von Untersuchungsausschüssen. Nehmen Sie die Unzahl von Pressekonferenzen aller möglichen Gremien. Nehmen Sie die vielen, vielen Regierungserklärungen. Nehmen Sie die merkwürdigen, nach verborgenen Choreografien ablaufenden Parlamentsdebatten oder die gespenstischen Streit-Talkshows im TV. Natürlich sind all diese öffentlichen Phänomene nicht echt. Auch hier wird Theater gespielt. Die Politiker tun nur so, als ob sie regieren oder opponieren würden. Als ob es um geschäftigen Aktionismus ginge und nicht um echte Fortschritte. Als ob alle bestimmte Rollen spielen würden, sobald irgendwo eine Kamera oder ein Mikrofon auftaucht. Und die tauchen heutzutage immer und überall auf.

 

Öffentliche Debatten – die längst entschieden sind

Was in stundenlangen Wortgefechten öffentlich debattiert wird, ist in 99 Prozent der Fälle längst hinter verschlossenen Türen entschieden. Ich bin sicher, dort wird inhaltlich schon kontrovers gestritten! So mit ganz echten Argumenten, wie im richtigen Leben! Um aber vor der Öffentlichkeit demokratisches Verhalten zu demonstrieren, wird im Plenarsaal krakeelt, beschimpft, ignoriert, denunziert, ausgelacht, dazwischen gerufen. Oder um es mit Roger Willemsen zu sagen: „Eine Choreografie höchster Bedeutung und banaler Vorhersagbarkeit.“

 

So arbeiten die Politiker ein Thema nach dem anderen ab. Und doch hat der Wähler das Gefühl, dass sich nichts ändert und die wirklich notwendigen Reformen nicht angepackt werden. Deswegen landen immer mehr Themen vor dem Bundesverfassungsgericht, das mit seinen Entscheidungen die Politiker dann zuweilen doch zu Entscheidungen zwingt, die sie sich nicht getraut haben zu treffen. Wenn Karlsruhe das sagt, müssen sie’s eben dann doch machen … Ach, was ist das doch für ein blödes Spiel!

 

Tapfer die neuen Ziele schlucken

Fällt Ihnen auf, wie ähnlich sich die Phänomene in Wirtschaft und Gesellschaft sind? Und die Politiker in persona sind genauso wenig schuld wie die Manager an dem frustrierenden Mehltau, der sich über die Gesellschaft wie über das Unternehmen legt. Wähler sind gleichermaßen frustriert wie Mitarbeiter – und dennoch machen alle weiter mit: Bei Wahlen wird gewählt – immer weniger, Zeitungen werden gelesen – immer weniger, die Tagesschau wird angeschaut – immer weniger, und die Steuern werden bezahlt – … lassen Sie sich nur nicht erwischen! Und im Job wird ins Meeting geschlurft, die Reports werden runter geschrieben und flüchtig gelesen, beim Change-Programm wird unlustig mitgemacht, beim Workshop werden bereitwillig bunte Kärtchen beschrieben und mit Penälerstimme vorgelesen und beim Mitarbeitergespräch werden die neuen Ziele tapfer geschluckt.

Ich werfe niemandem vor, er sei faul oder dumm. Aber überall wird dennoch viel zu wenig gearbeitet. Die Welt wird immer komplexer, überraschender, differenzierter, und wir scheinen immer schlechter damit klar zu kommen, ob in der Politik oder in der Wirtschaft. Das Problem ist: An allen Ecken und Enden versuchen wir, mit veralteten Methoden, mit toxischen Ritualen, mit unbrauchbaren Werkzeugen und wirkungslosen Prozessen auf die vielen und immer häufiger werdenden Überraschungen einer immer komplexer werdenden Welt zu reagieren.

Oh, hoppla, ein Atomkraftwerk ist explodiert! Na, wer hätte gedacht, dass so etwas mal passieren kann … Ach, du je, wo kommen denn plötzlich die vielen Flüchtlinge her? Was machen wir denn jetzt bloß? … Na, sowas, jetzt kaufen die Kunden doch glatt im Internet statt im Handel, jetzt müssen wir uns aber bald mal was einfallen lassen! … Oh, wo kommen denn diese schwarzen Taxis auf einmal her, kann da der Gesetzgeber nicht was dagegen machen? …

Alle sind mit sich selbst beschäftigt. Die Unternehmen, die Parteien, die Regierungen und Ministerien. Der Bürger stört da nur. Genauso wie der Kunde beim Wirtschaftsspiel. Und was macht der störende Bürger? Seine Reaktion ist so simpel wie die Reaktion der überforderten Mitarbeiter: Er beschuldigt. Die da oben sind schuld! Das ist verständlich, denn überforderte Menschen müssen sich einfache Wahrheiten rationalisieren, sonst hält man es im Kopf nicht aus.

Dieser menschliche Reflex hilft dabei, ein vermeintliches Verständnis zu konstruieren, in einer Welt, die nicht so leicht verstehbar ist. Die Menschen ahnen zwar, dass sie der Sache im Grunde nicht gerecht werden – weil sie zu vielfältig und verwoben ist, um sich mit zwei, drei Gedankengängen erfassen zu lassen –, aber es wird für sie damit immerhin etwas erträglicher.

 

Die Menschen sind schuld – immer die anderen

Das verbreitetste Erklärungsmuster lautet: Es liegt an den Menschen. Die Menschen sind schuld. Und damit sind meistens die anderen gemeint: Der Manager muss empathischer werden. Die Mitarbeiterin muss mutiger werden. Die Lehrerin muss Freude am Lernen vermitteln. Der Politiker muss ehrlicher werden. Es ist ja so leicht – und entlastend –, bei anderen Egoismus, Unfähigkeit oder gar Bösartigkeit zu diagnostizieren.

Und wenn es nicht konkrete Kollegen, Chefs, Lehrer oder Politiker sind, die man verdächtigt, bleibt noch der Griff zur Verschwörungstheorie. Da müssen wohl dunkle, im Hintergrund agierende, womöglich sogar unbekannte Mächte am Werk sein. Ich erinnere mich an einen meiner früheren Klienten, unter dessen Belegschaft sich das hartnäckige Gerücht hält, die zweite Ehefrau des Inhabers sei diejenige, die eigentlich die Fäden in der Hand hält. Und das, obwohl die Dame nicht im Unternehmen beschäftigt ist und höchstens an offiziellen Anlässen teilnimmt. Wahrscheinlich weiß sie noch nicht einmal von den Vermutungen um ihre Person. Aber gerade weil sie so selten in Erscheinung tritt, bietet sie den Mitarbeitern ein Erklärungsmuster für all das, was sie nicht verstehen.

Oft sollen auch allgemeine Entwicklungen und Phänomene wie die Globalisierung, der Turbo-Kapitalismus oder auch der technische Fortschritt schuld sein: Da wird dann von den Multis, von Heuschrecken oder von der Informationsflut geredet. Die Gleichzeitigkeit zwischen dem Aufkommen von Handys, Internet, E-Mails, Social Media etc. und dem immer stärkeren Leiden an einer zunehmend bedrohlichen Komplexität nehmen viele Mitarbeiter als ein kausales Verhältnis wahr. Aus der Korrelation wird unversehens eine Kausalität konstruiert, die es gar nicht gibt.

Vermeintliche Kausalitäten werden auch bei den Mitarbeitern geradezu herausgefordert, wenn Zielprozesse mit finanziellen Anreizen verbunden sind. Da unterstellen die Mitarbeiter dem Vorgesetzten, es ginge ihm bei all den Zielen und Vorgaben einzig und allein darum, sich persönlich zu bereichern: „Der Chef drückt seine Planziele ja nur deshalb durch, weil er sonst seinem Bonus Adieu sagen muss!“

 

Chefs, die an ihre Boni denken und nur tun, was von ihnen verlangt wird

Ehrlich gesagt, das ist ja gar nicht mal falsch. Natürlich denkt der Chef bei der Zielformulierung an seinen Bonus, deswegen haben seine Chefs ja mit ihm diese Bonusvereinbarung geschlossen. Sie unterstellten ihm damit, dass er nur durch die Aussicht auf persönliche Bereicherung ausreichend motiviert sei, Ziele zu formulieren, die für das Unternehmen gut sind. Und gemäß dieser Logik handelt er nun und macht genau das, was von ihm verlangt wird.

Menschen verhalten sich ganz natürlich immer gemäß dem Kontext, in dem sie leben. Das heißt, Menschen verhalten sich systemkonform vernünftig. Und wenn die Organisation blöd ist, verhalten sie sich blöd. Das Gute daran ist: Die Organisation ist menschengemacht. Das heißt: Wir könnten sie auch anders gestalten. Anstatt an den Menschen herumzunörgeln und zu versuchen, sie zu verbessern, zu verändern und zu optimieren, könnten wir die Organisation verändern und besser an unsere komplexe Gegenwart anpassen.

 

Heilige Kühe: Meetings, Change-Programme, Mitarbeitergespräche

Das allerdings erfordert, viele, viele Dinge, die im letzten Jahrhundert vielleicht gut oder ganz okay waren, heute nicht mehr zu tun. Wir müssen einige heilige Kühe schlachten, um unsere Organisationen und unsere Systeme an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Einige dieser heiligen Kühe sind: Meetings, Mitarbeitergespräche, Budgetverhandlungen, Arbeitszeiterfassung, Change-Programme. Aber es gibt noch viel, viel mehr heilige Kühe. Und es sind auch nicht in jedem Unternehmen die gleichen.

Um also die Organisationen so zu modernisieren, dass wir Menschen uns darin wieder wohler fühlen, dass wir gemeinsam wettbewerbsfähig und erfolgreich sind und wir endlich wieder das machen, was wir so gerne tun – nämlich arbeiten! –, müssen wir genauer verstehen, warum wir dieses ganze blöde Zeugs tun und welche Auswirkungen das genau hat. Was hält uns eigentlich von der Arbeit ab?

 

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