Sechs Fragen an Produkthaftungsexperten Thomas Klindt von Noerr zu den neuen Regeln der EU ab Dezember 2026, die für Unternehmen ungeahnte Überraschungen bereit halten

Herr Klindt, in der neue EU-Produkthaftungsrichtlinie, die ab Dezember 2026 gilt, gibt es eine kleine Änderung mit bisher unerkannten, aber weitreichenden Folgen. Worum geht es da?
Thomas Klindt: Die Änderung ist besonders unauffällig, es wurden nur drei Worte weggelassen. Bislang gab es im Produkthaftungsgesetz eine Art Selbstbehalt für Konsumenten. Schäden unter 500 Euro müssen Geschädigte bisher selbst tragen oder woanders einklagen. Ab Dezember 2026 entfällt diese Untergrenze ersatzlos. Eine richtige Diskussion hat es im wirtschaftspolitischen oder verbraucherschutzpolitischen Raum darüber übrigens nicht gegeben.
Dann kann bald jeder Käufer eines Mixers oder Staubsaugers für weniger als 500 Euro Kaufpreis Ersatz vom Hersteller verlangen, wenn das Gerät bei der Nutzung andere Sachen aufgrund eines Fehlers beschädigt. Zum Beispiel den Hocker, auf dem es steht?
Die Produzenten wissen überhaupt nicht, wie viele solcher Kleinschäden es tatsächlich gegeben hat. Sie sind haftungsrechtlich nie geltend gemacht wurden und damit auch den Produkthaftpflichtversicherungen gar nicht bekannt. Es kann sein, dass es ganz wenige dieser Schäden gibt – es kann aber auch umgekehrt sein, dass es eine enorme Zahl solcher kleinen Streuschäden gibt.
Das wirkliche Risikopotenzial schlummert für die Produzenten darin, dass in Deutschland, aber auch in anderen Staaten über Sammelklagen solche Ansprüche nun gebündelt werden können. Dann werden Streuschäden jedenfalls in der addierten Summe plötzlich ernst. Und die spezialisierten Klägerkanzleien werden über Social-Media-Kampagnen offensiv für solche Streuschäden-Mandanten werben.
Gibt es nicht eine Haftungshöchstgrenze für jedes einzelne Unternehmen von 85 Millionen Euro?
Die ist ab Dezember 2026 ebenfalls ersatzlos gestrichen. Das klingt allerdings wilder als es ist: Denn dass ein einzelner, individueller Schadensfall so hoch ausfiel, habe ich nie gehört. Richtig teuer werden im europäischen Raum nicht einzelne Produkthaftungsfälle, sondern die Produktrückrufe. Die decken auch keine Produkthaftpflichtversicherungen ab.
Welche anderen Neuerungen sind für die Hersteller wichtig?
Mehrere. Bei allen vernetzten Geräten – Smart Home, Industrie 4.0 undsoweiter – sind Hacker-Schäden wegen mangelnder Cybersecurity zu einem gesetzlichen Haftungsrisiko geworden. Aus mangelnder IT-Sabotagefestigkeit einen Schadensfall zu machen, wird für viele Hersteller vernetzter Geräte noch eine ganz neue Herausforderung. Die Lebensdauer eines solchen Geräts kann möglicherweise Jahre betragen, die Schwachstelle ist aber von Anfang mit ausgeliefert. Der Schutz dagegen wird wohl nur in regelmäßigen Security-Updates liegen können. Damit schafft die neue Produkthaftungsrichtlinie Pflichten, die eine Art Haftungs-Dauerschuldverhältnis darstellen.
Ändert sich auch etwas im Verfahrensrecht vor Gericht?
Kläger können künftig beantragen, dass der verklagte Produzent alle die relevanten internen Dokumente vorlegen muss. So etwas kannten Gerichte in Europa bisher nicht, nur in den USA und Großbritannien.
Diese neue Regel hat Folgen für den firmeninternen Mailverkehr und alle anderen schriftlichen Aufzeichnungen im Unternehmensalltag. Wo immer unbeachtete Warnhinweise innerhalb der Firma im Nachhinein bei Untersuchungen ans Tageslicht kommen, spielt das später geschädigten Konsumenten in die Karten.
Will der Gesetzgeber in die Produkthaftung nicht auch die Digitalisierung berücksichtigen? Haften mehr Unternehmen als früher?
So ist es. Das zeigt sich an vielen Stellen, betroffen sind wie zum Beispiel vernetzte Haushaltsgeräte, vernetzte DIY-Produkte, vernetztes Spielzeug, vernetzte Garagentore oder vernetzte Sportartikel. So sind etwa Cloud-basierte Algorithmen als Produkt definiert, obwohl nichts Haptisches vorliegt. Der Hersteller einer solchen Software ist dann Produkthersteller im juristischen Sinne. Das gleiche gilt für 3-D-Druck-Dateien mit algorithmisch integrierten Fehlern: setzen diese sich im ausgedruckten Produkt eins zu eins fort, haftet der Hersteller der 3-D-Druck-Software wie ein Hersteller des eigentlich später erst ausgedruckten Produkts.
Lesehinweis: WiWo Top-Kanzleien: Völlig entblößt
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