Buchauszug Massimo Bognanni: „Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik“(Erweiterte Neuausgabe)

Buchauszug: Massimo Bognanni: „Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik“ 

(Erweiterte Neuausgabe)

 

Massiomo Bognanni (Foto PR/Linda Meiers)

Video-TippsEXKLUSIV: Cum-Ex Chefermittlerin im WDR-Investigativ-Interview | Investigativ | WDR (youtube.com)

Cum-Ex Chef-Ermittlerin kündigt: Das steckt dahinter | WDR Aktuelle Stunde (youtube.com)

 

Prolog

Ruhig liegt der scharfkantige, fünfstöckige Flachdachbau in der Morgendämmerung.
Ein paar Lichter brennen, ein paar Gestalten huschen
durch die Drehtür ins Innere des Landeskriminalamtes Düsseldorf.
Die Luft riecht mehr nach Frühling denn nach Herbst. Das
Nordseetief »Livia« kann an diesem 14. Oktober 2014 dem Rheinland
nichts anhaben. Und so ist die Luft schon am frühen Morgen
milde elf Grad warm, als eine zierliche Gestalt mit aschblonden,
schulterlangen Haaren das LKA-Gebäude ansteuert.
Hastig durchquert Staatsanwältin Anne Brorhilker den modernen
Glaskubus, der dem Kriminalamt als Eingangsbereich dient. Die
junge Frau mit der Hornbrille eilt in den linken Teil des Gebäudes,
der für Ermittlungen vorgesehen ist. Sie hastet ein paar Stufen hinauf,
durch eine Sicherheitstür, dann betritt sie die Einsatzzentrale.
Hier arbeitet jener Trupp der »Besonderen Aufbauorganisation
« (BAO) der bei der Kriminalpolizei für »besondere Lagen« zuständig
ist.

In ihrem jungen Berufsleben hat Brorhilker, zu diesem Zeitpunkt
41 Jahre alt, schon manch eine Razzia miterlebt. In der Regel gab es
dann einen einzelnen Einsatzleiter, der eine Schar von Polizisten
unterwies. Nicht selten war sie selbst mit vor Ort und durchkämmte
Schubladen auf der Suche nach Beweismitteln.
Doch die Aktion an diesem Dienstagmorgen, die spielt in einer
anderen Liga.

Vor Brorhilker öffnet sich ein Großraumbüro etwa so groß wie
eine Gymnastikhalle. Die Wände sind weiß und kahl, der Boden –
wie fast überall im LKA – mit dunkelroter Teppichware ausgelegt.
Die Fenster der Einsatzzentrale sind von außen nicht einsehbar. An
der Stirnseite des Raums sitzt der Polizeiführer. Er hat heute das
Kommando. Neben ihm rücken weitere Verantwortliche die Stühle
an den Führungstisch heran. Heute ist eine halbe Fußballmannschaft
nötig, um diesen Großeinsatz mit mehr als tausend Beamten
in elf Ländern zu koordinieren.

Von den Plätzen der Einsatzleitung aus ragen vier Reihen weißer
Tische in den tiefen Raum. Überall stehen Monitore, Telefone, Computer.
Dazwischen: Kabelgewirr. Schier unaufhörlich strömen Frauen
und Männer herein. 60, vielleicht 70 Personen. Rechner fahren hoch,
Headsets werden aufgesetzt. Experten für die Rechtshilfe im Ausland
richten sich ebenso auf einen langen Tag ein, wie die »Unterabschnittsführer«.

 

Sie sind Ansprechpartner für die Polizisten, die heute
vor Ort bei den Durchsuchungsobjekten im Einsatz sind.
Auf der anderen Kopfseite des Raums, gegenüber der Einsatzleitung,
sind große Leinwände angebracht. Beamer füllen sie mit
Leben. An diesem Dienstagmorgen ist dort eine Landkarte zu sehen.
Länder wie Malta, Luxemburg und die Schweiz sind zu erkennen.
Neben der Landkarte erscheint eine Tabelle. Sie stellt eine Art Einsatztagebuch
dar. Minute für Minute wird hier eingetragen werden,
was vor Ort bei der Durchsuchung geschehen ist. Noch sind ihre
Zeilen jungfräulich.

Etwas am Rande, an einem Schreibtisch mit Telefon, hat auch
Brorhilker ihren Platz gefunden. Sie sitzt dort beinahe wie eine Zuschauerin.
Dabei sind wegen ihr heute alle hier. Wegen ihr lauern
gerade Hunderte Fahnder in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden,
England, Irland, Liechtenstein, Luxemburg, auf Malta, den
Britischen Jungferninseln, in den USA und selbst in Australien auf
das Startzeichen des Einsatzleiters. Anne Brorhilker ist die leitende
Staatsanwältin. Ein Jahr lang hat sie für diese Großrazzia gekämpft.
Diese umfassende Maßnahme gegen alle Widerstände durchgeboxt,
sie gemeinsam mit Kriminalbeamten akribisch vorbereitet.

Um 7.30 Uhr erteilt der Polizeiführer das Kommando. »Zugriff«.
Über das Handy geben Polizisten Rückmeldung vom Einsatzort, die
Kollegen in der Einsatzzentrale erteilen weitere Anweisungen. Der
Lärmpegel in dem Raum schwillt an. In diesen Minuten verschaffen
sich Polizisten, Steuerfahnder und Staatsanwälte gleichzeitig Zutritt
zu namhaften Unternehmen. Sie gehen in Büros, aber auch in Wohnhäuser
und eine Lagerhalle. Sie suchen nach Aktenordnern, E-Mails,
persönlichen Notizen. Beweise für mögliche Steuerbetrügereien, die
Banker, Aktienhändler und Berater »Cum-Ex« getauft hatten.
Gebannt blickt Brorhilker auf die große Leinwand. Im Einsatztagebuch
rattern die Meldungen nur so herunter. Ein Ampelsystem
veranschaulicht den Status einer jeden Durchsuchungsmaßnahme.
Rot bedeutet »Ausführung steht noch aus«, gelb symbolisiert »Wir
sind drin«, grün steht für »erledigt«.

Die Razzia an diesem Dienstagmorgen markiert den Anfang der
größten Ermittlung in Wirtschaftssachen, die Deutschland je gesehen
hat. Die Cum-Ex-Fälle werden Staatsanwältin Brorhilker in die
höchsten Ebenen einiger der größten Banken und Beratungsfirmen
der Welt führen. Sie werden ihr auch tiefe Einblicke in die Verstrickung
des Staates mit einer regelrechten Steuerbetrugsindustrie
verschaffen.

Gleichzeitig bedeutet die Razzia aber auch ein Ende. Drei Jahrzehnte,
in denen Banker, Aktienhändler und Berater weitestgehend
ungestört und oftmals unter den Augen des Staates die deutsche
Staatskasse plündern konnten, sind nun für viele maßgebliche
Akteure vorbei.

Seit dem Tag der Razzia ist Anne Brorhilker für viele der angesehenen,
reichen und mächtigen Cum-Ex-Hinterleute eine ungebetene
Mieterin im Kopf. Eine lästige Plage, die sie nicht mehr loswerden
sollen.

 

(Foto: dtv/PR)

Massimo Bognanni: „Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik“. Erweiterte Neuausgabe. dtv, 352 Seiten, 14 Euro 

 

Anfänge
Anne Brorhilker ist endlich angekommen. Lange Zeit wusste sie
nicht genau, in welchem Beruf sie einmal arbeiten wollte. Und als sie
es wusste, stand sie erst einmal im Abseits.
Jetzt, im Herbst 2013, stapeln sich in Brorhilkers »Karnickelstall«
die Unterlagen. Die Strafverfolgerin hat ihr knapp zehn Quadratmeter
großes Büro im vierten Stock der Staatsanwaltschaft. Unter
den Bergen von Leitz-Ordnern und Aktenkladden ist ihr Schreibtisch
nur noch schemenhaft zu erkennen.

Gemeinsam mit dem Landeskriminalamt, der Steuerfahndung
und dem Zoll hat sich Brorhilker dieser Tage an die Fersen einiger
Mitglieder der Gerüstbau-Mafia geheftet. Monatelang hatten sie mutmaßliche
Schlüsselfiguren abgehört – und wurden so Zeugen eines
ausgeklügelten Systems von Service- und Scheinfirmen. Hunderte
Gerüstbauer arbeiteten auf den Baustellen schwarz zu Dumpinglöhnen,
während ihre Vorsteher 6000 Euro im Monat nach Hause
brachten. Der Chef des Systems hat womöglich Millionen gemacht.
Alles auf Kosten des Staates, dem die Millionen an Sozialabgaben in
der Kasse fehlen.

Eine Razzia steht nun an. Läuft alles nach Plan, werden danach
einige Gerüstbauer im Gefängnis sitzen. Dann dürfte es noch hektischer
werden. Anwälte werden Sturm laufen gegen die Untersuchungshaft
der Mandanten. Und die Anklagen mit all den Beweisen
gegen alle Inhaftierte müssen schnell geschrieben werden. Haftsachen
haben Vorrang. Auf Brorhilker warten turbulente Tage.
Und dann gibt es noch Samir A., Brorhilkers derzeit wichtigsten
Fall. Seit Monaten ermittelt sie gegen den 25-jährigen Afghanen. A.
soll, so der Verdacht, mithilfe eines Umsatzsteuerkarussells Millionensummen
für die Terrororganisation al-Qaida eingesammelt haben.
Brorhilker hatte die Geschäfte von rund einem Dutzend Firmen
A.s unter die Lupe genommen. Unternehmen mit Namen wie Hamster
Mobile GmbH, My iCell GmbH oder Wega Mobile GmbH. Mit den
Firmen soll A. zum Schein Handys über die Grenzen gekarrt und sich
dann Umsatzsteuern vom jeweiligen Finanzamt erstattet haben lassen.
In Wahrheit aber gab es wohl gar keinen echten Handel. Die Handys
landeten am Ende wieder dort, wo sie am Anfang losgeschickt
worden waren. Ein Karussell, getarnt durch Scheinrechnungen. Die
ergaunerten Steuergelder sollen dann an Terroristen geflossen sein.

Ausgerechnet jetzt hat sich auch noch eine kleine Delegation aus
dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) angekündigt, Deutschlands
oberster Steuerbehörde, die direkt dem Bundesfinanzministerium
unterstellt ist. Eine Kollegin und zwei Herren sind an diesem
10. September 2013 aus Bonn angereist, um einen Fall vorzustellen.
Nun sitzen sie einen Stock höher, im Büro von Brorhilkers Chef
und beugen sich über Schaubilder mit Kästchen und Pfeilen. Die
Staatsanwältin hört den Ausführungen der Steuerbeamten aufmerksam
zu. Es geht um die Kapitalertragssteuer. Wer in Deutschland
Geld verdient, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, muss
seine Einnahmen mit 25 Prozent versteuern. Finanzminister Peer
Steinbrück hatte die Steuer einst eingeführt.

Auf die Kritik, dass normale Arbeiter auf ihre Einkommen viel mehr Steuern zahlen
müssen als Menschen, die ihr Geld am Finanzmarkt mehren, reagierte
der Sozialdemokrat trotzig: »Lieber 25 Prozent auf X, als nix!«
Und so zahlen beispielsweise Aktienbesitzer 25 Prozent Steuern,
wenn sie einmal im Jahr eine Gewinnausschüttung ihres Unternehmens
erhalten: die Dividende. Schüttet ein Unternehmen eine Dividende
von 100 Euro an jeden Aktionär aus, kommen bei ihm nur
75 Euro an. Die anderen 25 Euro gehen automatisch an das Finanzamt.

Doch nicht jeder muss die Steuer abführen. Es gibt Ausnahmen.
Manche Investoren können sich die Steuern vom Finanzamt erstatten
lassen. Auf genau solche Erstattungen, so erklären es nun die
Besucher vom Bundeszentralamt, hätten es womöglich Betrüger abgesehen,
indem sie sich vom Fiskus Steuern zurückholen, die zuvor
niemand bezahlt habe.
Schnell schwirrt Brorhilker der Kopf. Stichworte wie »Zentralverwahrer
«, »Leerverkäufer«, »Kompensationszahlungen« fallen, von
Folie zu Folie kommen mehr Kästen und Pfeile hinzu. Die Staatsanwältin
kann den Finanzbeamten nur mit Mühe folgen.
Abends, am Küchentisch in ihrer Kölner Wohnung, will sie
nochmals das Gesamtbild des Falls ausbreiten. Sie holt einen Block,
malt eigene Kästen, vollzieht den Weg der Gelder nach. Schritt für
Schritt erscheint vor ihr: ein Kreislauf. Allmählich erkennt sie Parallelen
zu ihren anderen Fällen. Etwa zu Samir A.s Umsatzsteuerkarussell.
Auch hier gibt es ein Kreisgeschäft, an dessen Ende der
Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Nur, dass es in diesem
Fall keine Handys sind, die zum Schein bewegt werden. Sondern
Aktien. Und das Geld landet nicht bei Terroristen, sondern bei
Bankern.

Nun ist Brorhilker ganz in ihrem Element. Dabei hatte sie nie
davon geträumt, einmal bei der Staatsanwaltschaft zu arbeiten, und
noch weniger, sich eines Tages mit Steuermodellen und Wirtschaftsbetrügern
herumzuschlagen.

Anne Brorhilker wuchs in einer Kleinstadt bei Dortmund auf.
Ihre Mutter, Lehrerin für Politik, Sozialwissenschaften und Geschichte,
war Schulleiterin an einer Realschule. Ihr Vater, ein Mann
der Zahlen, seines Zeichens Steuerberater und Wirtschaftsprüfer,
der für den Prüfkonzern Ernst & Young arbeitete. Unter den beiden
Kindern waren die Interessen klar verteilt: Während ihr kleiner Bruder
als Sportler glänzte, galt Annes Leidenschaft der Musik. Lange
Zeit träumte sie davon, eines Tages mit der Musik ihren Lebensunterhalt
zu bestreiten.

In der Grundschule war sie mit Begeisterung bei der Sache. Das
Gymnasium jedoch war für die hochbegabte Schülerin eher Last
denn Lust. Das änderte sich höchstens, wenn sie als Klassensprecherin
Unrecht walten sah. Etwa, als der Lateinpauker die Klasse immer
wieder mit Tests überzog und so Angst und Schrecken verbreitete.
Mit der Allgemeinen Schulverordnung unter dem Arm suchte die
Siebtklässlerin den gefürchteten Lehrer auf, wies ihn darauf hin, dass
es klare Regeln dafür gebe, wie viele Tests geschrieben werden dürften.
Dann war Ruhe.

An der Uni fühlte sich Anne Brorhilker regelrecht befreit. Bei der
Jobwahl war für sie ein Kriterium besonders wichtig: finanzielle
Unabhängigkeit. Als den Lehramtsstudenten in Dortmund gleich
zu Beginn des Studiums eingebläut wurde, es gebe keine Stellen für
Lehrer, beerdigte sie nach einem Semester den Plan, Musiklehrerin
zu werden. Brorhilker war gewillt, auf ein in ihren Augen noch
sichereres Pferd zu setzen. Sie schrieb sich in Bochum für Jura ein.
Zu ihren ersten Vorlesungen zählte die Einführung ins Straf- und
Prozessrecht von Professor Gerd Geilen. Der kleine rundliche Herr
entfachte bei der Studentin die Begeisterung für das Strafrecht. Als
Schwerpunkt im Studium wählte sie Kriminologie. Nach dem ersten
Staatsexamen jobbte sie bei großen Kanzleien – und wusste danach,
was sie nicht werden wollte: Rechtsanwältin.

Auch das zweite Staatsexamen schloss sie mit Prädikat ab. Im darauffolgenden
Referendariat platzten jedoch gleich mehrere Illusionen.
Ihre Station bei einer Gerichtskammer für Baurecht empfand
sie als so frustrierend, dass sie ihren Wunsch, einmal Richterin werden
zu wollen, ad acta legte. Als sie sich als einzige Juristin in der
Stadtverwaltung eines kleinen Kaffs mit der Kampfhundeverordnung
herumschlug, fiel auch die Option weg, in der Kommunalverwaltung
zu arbeiten. Und selbst die lang ersehnte Station bei
Amnesty International in Berlin war eine Enttäuschung, ließen hier
doch alle Festangestellten um 16 Uhr den Griffel fallen, während
sich die Ehrenamtler bis tief in die Nacht engagierten.

Per Ausschlussverfahren kam Brorhilker schließlich zu ihrem
Beruf: Staatsanwältin. Die Bewerbung in Köln glückte 2002. Das
Ziel der frischgebackenen Strafverfolgerin stand fest. Sie wollte es
mit der organisierten Kriminalität aufnehmen. Doch die junge Karriere
stockte. Ihre ersten Berufsjahre verbrachte sie in der sogenannten
Gnadenstelle. Einem Ort, der sonst Staatsanwälten am Ende des
Berufslebens vorbehalten war, und zwar nicht gerade den besonders
beliebten.
Hier hatte sie es mit Drogenabhängigen und Kleinkriminellen zu
tun. Wiederholungstätern. Schlimme Schicksale oftmals. Menschen
am Rand der Gesellschaft. Brorhilker prüfte in der Gnadenstelle, ob
der Staat bei einigen dieser traurigen Gestalten Gnade vor Recht
walten lassen und ihnen eine weitere Haftstrafe ersparen könne. Mit
gezielten Auflagen vielleicht sogar eine neue Perspektive bieten. Ihr
Alltag ähnelte mehr dem einer Sozialarbeiterin als dem einer Juristin.

Nach zwei Jahren in der Gnadenstelle kannten auch die Verantwortlichen
der Staatsanwaltschaft Gnade – und versetzten sie in die Steuerabteilung.
Zunächst klang auch das wie eine Strafe, hatte sich Brorhilker bis
dato doch stets in den Fußstapfen ihrer politisch engagierten Mutter
gewähnt. Umweltschutz, Flüchtlinge, das waren Themen, die sie
umtrieben. Und nun saß sie plötzlich in ihrem Büro und wälzte –
ganz der Vater – Steuerthemen. Zu ihrer großen Überraschung jedoch
war sie damit in ihrem Traumberuf angekommen. Denn viele
der millionenschweren Steuerbetrügereien entpuppten sich als jene
organisierte Kriminalität, die sie schon immer bekämpfen wollte.
Ob Gerüstbauer oder Terror-Finanzierer. Sollten jetzt auch Banker
und namhafte Berater hinzukommen?

Die Akte des Bundeszentralamtes liegt vor ihr, sie ist noch überschaubar,
birgt jedoch einen Schatz. Es ist ein Schreiben des Stuttgarter
Rechtsanwaltes Eckhart Seith. Im März 2013 hatte er sich an
das Bundeszentralamt gewandt. Er vertrete einen südwestdeutschen
Unternehmer, der sich um 47 Millionen Euro geprellt fühle.
Dieser Unternehmer war niemand Geringeres als der Gründer der
Drogeriemarktkette Müller, Erwin Müller. Ein Mann, dem ein Milliardenvermögen attestiert wird.

Eigentlich sei es dem Anwalt nur darum gegangen, nach einem
missglückten Investment Müllers Geld zurückzuholen. Unwissend
sei Müller, so schreibt sein Anwalt Seith, in eine fragwürdige Geldanlage
gelockt worden. Erst durch eine intensive Recherche sei er
auf ein System namens »Cum-Ex« gestoßen, bei dem die Akteure
eine riskante Wette eingingen: nämlich die, nicht von den Finanzbehörden
erwischt zu werden. Beteiligt seien Privatbanken wie das
Schweizer Geldhaus Safra J. Sarasin und die feine Hamburger Adresse
M.M. Warburg, ebenso wie eine Investmentbank aus Australien und
amerikanische Pensionsfonds. Sie alle hätten zusammengewirkt,
um sich Kapitalertragssteuern erstatten zu lassen, die zuvor niemand
abgeführt habe. Sprich: ein Griff in die Staatskasse.

Eckhart Seith entstammt einer Anwaltsfamilie in fünfter Generation.
Sein Studium absolvierte er zur gleichen Zeit wie ein gewisser
Olaf Scholz an der Universität Hamburg im Rahmen der einstufigen
Juristenausbildung. Die Uni galt als links. Seith bezeichnet sich
selbst als »bürgerlicher Linker«, macht keinen Hehl daraus, die Grünen
zu wählen. Als der Experte für Steuerstrafrecht den Cum- Ex-
Fall auf den Schreibtisch bekam, ging es für ihn auch um die Gerechtigkeitsfrage.
Eliten, die sich zu Lasten der Allgemeinheit die Taschen
vollstopfen? Ein Unding. Der Anwalt, der in seiner Freizeit als Rennradfahrer,
Bergsteiger und Tourengänger den Kick sucht, scheut
auch beruflich das Risiko nicht. Er fuchste sich in die Sache rein. In
vielem, das er herausfand, wird er Recht behalten. Nur an einer Stelle
hat er sich verzettelt. Er hätte nie damit gerechnet, dass ihm selbst
irgendwann eine Gefängnisstrafe drohen würde. Doch die Schweiz
wird später den deutschen Anwalt wegen der Anstiftung zur Wirtschaftsspionage
verfolgen.

Dass es in Sachen Cum-Ex überhaupt zu einem Streit zwischen
Erwin Müller und den Initiatoren des Geldgeschäfts gekommen
war, lag daran, dass die Wette in diesem Fall eben nicht aufgegangen
war. Der Fiskus hatte Lunte gerochen, die Millionen nicht ausgezahlt.
Plötzlich flossen nicht die versprochenen zwölf Prozent Rendite.
Müller und andere Investoren blieben auf dem Trockenen sitzen.
So etwas mögen nicht nur Schwaben gar nicht gerne. Und so
hinterfragten Müllers Anwälte jene Aktiengeschäfte kritisch, denen
der Milliardär blind zu vertrauen schien, solange seine Gewinne
flossen.

Mit dem Eifer eines Ermittlers ging nun der Anwalt des Milliardärs
der Sache nach, nutzte seine vielen Kontakte in der Steuer- und
Finanzszene, gewann sogar Insider der Privatbank Sarasin als Informanten
– und richtete sich auch an die Strafverfolgungsbehörden,
um weiteren Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden, wie er
schrieb.
Besonders beim Blick auf die Zahlen, die Seith in seinem Schreiben
zusammengetragen hatte, schnellt Brorhilkers Puls in die Höhe.
Nur bei diesem einen Geschäft, bei dem Erwin Müller geprellt worden
sei, hätten die Initiatoren Anlegergelder in Höhe von 250 Millionen
Euro eingesammelt. Dieses Kapital sei wiederum »gehebelt«
worden. Mit anderen Worten: Weitere Banken hätten bis zu eine
Milliarde Euro an Kredit hinzugegeben. Mit dieser Riesensumme
habe man schließlich versucht, den Staat um 300 bis 600 Millionen
Euro zu prellen.

Hinter all dem, behauptet Seith, steckten Berater, die nicht nur
Anleger wie Erwin Müller angeworben hätten, sondern das ganze
Modell auch mitinitiiert. Diese Hintermänner hätten sich selbst
hemmungslos die Taschen vollgestopft, über eine Firma in Luxemburg
riesige Millionensummen für sich selbst eingestrichen. Der
Anwalt nennt die Namen zweier Rechtsanwälte: Hanno Berger und
Kai-Uwe Steck.

Brorhilker ist auf Betriebstemperatur. Ein Steuermodell, mit dem
der Staat um dreistellige Millionensummen geprellt wird? Bei dem
Luxemburger Firmen, internationale Investmentbanken, hochangesehene
Privatbankiers und milliardenschwere Investoren mitmachen?
Hinter all dem sollen zwei Rechtsanwälte stehen?
Und wenn das alles stimmen sollte: Wie konnte dem Fiskus angesichts
der astronomischen Summen ein solcher Diebstahl entgangen
sein?

Schäferhund

August Schäfer springt an diesem Wintermorgen 1991 an der Haltestelle
Frankfurt-Hauptwache aus der Bahn und steuert geradewegs
den monumentalen Kuppelbau der Wertpapierbörse an. Durch die
Vorhalle mit ihren Doppelsäulen aus Sandstein geht es zum Eingang.
Schäfer zeigt seinen Dienstausweis, Nummer 0001, vor, der
ihm Zugang zu allen Räumlichkeiten der Frankfurter Börse garantiert.
Stimmen schwirren durch die Luft. Bei jedem Schritt werden
sie lauter. Je näher Schäfer dem Handelssaal kommt, desto deutlicher
stechen einzelne Rufe heraus. Makler, die per open outcry, per Zuruf,
ihre Angebote für Aktien herausbrüllen.

Im Saal angekommen, bietet sich ihm ein turbulenter Anblick.
Männer in weiten weißen Hemden rennen über das abgewetzte
Mosaikparkett und sprechen dabei in klobige, schwarze Mobiltelefone.
Vor kastigen Monitoren drängeln sich Grüppchen. Was zunächst
wie das pure Chaos aussieht, entpuppt sich mit der Zeit als
gut geordnet. In dem Handelsbereich rechts werden die Aktien von
Banken und Versicherungen gehandelt. In der Mitte sind es die
Papiere von Verkehrs- und Industriekonzernen. Auf der linken Seite
wird mit Optionsscheinen Geschäft gemacht.
Über dem Saal thront die berühmte schwarze Tafel, die den Zickzack
des Deutschen Aktienindex abbildet. August Schäfer, die grauen
Haare zur Seite gescheitelt, schwarze Augenbrauen, Brille auf der
Nasenspitze, betritt das Szenario im Dreiteiler. Er ist nicht gekommen,
um neue Freunde zu finden. Tatsächlich braucht er nur eine Woche,
um einer der meistgehassten Männer auf dem Parkett zu werden.

Bis hierher hat Schäfer einen langen Weg hinter sich. Aufgewachsen
im »hessischen Sibirien«, einem kalten und armen Landstrich an
der Grenze zu NRW, wurde Schäfer als Halbwaise groß. Sein Vater,
ein Maurer, war 1943 im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gefallen.
Da war August gerade drei Jahre alt. In der Nachkriegszeit schlug
sich die Mutter mit ihrem Sohn und 28 Mark Kriegswaisenrente
durch. In der Volksschule fiel der wissbegierige Junge schnell auf.
Doch die Mutter konnte das Schulgeld für das Gymnasium nicht
aufbringen. Schon der Bus zur Mittelschule im Nachbarsort verschlang
die Hälfte des monatlichen Waisengeldes.

Lange sollte er der Mutter nicht auf der Tasche liegen. August
übersprang an der Mittelschule eine Klasse. Nach der Mittleren Reife
hatte er Großhandelskaufmann bei Esso gelernt und sich im Anschluss
bei der Bundesbank als Inspektor erfolgreich beworben. Der
talentierte »Aufstiegsbeamte«, der es ohne Studium zu diesem
Status gebracht hatte, wurde dann mit 37 Jahren Chef einer kleinen
Landesbank in Wiesbaden. Elf Jahre lang machte er den Job, dann
kam das Aus: 1989 krachte es mit dem FDP-Wirtschaftsminister.
Schäfer teilte seinem Chef per Brief mit, dass er, Schäfer, ihm, dem
Minister, nicht mehr vertraue. Schäfer war seinen Job los – und landete
im Wirtschaftsministerium. Als Ministerialrat hockte er ohne
besondere Aufgaben dort herum. Er war drauf und dran, ein »Edeka«-
Beamter zu werden. Ende der Karriere. Sein einst ratternder Karrierezug
stand auf dem Abstellgleis.

Die hessische Landtagswahl im Januar 1991 brachte für SPD-Spitzenkandidat
Hans Eichel überraschend das Amt des Ministerpräsidenten
– und für Schäfer die Wende. Die SPD bildete mit den
Grünen die Regierung. Ins Wirtschaftsministerium zog der Sozialdemokrat
Ernst Welteke ein. Der Minister reanimierte Schäfer. Der
frühere Bankchef habe doch Ahnung von Finanzgeschäften – ob er
nicht Aufseher an der Frankfurter Börse werden wolle? Und wie er
wollte.

Schäfers Job begann mit einem Stapel Bilanzen. Ein neues Gesetz
war Grund für den Papierberg. Demnach mussten freie Makler gegenüber
dem Wirtschaftsministerium fortan ihre Bilanzen offenlegen.
Ein kleiner Crash von 1987 hatte die staatlichen Marktaufseher
beunruhigt, wurde doch deutlich, dass nicht alle dieser selbstständigen
Vermittler von Wertpapiergeschäften genügend Geld auf
der hohen Kante hatten, falls es Mal zu Turbulenzen käme. Genau
das soll Schäfer nun überprüfen. Für ihn ein Leichtes. Als er noch
Bankchef war, wurden oft Unternehmer bei ihm vorstellig, die um
Bürgschaften baten. Bevor er solche Zusagen machte, prüfte Schäfer
die Fälle eingehend. In dieser Zeit ackerte er sich durch unzählige
Bilanzen – und lernte schnell die Spalten kennen, in denen sich die
Risiken verbargen.

Während er sich also durch die Zahlenkolonnen der Makler grub,
stieß er auf eine Fährte. Eine Spur, die er die nächsten drei Jahrzehnte
verfolgen würde.
Börsenmakler führen tagsüber ein hektisches Leben. Sie warten in
ihren kleinen Büros, die rund um das Börsenparkett verteilt sind, auf
Anrufe. Sobald ein Kunde Aktien ordert, notieren sie die Bestellung,
rennen raus, drängeln sich mit spitzen Ellenbogen durch die Männermasse
– bis hin zu einer der drei »Schranken«, den Tischen, die
das Fußvolk auf dem Parkett von den spezialisierten Brokern vor
den Bildschirmen trennen. Wer mit einem kräftigen Organ gesegnet
ist, hat Vorteile. Lauthals schreien die Makler ihre Angebote den
Aktienhändlern entgegen. Bekommen sie den Zuschlag, notieren
sie alles in kleinen Notizbüchern. Nach Börsenschluss werden die
Deals in den Zentralcomputer eingegeben.

So laut es tagsüber zugeht, so sehr wollen Makler nachts ruhig
schlafen. Gegen Ende eines jeden Tages versuchen sie »glattzustellen
«, also alle noch offenen Geschäfte zu schließen. Ist ein Deal nicht
abgeschlossen, drohen große Risiken. Schließlich könnten sich die
Aktienkurse über Nacht zu ihrem Nachteil verändern.
Doch die Bücher, die man Schäfer vorlegte, waren alles andere als
ausgeglichen und bargen somit Risiken, die Makler normalerweise
mieden wie der Teufel das Weihwasser. In der linken Spalte der
Bilanz, der Vermögensseite, standen hohe Forderungen gegenüber
dem Finanzamt. Steuererstattungsansprüche. Und auf der Gegenseite,
dort, wo normalerweise die Vermögensherkunft festgehalten
wurde, fanden sich extrem hohe Handelsverluste. Schäfer, ohnehin
kein Mann mit ausgeprägtem Grundvertrauen, nahm Witterung
auf. Irgendwas stimmte hier nicht.

Mit seinen ersten Erkenntnissen muss Aufseher Schäfer seinen
Boss nicht lange überreden. Hier stank etwas, das man sich näher
anschauen sollte. Wirtschaftsminister Welteke zögerte nicht lange
und schickte ihn tatsächlich für eine Woche aufs Börsenparkett. Vor
Ort sollte Schäfer ergründen, was es mit den Auffälligkeiten auf sich
habe.
Plötzlich ist Schäfer also Statist im täglich aufgeführten Schauspiel
an der Wertpapierbörse. Neugierig pickt sich der Aufseher
einen Makler nach dem anderen heraus und grillt ihn. Schäfer neigt
zur Schärfe. Es dauert nicht lange, bis hinter vorgehaltener Hand
vom »Schäferhund« die Rede ist.

Schäfer lernt schnell, dass hinter den Auffälligkeiten in den Bilanzen
Geschäfte stecken, die Insider »Dividendenstripping« getauft
haben. Deals um den Dividendenstichtag herum. Also jenen Tag der
Hauptversammlung, an dem Aktiengesellschaften die Dividende
beschließen und ausschütten.
Beim Dividendenstripping werden die Aktien kurz vor der Hauptversammlung
verkauft und gleichzeitig ein Rückkauf für kurze Zeit
nach der Hauptversammlung vereinbart. Normalerweise macht ein
solches Geschäft überhaupt keinen Sinn. Denn wer eine Aktie besitzt,
möchte in der Regel die Dividende kassieren und verkauft eben
nicht kurz vor der Ausschüttung sein Papier, um es direkt danach
wieder zu erwerben. Sinn ergeben die Deals nur, wenn man es auf
die Steuer abgesehen hat.
1991 müssen nicht alle Aktienbesitzer ihre Dividenden gleich besteuern.
Aktienbesitzer im Inland zum Beispiel, die die Papiere nicht
gewerblich handeln, bekommen die 25 Prozent Kapitalertragssteuer
plus Solidaritätszuschlag vom Finanzamt erstattet. Ausländische
Aktionäre hingegen müssen zahlen. Mit dem Dividendenstripping
verkaufen nun ausländische Investoren ihre Aktien kurz vor dem
Tag der Hauptversammlung an deutsche Aktionäre und vereinbaren
einen festen Preis für den Rückkauf. Da die Deutschen die Aktien
am Tag der Hauptversammlung besitzen, bekommen sie die Dividende
und dürfen sich die Steuern erstatten lassen. Danach geht die
Aktie zurück ins Ausland. Einen Teil der Steuererstattung geben die
Deutschen an die Ausländer weiter – so haben beide etwas davon.
Nur der Staat – und damit der Steuerzahler – bleibt auf einem Loch
in der Kasse sitzen. Als wäre das nicht schon fragwürdig genug, hört
Schäfer immer wieder Gerüchte über noch aggressivere Formen des
Dividendenstrippings. Modelle, die später unter dem Schlagwort
»Cum-Ex« laufen werden.

Am 4. Dezember 1991 geht Minister Welteke mit Schäfers Erkenntnissen
an die Presse. Wegen des Dividendenstrippings würden
intensivere Prüfungen notwendig. Sämtliche seiner Aufsicht
unterstellten Makler müssen nun alle Geschäfte des Jahres 1991 melden,
mit denen sie Dividendeneinnahmen erwirtschaftet hatten.
Die Meldungen würden einer »eingehenden Prüfung« unterzogen.
Wenn Schäfers Nachfragen im Frankfurter Börsensaal ein erstes
Zittern gewesen sind, dann ist diese Ankündigung ein Beben, geeignet,
die ganze Branche zu erschüttern. Wenn das in die Hose geht,
das wissen Welteke und Schäfer, werden sie sich neue Jobs suchen
müssen. Welteke würde dann Entwicklungshilfe in Afrika machen,
witzelten sie. Und Schäfer? Für den fände sich sicherlich ein Job in
der Poststelle.

Doch die Ministeriumspost, das wird schnell klar, wird ohne
Schäfers Hilfe bearbeitet werden müssen. Der Börsenaufseher landet
einen Treffer nach dem anderen. Gemeinsam mit zwei Redakteuren
des Frankfurter Finanzmarktbericht gibt er im November 1992 eine
kleine Kostprobe. Das von der Landeszentralbank in Hessen heraus23
gegebene Blatt ist in der Branche vielbeachtet. Unter der Zeile »Dividenden-
Stripping im Zwielicht« kann nun alle Welt nachlesen,
welch zweifelhafte Geschäfte Banker und Makler getätigt haben.
Schäfer entlarvt verschiedene Modelle, darunter die krasseste
Form, die »Produktion von Steuerbescheinigungen« – in Schäfers
Augen eine Weiterentwicklung des Dividendenstrippings. Hierbei
werden mehrere Steuerbescheinigungen für ein und dieselbe Aktie
ausgestellt.

Steuerbescheinigungen sind vergleichbar mit Pfandbons am Getränkeautomaten.
Wenn Aktienbesitzer diese Bescheinigungen beim
Finanzamt vorlegen, können sie in Ausnahmefällen ihre Steuern
zurückerhalten. Hierzu müssen sie nur ihren Pfandbon, die Steuerbescheinigung,
vorlegen.
Doch, so schreibt Schäfer, würden Steuerbescheinigungen in
manchen Fällen auch für Steuern gedruckt, »die überhaupt nicht
gezahlt wurden«. Jemand geht mit Pfandbons zur Kasse, obwohl er
die Flaschen nie besessen hat. Wegen der gefälschten Pfandbons
wird also Geld erstattet, das vorher kein Mensch bezahlt hatte.

Schäfer durchschaut ein perfides System. Denn wer Steuerbescheinigungen
ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken. Zu
praktisch für die Geldhäuser, dass der Staat die Aufgabe, die Steuerbescheinigungen
auszustellen, an die Banken delegiert hat. Die Banken
selbst drucken die Steuerbescheinigungen.
Am 4. Dezember 1992 dann, auf den Tag ein Jahr, nachdem SPDWirtschaftsminister
Welteke eine Untersuchung angekündigt hat,
legt August Schäfer seinen gefürchteten Abschlussbericht vor.
18 Seiten Sprengstoff. 179 fragwürdige Stripping-Geschäfte dokumentiert
er penibel für das Jahr 1991.

Durchschnittlich seien bei jedem dieser Deals 33 000 Aktien gehandelt
worden. »Bei diesen Geschäften muss also zwingend davon
ausgegangen werden«, bilanziert er, »dass keine nachvollziehbaren
außersteuerlichen, wirtschaftlichen Gründe vorliegen.« Mit anderen
Worten: Geld lässt sich mit den Deals nur dann verdienen, wenn
Steuern erstattet werden. Steuergelder, die den ursprünglichen Besitzern
gar nicht zustehen.

Es liege daher strafbarer Missbrauch von Steuergesetzen vor. Auf
Maklerseite seien 19 Akteure beteiligt gewesen, sie hätten Dividendenstripping
mit 27 Banken und vier zwischengeschalteten Freimaklern
abgewickelt. Die Ausführungen enden mit einer für die beteiligten
Banken bedrohlichen Information. Der Abschlussbericht
werde, »mit allen relevanten Unterlagen«, auch der Staatsanwaltschaft
Frankfurt übergeben. Genau dies geschieht am 16. Dezember
1992.

Und nicht nur die Strafverfolger, auch die Politik erreichen Schäfers
Erkenntnisse umgehend. Der Gesetzgeber, so fordern es Hessen
und Nordrhein-Westfalen im Bundesrat, müsse tätig werden. Und
Bundesfinanzminister Theo Waigel von der CSU? Der hört sich die
Sache im Finanzausschuss aufmerksam an.
Nach der Sitzung im Dezember 1992 kursiert in der Frankfurter
Finanzszene sogleich ein vertraulicher Vermerk über den Finanzausschuss.
Bankenlobbyisten pflegen gute Kontakte in die Bundeshauptstadt
Bonn und unterrichten ihre Kollegen umgehend über
neueste Entwicklungen. Was sie jedoch nicht ahnen: Auch Schäfer
hat längst sein Adressbuch mit Informanten gefüllt. Und so spielt
auch ihm jemand heimlich den Brief des Lobbyisten zu. Das Schreiben
datiert vom ersten Weihnachtsfeiertag – der Bankenlobbyist hat
seinen Kollegen ein Geschenk aus der Bundeshauptstadt zu vermelden.
Handschriftlich notiert er: »Anliegend die abschließende Mitteilung
›Dividendenstripping‹, auf Bitte meiner ›Quelle‹ habe ich
den Briefkopf abgedeckt – das Schreiben stammt aber aus derselben
Ecke wie zuvor. Verstehe ich das richtig, haben unsere Ausführungen
das BMF überzeugt und dürfte »Dividendenstripping« vielleicht
stillschweigend weiter geduldet werden?«

Die folgende dreiseitige Zusammenfassung der Ausschusssitzung
offenbart, warum der Mann frohlockt. Zwar würdigt laut Protokoll
der Bundesfinanzminister Theo Waigel, CSU, die Untersuchungs25
ergebnisse aus Hessen – ein beschriebener Fall lasse durchaus den
Verdacht auf Beihilfe zur Steuerumgehung entstehen –, doch »eine
grundsätzliche Lösung für das Dividendenstripping sieht das Finanzministerium
nicht, weil sie letztendlich dazu führen müsste,
dass der Handel sowohl in Aktien als auch in abgeleiteten Termingeschäften
in gewissen Zeiträumen verboten werden müsste. Das wiederum
könne nicht in Betracht kommen, weil mit Sicherheit eine
weitgehende Verlagerung des Geschäfts ins Ausland und ein gravierender
Schaden für den Finanzplatz Deutschland die Folgen wären.«

Schäfer kann nicht fassen, was er da liest. Die Ausführungen des
Bundesfinanzministeriums sind nicht nur falsch. Schließlich gäbe es
auch andere Lösungen, als den Handel gänzlich zu verbieten, und die
steuergetriebenen Geschäfte könnten alles, nur nicht ins Ausland
verlagert werden – geht es doch gerade darum, den deutschen Fiskus
zu erleichtern. Die Aussage des Finanzministeriums treibt Schäfer
aber auch aus einem anderen Grund die Sorgenfalten auf die Stirn:
Sie entspricht eins zu eins der Argumentation der Bankenlobby.
Allen voran der des mächtigen Deutschen Bankenverbandes, auf
den vor allem die Deutsche Bank Einfluss nimmt.

Kurzum: Das Ministerium weiß alles – und unternimmt vorerst
also nichts. Die Branche scheint zu mächtig. Die Politik, da ist sich
Schäfer inzwischen nach vielen Gesprächen sicher, will den Finanzplatz
Frankfurt als echten Konkurrenten zu London aufbauen. Da
nimmt man offenbar ein paar entwendete Steuermillionen in Kauf.
Theo Waigel wird sich später auf Nachfrage nicht an die Vorgänge
erinnern. Ebenso wenig Waigels einstiger Staatssekretär im Bundesfinanzministerium,
Franz-Christoph Zeitler.

Doch für August Schäfer geht es zumindest an anderer Stelle vorwärts.
Das Jahr 1993 ist noch nicht einmal einen Monat alt. Schäfer
trifft sich in den Räumen des Frankfurter Landgerichts mit drei
Steuerfahndern und zwei Staatsanwälten. Schäfer erläutert die Hintergründe
seines Abschlussberichts. Er nennt Ross und Reiter. Etwa
den Namen eines Maklers, dem im März 1992 rund 21,4 Millionen
D-Mark Steuern erstattet wurden. Steuern, die zuvor womöglich
niemand abgeführt hatte. Es wird gestritten. Es wird debattiert. Am
Ende sind sich die Männer einig: Hier könnte eine Straftat vorliegen.
Es muss ermittelt werden.

Wie besprochen, weist die Staatsanwaltschaft wenige Wochen
später die Steuerfahndung an, entsprechende Ermittlungsverfahren
einzuleiten. Schäfer wähnt sich am Ziel. Die mutmaßlichen Verbrecher
werden zur Rechenschaft gezogen.
Mit dem Wind im Rücken nimmt Schäfer auch einen erneuten
Anlauf, für ein wirksames Gesetz gegen das Dividendenstripping
zu sorgen. Tatsächlich soll im Standortsicherungsgesetz auch eine
Regel gegen die steuergetriebenen Geschäfte verabschiedet werden.
Doch die Bankenlobby hat im gleichen Frühjahr die Regierung
offenbar derart bearbeitet, dass diese drauf und dran ist, ein Gesetz
zu erlassen, das die Geschäfte nicht stoppt, sondern begünstigt.
Aufgebracht klingelt Schäfer am Pfingstsonntag 1993 bei einem
Handelsblatt-Journalisten durch. Es trifft sich gut, dass der Reporter
auch für die Telebörse arbeitet und Schäfer zusätzlich vor der
Fernsehkamera interviewt. »Das Dividendenstripping wird künftig
erleichtert« lautet die schmissige Schlagzeile. Den umstrittenen Geschäften
würden durch die vom Bundestag beschlossene Gesetzesvorlage
»Tür und Tor« geöffnet – und das, obwohl das Gesetz die
Stripping-Geschäfte ursprünglich unterbinden sollte. Nur noch der
Finanzausschuss des Bundesrats, so der Artikel, könne diese Fassung
aufhalten.

Tatsächlich gelingt es, das Gesetz im Bundesrat zu stoppen und
eine echte Verschärfung zu ermöglichen. Nicht ohne Stolz blickt
Schäfer auf die neuen Regeln und anlaufenden Ermittlungsverfahren.
Schäfers Karriere nimmt nun wieder Fahrt auf. Er wird zum ersten
Staatskommissar für die Frankfurter Börse befördert. Nun hat er
andere Aufgaben, beobachtet jedoch immer noch aus der Ferne, was
aus den Stripping-Geschäften wird. Und was er sieht, gefällt ihm gar
nicht. Der »Strip in der Zockerstube«, wie ihn der Spiegel 1994 betitelt,
läuft nach Schäfers Beobachtung einfach weiter.

Ob das neue Gesetz befolgt wird, so scheint es, kontrolliert
schlicht niemand. Und auch von den Ermittlungen hört Schäfer
nichts mehr. Am 4. April 1996 kann er das Treiben nicht mehr ertragen,
setzt sich an den Computer und setzt ein zweiseitiges Schreiben
an den Staatssekretär im hessischen Finanzministerium auf. Zwar
ohne Namen zu nennen, jedoch mit zahlreichen Details schildert
Schäfer Stripping-Geschäfte mit Siemens-Aktien, die rund um die
Siemens-Hauptversammlung am 22. Februar 1996 zu sehen waren.
Es gebe auch Insider, die bereit seien, mit der Staatsanwaltschaft zu
sprechen. Er bekommt keine Rückmeldung.

Als Schäfer neun Monate später das Handelsblatt aufschlägt,
platzt ihm endgültig der Kragen. In dem Artikel vom 26. September
1996 geht es um eine Maklerfirma, die 1992 mehr als 21 Millionen
D-Mark Körperschaftssteuer erstattet bekam. Ausgerechnet jener
Staatssekretär im hessischen Finanzministerium wird in dem Artikel
zitiert, den Schäfer Monate zuvor gewarnt hatte. Und es geht
ausgerechnet um jene Geschäfte, die Schäfer schon vier Jahre zuvor
minutiös aufgearbeitet und den Finanzbehörden gemeldet hatte.
Der Staatssekretär hingegen behauptet gegenüber dem Handelsblatt,
dass 1992 schlicht keine Hinweise vorgelegen hätten und deshalb
das Geld ausgezahlt werden musste.

In Schäfers Augen ist das eine glatte Lüge. Detailliert listet er in
seinem Brief an ebendiesen Staatssekretär auf, was er wem alles 1992
vorgelegt hatte. Er wirft ihm Untreue im Amt vor und zeigt ihn sogar
an. Doch auch hieraus wird nichts. Die Gründe erfährt er nicht.
Er bekommt nur die trockene Mitteilung, dass nicht weiter ermittelt
werde.

Die Jahre gehen ins Land, nichts passiert. Nach seinem vorzeitigen
Ruhestand im Jahr 2001 ist Schäfer frustriert. Er kehrt seiner
hessischen Heimat den Rücken und zieht in den hohen Norden.
Hier genießt er die frische Meeresluft. Doch so sehr er auch versucht,
Abstand zu gewinnen, so sehr lassen ihn die alten Fragen nicht los.
Warum in aller Welt wurden nicht zumindest die Fälle ermittelt, die
er in seinem Abschlussbericht offengelegt hatte? Staatsanwaltschaft,
Steuerfahnder und er waren sich doch einig gewesen, dass ermittelt
werden müsse. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hatte wie besprochen
die Steuerfahnder beauftragt, zwei Fälle exemplarisch zu
ermitteln. Was also war geschehen?

Die Antwort erhält Schäfer Jahre später. Ein Informant spielt ihm
ein Schreiben des Finanzamtes Frankfurt-Börse an die obere Steuerbehörde,
die Oberfinanzdirektion Frankfurt, zu. Der Brief datiert
vom 16.03.1993 – wenige Wochen, nachdem Schäfer mit Staatsanwaltschaft
und Steuerfahndung zusammengesessen hatte.
Tatsächlich bestätigt das Schreiben, das Treffen mit Schäfer und
den Anfangsverdacht gegen mehrere Makler, die doppelte Steuerbescheinigungen
produziert hätten. »Die Staatsanwaltschaft hat
insoweit die hiesige Steuerfahndungsstelle angewiesen, umgehend
Ermittlungsverfahren einzuleiten.«
Doch was er dann liest, lässt Schäfer vom Glauben an die Steuergerechtigkeit
abfallen. Von den Ermittlungsverfahren werde jedoch
nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt zunächst abgesehen,
schrieb die Finanzbehörde. Würde man jetzt mit Ermittlungen gegen
zwei Makler beginnen, bedeute dies, »dass – aus jetziger Sicht –
allein für das Jahr 1991 mittelfristig gegen weitere 17 Makler sowie
gegen mindestens 4 Depotbanken […] zu ermitteln ist.«
Schäfer ist konsterniert: Weil eine Ermittlung viel Arbeit macht,
lässt man sie lieber ganz bleiben?

Sein Puls wird sich auch während der folgenden Absätze nicht beruhigen:
Das Finanzamt, das in einem Strafverfahren nichts anderes
ist, als die ausführende Ermittlungsbehörde, die ihre Anweisungen
von der Staatsanwaltschaft bekommt, schreibt doch tatsächlich im
folgenden Absatz, dass konkrete Ansatzpunkte für steuerstrafrechtliche
Ermittlungen »nicht ersichtlich« seien.
Schäfer denkt an all die Details, die Dokumente und Anhänge, die
er mit seinem Prüfbericht abgeliefert hatte. Eben jene Belege, die die
Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kommen ließen, dass ermittelt
werden müsse. Widersprach hier etwa die Steuerfahndung der Einschätzung
der Staatsanwaltschaft?

Das dreiseitige Schreiben endet mit der nüchternen Feststellung,
dass im Bereich Dividendenstripping »Ermittlungstätigkeit
in einem Umfang anfallen wird, die in Anbetracht der angespannten
Personal- und Arbeitssituation von der hiesigen Steuerfahndungsstelle
nicht allein zu leisten sein wird.«
Auf dem Tisch vor Schäfer liegt, so empfindet er das, ein Skandal.
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen angeordnet. Und die
Steuerfahndung wiegelt unter fadenscheinigen Gründen ab. Das ist
in etwa so, als ob nach einem Mord am Tatort ein blutiges Messer gefunden
wird, die Kriminalpolizei aber Ermittlungen verweigert,
weil man gerade viel um die Ohren habe und das Messer ja auch aus
einer Metzgerei stammen könne.*

Was sind das für Steuerfahnder, fragt sich Schäfer, die Hinweisen
auf millionenfachen Steuerbetrug nicht nachgehen wollten? Wie
ticken die Frankfurter Finanzbehörden? Wem fühlen sie sich verpflichtet
– den Banken oder der Allgemeinheit?
Was Schäfer erst später begreift: Es waren exakt die Frankfurter
Finanzbehörden, die in den Neunzigerjahren, einen Mann hervor-

—————————————————————————————–

* August Schäfers einstiger Arbeitgeber, das hessische Wirtschaftsministerium,
wird später auf Anfrage angeben, aufgrund fehlender Akten die einzelnen Sachverhalte
zwar nicht mehr im Detail nachvollziehen zu können. Allerdings lägen
dem Ministerium keine Anhaltspunkte vor, dass die damaligen Bewertungen im
Wesentlichen infrage zu stellen wären. Dies gelte insbesondere auch für die Einschätzung, dass es für die von Schäfer enttarnten Geschäfte keine plausible und
nachvollziehbare wirtschaftliche, außersteuerliche Begründung gebe. Das hessische
Justizministerium gibt an, es könne den Sachverhalt nicht mehr nachvollziehen,
da Vorgänge aus der damaligen Zeit wegen der allgemeinen Löschungsfristen
bereits vernichtet seien. Das hessische Finanzministerium wiederum
lässt Fragen hierzu unbeantwortet.

—————————————————————————————

brachten, der später eine große Rolle bei Cum-Ex-Geschäften spielen
würde: einen gewissen Hanno Berger.
Schäfer hatte Berger nie getroffen und doch wirkten sie zur gleichen
Zeit am gleichen Ort. Hat er womöglich den obersten Betriebsprüfer
für Banken, Hanno Berger, der später die Seiten wechseln und
Cum-Ex aufsetzen würde, mit seinen kritischen Aufsätzen und Berichten
erst auf die Idee zu solchen Geschäften gebracht?

 

Versteckspiel

Es ist etwas gewaltig schiefgelaufen. Normalerweise wäre Anne
Brorhilker in diesem Winter 2013 in der »verdeckten Phase« ihrer
Cum-Ex-Ermittlung. Sie würde sich in Ruhe in den Fall einarbeiten,
ohne dass die Verdächtigen es ahnen. Doch das Bundeszentralamt
für Steuern hat mit seinem Besuch im Herbst nicht nur die Staatsanwaltschaft
informiert, die oberste Steuerbehörde hat auch gleich
einige Verdächtige ins Bild gesetzt, dass ein Strafverfahren eingeleitet
werde. Das Überraschungsmoment ist komplett dahin. Stattdessen
hängen bei Brorhilker nun ständig die Rechtsanwälte der Beschuldigten
in der Leitung oder löchern sie mit E-Mails, um den
aktuellen Ermittlungsstand zu erfragen. Wie so etwas passieren
konnte, kann sich Brorhilker nur mit der Unerfahrenheit der Finanzbeamten
erklären.

Die Staatsanwältin muss Zeit gewinnen, unbedingt.
Denn es gibt zu viele Ungereimtheiten, die sie erst verstehen will,
bevor sie weitere Ermittlungsschritte unternimmt. Da ist zum Beispiel
dieses Steuergutachten. Die Unterlage stammt von einer beteiligten
Bank. Das Gutachten soll offenbar beweisen, dass Cum-Ex-
Geschäfte legal sind, dass die Beteiligten lediglich eine Gesetzeslücke
ausnutzen. Doch je mehr sich Brorhilker einliest, desto öfter
kommt ihr das Lieblingssprichwort ihres Vaters in den Sinn, dem erfahrenen
Wirtschaftsprüfer: There is no free lunch. Auf den Finanzmärkten,
so die Botschaft, gibt es nichts umsonst. Selbst wenn etwas
kostenlos erscheint, so gibt es immer jemanden, der den Preis dafür
zahlt – früher oder später. Der Gewinn des einen geht zu Lasten des
anderen. Was in dem Dokument umständlich ausgebreitet wird,
steht in einem geradezu grotesken Widerspruch zu dieser Regel.

Sie liest das Gutachten eines Steueranwalts namens Hanno Berger noch
einmal. Dutzende Seiten voller Bandwurmsätze und Paragrafenreihen.
Schon die Überschrift klingt so verlockend wie Karies im
Weisheitszahn: »Gutachten zur steuerlichen Bewertung einer Strategie
zur Ausnutzung von Marktineffizienzen beim Handel mit
Aktien über den Hauptversammlungsstichtag nach EStG / KStG.«
Gewinne, so stellt es dieser Hanno Berger dar, erwachsen bei Cum-
Ex-Geschäften aus »Marktineffizienzen«. Als würden sie vom Himmel
fallen. Irgendwie magisch, wie das Kaninchen aus dem Hut.
Die Fahnderin ist misstrauisch. Woher stammt der Gewinn dieser
Deals? Wer zahlt das Mittagessen? So sehr Brorhilker es auch
dreht und wendet, sie kommt immer zu dem gleichen Verdacht: Die
Cum-Ex-Geschäfte haben weniger mit dem geschickten Ausnutzen
ineffizienter Märkte zu tun, als mit der schlichten Möglichkeit, sich
in Deutschland eine Steuer erstatten zu lassen, die einem nicht zusteht
– oder die im schlimmsten Fall niemals jemand zuvor bezahlt hat.

Nur, wenn dem so wäre: Warum spricht dieser Hanno Berger
nebulös von »Marktineffizienzen«? Warum gibt ein Steueranwalt,
der laut einer kurzen Internetrecherche einer der renommiertesten
in Europa sein soll und früher sogar auf der Seite des Staates als wichtigster
Bankenprüfer in Frankfurt unterwegs war, seinen Namen für
derartig schwammige Gutachten her?
Hat der Anwalt des Drogeriemarkt-Milliardärs Erwin Müller, der
die Staatsanwaltschaft mit Informationen versorgt hat, Recht mit
seiner Vermutung, dass Hanno Berger Teil eines Netzwerks ist, das
es auf die deutsche Steuer abgesehen hat? Dass Hanno Berger & Co
möglicherweise sogar Millionensummen aus diesen Deals in die
eigene Tasche wandern ließen?

Brorhilker realisiert schnell: Mit einfachen Mitteln der Steuerfahndung
werden sich diese Fragen nicht klären lassen. So engagiert
einige der Finanzbeamten auch sind, ihnen fehlt die kriminalistische
Ausbildung. Und ihnen fehlen die Mittel. Steuerfahnder dürfen zwar
kritische Nachfragen stellen und Unterlagen einfordern, aber Banken
und ihre Berater schaffen meist eine makellos saubere Papierlage, die
jedwedes Misstrauen aus der Welt schaffen soll. Ein Paradebeispiel
liegt mit dem Berger-Gutachten womöglich gerade vor Brorhilkers
Nase. Es bleibt nur eines: Die Staatsanwältin muss hinter die spiegelglatten
Fassaden der Anwaltskanzleien, Banken und beteiligten Berater
blicken und sich Insiderinformationen verschaffen. Nur sie verraten,
welches Spiel hier tatsächlich gespielt wurde.

Mehr als 30 Beschuldigte, verteilt auf der ganzen Welt, in einem
einzigen Fall – das ist ein Klassiker für das Landeskriminalamt. Da
passt es bestens, dass Brorhilker bis vor Kurzem Seite an Seite mit
dem LKA gegen die Gerüstbau-Mafia gekämpft hat. Man kennt sich,
man schätzt sich, man kann sich aufeinander verlassen.
Im Winter 2013 ruft das Landeskriminalamt Düsseldorf, Dezernat
12, eine Ermittlungskommission ins Leben, tauft sie auf den
Namen »Tax«. Doch Kommission ist ein großes Wort für die kleine
Truppe. Neben dem Leiter der Gruppe gibt es nur drei Kriminalpolizisten,
die allerdings sehr erfahren sind, wenn es um Vernehmungen
und Durchsuchungen geht. Sie waren schon mehrfach in der Bankenwelt
unterwegs. Für sie ist es Routine, im Ausland um Hilfe zu
ersuchen. Alles Eigenschaften, die von Nutzen sein dürften.
Brorhilker und die Kripo-Spezialisten sind sich schnell einig.

Es nützt alles nichts, sie müssen die Büros, Wohnungen und Häuser
der Beschuldigten durchsuchen, jeden Stein dort zweimal umdrehen.
Wie sollen sie sonst dahinterkommen, was wirklich geschehen
ist? Ein großer Teil der dubiosen Geschäfte läuft im Ausland. In
gleich mehreren Ländern. Die Ermittler wissen: Eine solche Aktion
muss gut vorbereitet sein. Das braucht Zeit.

Zeit, die sich Brorhilker mit einem kleinen Trick verschaffen will,
genauer genommen, mit einer zulässigen »kriminalistischen List«,
die Ermittlern Fangfragen oder doppeldeutige Erklärungen erlaubt.
Dazu hat sie die beiden Cum-Ex-Anwälte, die im Auftrag ihrer verdächtigten
Mandanten am penetrantesten bei ihr anfragen, zu einem
Termin in Köln eingeladen, um mit ihnen über den aktuellen Stand
zu sprechen. Bevor der Besuch eintrifft, leiht sich die Strafverfolgerin
leere Kartons und dicke Aktenordner anderer Verfahren aus. Sie
stellt ihr ohnehin schon kleines Büro fast vollständig damit zu. Die
Bühne ist bereitet, Brorhilkers Rolle definiert: Sie will an diesem Tag
die naive, orientierungslose Staatsanwältin inmitten eines Aktenmeers
mimen. Der Besuch kann kommen.

Eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt zwängen sich in das
Büro. Zwei Besucherstühle stehen bereit, mehr hätten ohnehin
nicht Platz gefunden. Dass es in deutschen Beamtenstuben nicht so
prätentiös zugeht, wie in einer großen Kanzlei, ist klar. Aber diese
Enge? Die Anwälte kommen schnell zur Sache. Sie wollen das Treffen
nutzen, um ihre Sicht auf die Vorwürfe zu schildern. Brorhilker
wird an diesem Tag kaum etwas dagegenhalten, sie redet mit Verweis
auf ihr überquellendes Büro von einer unübersichtlichen Aktenlage,
noch zu lesenden Papieren, komplizierten Abläufen. Die zwei
Anwälte scheinen das zu schlucken. Doch die Besucherin macht
Brorhilker zunehmend nervös. Warum muss sie sich ausgerechnet
an die leeren Kartons an der Wand anlehnen? Die wackeln bedrohlich.
Stürzt der Turm ein, fällt auch die Fassade zusammen.
Aber der Stapel hält. Gerade noch. Und so können die Vorbereitungen
für die weltweite Razzia beginnen. In aller Stille.

 

 

 

 

 

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