Buchauszug Ex-PepsiCo-CEO Indra Nooyi: „Die Lektionen eines Lebens. Was ich über Arbeit, Familie und unsere Zukunft denke“

Buchauszug Ex-PepsiCo-CEO Indra Nooyi: „Die Lektionen eines Lebens. Was ich über Arbeit, Familie und unsere Zukunft denke“

 

(Foto: PR/Plassen)

 

Die globale Firmenzentrale von PepsiCo in Westchester County, New York, ist ein schickes, modernes Wahrzeichen – eine Gruppe von sieben blassgrauen Betongebäuden, die vom Architekten Edward Durell Stone entworfen wurden und in einem U mit drei Gartenhöfen angeordnet sind.

Der Bürokomplex liegt auf 168 Hektar grüner Rasenflächen mit gestutzten Hecken und Bäumen, einem großen Teich, Blumengärten, einem reflektierenden Wasserbecken mit Lilien, mit Eichen- und Birkenhainen und einem Weg namens Golden Path, alles entworfen vom britischen Designer Russell Page und später vom belgischen Landschaftskünstler Francois Goffinet erweitert. Monumentale Skulpturen von Auguste Rodin, Barbara Hepworth, Alberto Giacometti und einem Dutzend weiterer Meister des 19. und 20. Jahrhunderts zieren die Landschaft. Die Gärten sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Tausende von Besuchern und Schulkindern kommen, um die Kunst und die Pflanzenwelt zu betrachten.

Ich fuhr am 30. März 1994 zu PepsiCo, um meinen neuen Job anzutreten. Aber ich ging nicht über den Goldenen Pfad und näherte mich den Skulpturen erst 2014.

20 Jahre lang hatte ich einfach keine Zeit dafür. In diesen ersten Frühlingsmonaten lebte ich mich ein. Ich lernte mein Team und andere Abteilungsleiter kennen. Mein Chef, der liebenswürdige und disziplinierte Bob Dettmer, beantwortete Hunderte meiner Fragen über die Struktur, die Finanzen und die Prioritäten von PepsiCo. Ehrlich gesagt, verliebte ich mich sofort in diesen Ort. PepsiCo war so voller Optimismus und Vitalität. Das passte vom ersten Tag an zu meiner optimistischen Einstellung.

In gewisser Weise wusste ich nicht, was ich verpasst hatte. Ich hatte die Herausforderung bei ABB genossen, wo ich an wichtigen Infrastrukturprojekten arbeitete, deren Aufbau Jahre dauerte. Motorola hatte mir die Welt der Technologie eröffnet. Ich hatte meine Beraterkarriere geliebt, obwohl ich die Kundenunternehmen immer wieder verlassen hatte, bevor meine Ideen umgesetzt worden waren. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, das Geschäft zu sehen, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken. Unsere Marken waren vertraute Namen, unsere Kunden waren ganz normale Menschen, meine Kinder konnten mit dem Ganzen etwas anfangen. Tara versuchte einmal, einer jungen Mitschülerin meinen Job zu erklären – und vereinfachte es, indem sie sagte, dass ich bei KFC arbeite. „Das ist so cool!“, rief ihre Freundin aus. Mein Job war absolut nachvollziehbar.

PepsiCo war sehr anspruchsvoll, sympathisch und eine Freude. Ich war begeistert und völlig entzückt.

Pepsi-Cola, das Erfrischungsgetränk, war ursprünglich 1898 von einem Apotheker in North Carolina namens Caleb Bradham erfunden worden. In den 1930er-Jahren, nach einigen Konkursen, trat das Unternehmen Pepsi-Cola mit einem Radiowerbespot gegen den Marktführer Coca-Cola an: „Pepsi-Cola hits the spot, twelve full ounces, that’s a lot. Twice as much, for a nickel too. Pepsi-Cola is the drink for you.“ („Pepsi-Cola kommt gut an, volle zwölf Unzen, das ist ’ne Menge. Doppelt so viel, auch für einen Nickel. Pepsi-Cola ist das Getränk für Sie.“

Die Marketingkriege begannen. 1963 wurde in einer Werbekampagne, die den gesamten Pepsi-Lebensstil zelebrierte, mit Bildern heiterer Jugendlicher die „Pepsi-Generation“ ausgerufen. Als Coca-Cola mit seiner eigenen Imagekampagne zu Pepsi aufschloss, konterte Pepsi mit der „Pepsi Challenge“, Becher-an-Becher-Blindverkostungen in Geschäften und Einkaufszentren, die Pepsi, das etwas süßer war als Coca-Cola, in der Regel gewann.

Dann, Ende 1983, ein weiterer Coup: ein 5-Millionen-Dollar-Vertrag mit Michael Jackson und den Jackson 5, die erste Welle superstarker Prominentenwerbung, die bis heute Pepsi und Diät-Pepsi mit Britney Spears, Beyoncé, den Spice Girls, David Bowie, Tina Turner, Shakira, Kylie Minogue, David

Beckham, Sachin Tendulkar und Dutzenden weiterer Topstars aus aller Welt in Verbindung gebracht hat.

Pepsi wurde auch zu einem Symbol im Kalten Krieg. Nikita Chruschtschow nippte 1959 bei einer Ausstellung amerikanischer Innovationen in Moskau an der Limonade, und Don Kendall, der 23 Jahre lang CEO war, erhielt später einen Cola-Vertrag, der die Abfüllung in der UdSSR ermöglichte. Pepsi wurde als das erste kapitalistische Produkt gefeiert, das in der Sowjetunion verkauft wurde.

Im Jahr 1994 war PepsiCo das fünfzehntgrößte US-Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 25 Milliarden Dollar. Das Unternehmen verkaufte Getränke und Lebensmittel in mehr als 150 Ländern und beschäftigte 450.000 Mitarbeiter. In den Werbekampagnen für Pepsi und Diät-Pepsi waren inzwischen Shaquille O’Neal und Ray Charles zu sehen. Das Fotomodell Cindy Crawford war auf dem Titelblatt des damaligen Geschäftsberichts zu sehen, wie sie unsere Finanzwerte studierte, mit der Bildunterschrift: „Ein typischer Investor inspiziert uns.“

Strukturell war das Unternehmen ein dreibeiniger Hocker. Ein Bein waren die Getränke, darunter Pepsi-Cola, Diät-Pepsi, Mountain Dew, Mug Root Beer und seit Kurzem auch Joint Ventures mit Starbucks und Lipton für Kaffee- und Teegetränke in Flaschen. Der Umsatz der Sparte betrug fast 9 Milliarden Dollar.

Ein zweites Standbein waren Snacks mit einem Umsatz von 7 Milliarden Dollar. Dazu gehörten die Kartoffelchips Lay’s, Fritos, Doritos, Cheetos, Tostitos, Rold Gold Brezeln, SunChips und Smartfood. Wir stellten Sabritas in Mexiko, Matutano in Spanien und Smith’s und Walkers im Vereinigten Königreich her. Frito-Lay, der US-Zweig des Snackgeschäfts, hatte seinen Sitz in Plano, Texas.

Pepsi-Cola, der ursprüngliche Limonadenhersteller, und Frito-Lay, ein in Dallas ansässiger Chipshersteller, hatten sich drei Jahrzehnte zuvor zusammengetan, um den Kerngedanken von PepsiCo zu etablieren – dass salzige Snacks ein Getränk brauchen, um sie herunterzuspülen. Beides sind schnell drehende Produkte, die geradezu aus den Regalen fliegen und häufig nachgefüllt werden müssen. Der Zusammenschluss führte zu wesentlichen Effizienzsteigerungen bei Verkauf und Vertrieb und belebte das Geschäft außerhalb der USA erheblich.

Das dritte Standbein des Unternehmens im Jahr 1994 waren Restaurants. PepsiCo hatte in den späten 1970er-Jahren die Fast-Food-Ketten Pizza Hut und Taco Bell gekauft, und ein paar Jahre später war Kentucky Fried Chicken hinzugekommen, das in KFC umbenannt wurde. Wir besaßen Casual-Dining-Marken wie California Pizza Kitchen und East Side Mario’s sowie ein Food-Service-Unternehmen, das alle Ketten belieferte. Das Unternehmen betrieb weltweit 28.000 Restaurants (zum Teil als Franchisegeber) und servierte mehr als sechs Milliarden Mahlzeiten pro Jahr. Der Umsatz der Restaurantabteilung belief sich auf etwa 9 Milliarden Dollar.

Dutzende weiterer Betriebe und Aktivitäten machten das alles möglich – Saatgutfarmen, ein Netz von Vertragsbauern für den Kartoffelanbau, Forschung und Entwicklung und Testküchen, ein Direktvertriebssystem (DSD), das mit Tausenden von Lastwagen und Vertriebszentren bereits zu den größten der Welt gehörte. Das Verkaufspersonal des Unternehmens mit etwa 25.000 Mitarbeitern kümmerte sich um die Beziehungen zu den Kunden – vom CEO von Wal-Mart bis hin zu den einzelnen Managern jedes 7-Eleven oder unabhängigen Tante-Emma-Ladens. Es war alles sehr komplex und koordiniert.

Wayne Calloway, der große, rothaarige CEO, war genau die lakonische Führungspersönlichkeit, die ich bei meinem Vorstellungsgespräch kennengelernt hatte. Aber er war auch ein harter Konkurrent, ein ehemaliger College-Basketballspieler, der Harley-Davidson-Motorräder fuhr. Er hatte in der US-Armee gedient, bevor er bei Frito-Lay als Verkäufer anfing. PepsiCo war als Talentschmiede bekannt,

in der aufstrebende Führungskräfte schwierige Aufgaben übernahmen und entweder untergingen und das Unternehmen verließen oder schwammen und aufstiegen. Wayne konzentrierte sich auf die Einstellung und Entwicklung von Mitarbeitern. Er war entschlossen, den Umsatz alle fünf Jahre zu verdoppeln. Bis dahin war er erfolgreich.

Wayne war der Meinung, dass PepsiCo mich mehr brauchte, als GE mich brauchte. Er war clever. Ich verfügte über eine seltene internationale Perspektive und Erfahrung, die ihm helfen würden, seinen Gewinn zu steigern. Ich glaube, er spürte auch, dass eine Frau in seiner Führungsriege längst überfällig war.

15 der 15 höchsten Stellen bei PepsiCo waren mit weißen amerikanischen Männern besetzt, als ich eintrat. Fast alle trugen blaue oder graue Anzüge mit weißen Hemden und Seidenkrawatten und hatten kurzes Haar oder gar keine Haare. Sie tranken Pepsi, Mixgetränke und Likör. Die meisten von ihnen spielten Golf, angelten, spielten Tennis, wanderten und joggten. Einige jagten gemeinsam Wachteln. Viele waren verheiratet und hatten Kinder. Ich glaube nicht, dass eine ihrer Ehefrauen einer bezahlten Arbeit außerhalb ihres Hauses nachging.

Ich führe diese Merkmale nicht im Einzelnen auf, um mich speziell auf diese Männer zu konzentrieren. Meine Kollegen waren klug, kreativ, engagiert und schulterten eine enorme Verantwortung und Belastung. Sie liebten das Unternehmen, das sie aufbauten. Tatsache ist, dass die Führung von PepsiCo 1994 fast alle Führungsetagen in amerikanischen Unternehmen widerspiegelte. Selbst die fähigsten Frauen tummelten sich noch im mittleren Management. Die Zahl der weiblichen CEOs unter den fünfhundert größten Unternehmen lag in jenem Jahr bei null.

Männer dieser Art hatten in der US-Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg großen Erfolg, weil sie sogenannte ideale Arbeitskräfte sein konnten. In einer Gesellschaft, die auf Einverdienerfamilien mit einer weiblichen „Hausfrau“ und einem männlichen „Ernährer“ ausgerichtet war, waren die Männer in der Tat die idealen Arbeitskräfte für Unternehmen. Sie waren nach einem festen Zeitplan und ohne Störgeräusche zu bestimmten Zeiten voll verfügbar. In der Regel war das montags bis freitags von neun bis fünf Uhr, aber in den boomenden gewerkschaftlich organisierten Produktionsstätten des Landes variierten die Schichtzeiten.

Die Männer, die auf der Karriereleiter nach oben kletterten und nach größeren Titeln, Gehältern, Aktienoptionen und Vorstandssitzen strebten, konnten mehr arbeiten, mehr reisen, abends lernen und sich stundenlang mit Kunden, Konkurrenten und Freunden treffen. Sie waren flexibel, weil die Frauen sich um die Hausarbeit kümmerten. Außerdem konnten sie ihre Sachen packen und mit ihren Frauen und Kindern dorthin gehen, wo das Unternehmen sie brauchte. Die Gesellschaft ebnete diesen Männern den Weg zu Geld und Einfluss in Unternehmen, in der Regierung und in globalen Angelegenheiten. Alle anderen unterstützten sie.

Als ich in die Chefetage von PepsiCo kam, vermutete niemand, dass man ein engagierter Elternteil ist, oder eine gute Mutter und Ehefrau. Lehrer, Ärzte, Zahnärzte, Lebensmittel, Kleidung, Kochen, Putzen, Wäschewaschen, Hausdekoration, Gartenarbeit, Hausgäste, Geburtstage, Feiertage und Urlaube waren einfach nicht ihr Gebiet. Vielleicht kümmerten sie sich – etwas – um die emotionale Gesundheit, den schulischen Erfolg und das allgemeine gute Benehmen ihrer Kinder.

Selbst wenn sie sich für diese Dinge interessierten, hatten diese Burschen einfach keine Zeit.

Wichtig war, dass die Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, einander nicht danach beurteilten, wie sie ihr Berufs- und Familienleben miteinander vereinbarten. Sie waren sehr wettbewerbsorientiert, aber auch fürsorglich und unterstützten sich gegenseitig in Krisenzeiten wie Scheidung, Krankheit oder bei Problemen mit ihren Kindern.

All das ging mir nicht durch den Kopf, als ich sie traf. Ich war mir sehr bewusst, dass ich eine Außenseiterin war: Ich war immer noch das 18-jährige Mädchen am IIM Kalkutta, die indische Einwanderin im Polyesteranzug in Yale, die werdende Mutter und Vegetarierin in La Crosse, Wisconsin. Bei BCG war ich in vielen Branchen tätig gewesen, aber ich hatte nie einen weiblichen Kunden getroffen. Ich fand es nicht seltsam, in Sitzungen mit Dutzenden von Männern und keiner anderen Frau zu sitzen. Bei Motorola und ABB hatte meine Welt aus Ingenieuren, Wissenschaftlern, Robotern und Maschinen bestanden. Ich hatte nie eine enge weibliche Kollegin mit einem Job wie dem meinen gehabt, und ich hatte auch noch nie eine Frau am Arbeitsplatz gesehen, die ranghöher war als ich.

Als ich bei PepsiCo ankam, wurde ich herzlich empfangen. Mein neues Büro befand sich im begehrten „4/3“ – der Spitzname des Unternehmens für das Gebäude 4, Stockwerk 3 –, auf dem Flur des CEO und der anderen Top-Führungskräfte, und es hatte fünf große Fenster, ein Zeichen von Status im informellen Regelwerk des Unternehmens.

Mir wurde ein angemessenes Budget für die Einrichtung meines Büros zur Verfügung gestellt, das ich jedoch nicht vollständig ausschöpfte. Ich entschied mich für eine zweckmäßige Kommode aus Kirschholzfurnier und einen Schreibtisch, der in einer flachen Box geliefert wurde, einen Konferenztisch mit sechs Stühlen, eine weiße Tafel und ein Flipchart.

Im Juni, etwa drei Monate nach meinem Einzug, war 4/3 in Aufruhr. Pizza Hut USA, mit 5.100 Restaurants, sagte, dass es wahrscheinlich die Gewinnschätzungen für das zweite Quartal verfehlen würde und dass die Aussichten für den Rest des Jahres pessimistisch seien. Die Ergebnisse von Taco Bell, KFC und einigen anderen unserer Imbissketten sahen ebenfalls wackelig aus.

Das Verfehlen der Gewinnprognose war eine schwere Krise: Die PepsiCo-Aktien würden wahrscheinlich fallen, und das taten sie auch. Nach Bekanntwerden der Nachricht stürzten die Aktien um 15 Prozent ab, und es wurden an diesem Tag dreimal so viele Aktien gehandelt wie üblich. Wayne handelte schnell. Innerhalb weniger Tage schuf er eine neue Position – CEO der Restaurants weltweit – und überzeugte Roger Enrico, einen erfahrenen PepsiCo-Veteranen, der sich von einem Herzinfarkt erholt hatte, diese Aufgabe zu übernehmen.

Ich traf Roger später in dieser Woche, als er mein Büro betrat. Er lächelte nicht. „Hallo, ich bin Roger Enrico“, sagte er. „Normalerweise hätte ich den neuen Leiter der Strategieabteilung interviewt. Sie sind die erste, die ohne mein Zutun eingestellt wurde.“

„Hallo, Roger“, sagte ich fröhlich. „Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, Sie kennenzulernen.“

„Ich muss alles über das Restaurantgeschäft wissen und darüber, was genau in unseren Restaurants vor sich geht“, sagte er. „Ich sehe Sie in zehn Tagen in Dallas. Sie sind jetzt mein Chefstratege. Dettmer hat es genehmigt.“

Das war das ganze Gespräch. Er ging.

Jetzt hatte ich also meine ursprüngliche Aufgabe in der Unternehmensstrategie und -planung, die Bob unterstellt war, und eine zweite Aufgabe als Chefstratege der Restaurantgruppe, die Roger unterstellt war. Meine Arbeit sollte sich verdoppeln, über mein Gehalt wurde nicht gesprochen.

Roger Enrico war ein großartiger Chef und Denker, der zwei Jahre später CEO von PepsiCo wurde. Er war in den Eisenminen im Norden Minnesotas aufgewachsen, hatte im Vietnamkrieg gekämpft und war 1971 zu Frito-Lay gekommen, um bei der Vermarktung von Funyuns, den Zwiebelringen aus Mais, zu helfen. 20 Jahre später arbeitete er in Japan und Südamerika, leitete die Pepsi-Cola-Getränkesparte und managte eine umfassende Umstrukturierung von Frito-Lay. Rogers bevorzugter Ansatz und wofür er bei PepsiCo berühmt war, war, dass er große Veränderungen an großen Dingen vornahm.

Rogers Tage begannen um zehn Uhr, und er weigerte sich, nach neun Uhr abends irgendetwas zu lesen, das mit dem Geschäft zu tun hatte. Er hatte schöne Häuser in Montana, Dallas und auf den Cayman Islands und verbrachte die Wochenenden in dem einen oder anderen, ging fliegenfischen, ritt, tauchte, spielte Golf oder besuchte Museen. Er war gerissen und politisch, und viele Leute hielten ihn für schroff und abweisend. Aber im Grunde seines Herzens war er ein Showman. Es war seine Idee, Michael Jackson und seine Brüder Anfang der 1980er-Jahre als Werbeträger für Pepsi zu gewinnen, und als diese Kampagne unseren Marktanteil steigerte, strauchelte Coca-Cola, indem es sein Rezept in New Coke änderte. Roger schrieb ein Buch mit dem Titel „The Other Guy Blinked“, in dem er den Sieg in den Cola-Kriegen erklärte.

Jetzt sprach Roger über Restaurants, weil dieser Teil des gesamten PepsiCo-Geschäfts plötzlich und überraschend ins Wanken geraten war. Das Problem war, dass das Geschäft mit Schnellrestaurants (QSRs = quick-service restaurants) gesättigt war. Einfach ausgedrückt: Jedes neue Restaurant, das eröffnet wurde, fraß sich in das Geschäft der anderen. Aber PepsiCo konnte nicht aufhören, zu expandieren, weil unsere Konkurrenten weiter expandierten. Wenn wir zum Beispiel keine Pizza-Hut-Filiale in einem neuen Einkaufszentrum eröffneten, würde wahrscheinlich Domino’s Pizza oder ein anderes Restaurantkonzept den Platz einnehmen. So oder so würden die Pizza-Hut-Restaurants und andere QSRs in der Nachbarschaft leiden.

Dieses Dilemma machte sich in den Zahlen bemerkbar, auch wenn wir noch nicht alles herausgefunden hatten. Das Geschäft war riesig und sehr komplex. Es umfasste Immobilien, Franchisenehmer, Dine-in-Betriebe, Lieferdienste, Drive-ins, komplizierte Initiativen zur Anwerbung von Mitarbeitern, Lebensmittelsicherheitssysteme, Marketing und, und, und.

An dem Tag, an dem Roger sich so unvermittelt vorstellte, wusste ich fast nichts über Restaurants. Aber ich wollte beweisen, dass ich jede Herausforderung meistern konnte, die er mir stellte. In den nächsten anderthalb Wochen arbeitete mein siebenköpfiges Restaurantstrategieteam rund um die Uhr, um sich auf unser Treffen in Dallas vorzubereiten.

Die Präsentation – ein paar Dutzend Folien und Diagramme, die in dem großen Sitzungssaal neben Rogers Büro präsentiert wurden – war eine detaillierte Analyse, die die Werttreiber des Geschäfts darlegte, PepsiCos Restaurantgeschichte der letzten fünf Jahre analysierte und die Zukunftsaussichten betrachtete. Wir schlossen mit einer Liste von Fragen, die sofortiger Antworten bedurften. Roger war beeindruckt, aber er sagte nicht viel. Er hielt nichts von Komplimenten. Mein Team kehrte nach New York zurück, und kurz darauf rief mich seine Sekretärin an und bat mich, ihn am folgenden Montag um elf Uhr im privaten Flugzeughangar in Atlanta zu treffen. Ich versuchte, ein paar Einzelheiten aus ihr herauszubekommen, aber sie konnte nichts sagen. Sie schlug mir vor, für drei oder vier Tage zu packen.

Ich füllte noch einmal meinen Kleidersack und meine Aktentasche, flog mit Delta Air Lines nach Atlanta und fand den Weg zu den Stellplätzen der Firmenflugzeuge. Roger kam mit einem Challenger-Jet von PepsiCo an. Wir stiegen in ein Auto mit Fahrer und hielten zehn Minuten später an jedem QSR an einer belebten Handelsstraße in der Nähe des Flughafens an. Wir gingen in das Restaurant, und Roger bestellte etwas, holte das Essen, schaute es sich an, probierte vielleicht ein bisschen, warf es weg und stieg wieder ins Auto. Als jemand, der damit aufgewachsen ist, nie Essen zu verschwenden, war ich über diese Herangehensweise bei der Probenahme ein wenig entsetzt. Ich behielt meine Meinung für mich.

Nach vier Stopps wandte er sich an mich und fragte: „Und, was sagt die Wertungsliste?“ Ich war sichtlich verwirrt. „Was glauben Sie, was wir hier tun?“, rief er aus. „Das ist eine Marktbesichtigung! Wir müssen das Geschäft von Grund auf verstehen!“ Er stieg aus dem Auto aus, um eine Pause zu machen.

Ich rief schnell Richard Goodman, den Finanzchef von Taco Bell, an, den ich kaum kannte, und erklärte ihm die Situation. Richard wies mich freundlich darauf hin, die Bestellzeiten, die Wartezeiten, die Temperatur der Speisen, die Sauberkeit, die Personalausstattung im hinteren und vorderen Bereich und alle anderen Variablen zu erfassen, die sich auf das Kundenerlebnis auswirken könnten. Anhand dieser Angaben entwarf ich eine Wertungsliste auf einem Blatt Papier. Für den Rest des Tages bewertete ich alle Kriterien, die mir einfielen, auf einer Skala von 1 bis 5. Dies war meine erste Erfahrung mit der PepsiCo-Kultur „Untergehen oder Schwimmen“. Ich bin nicht untergegangen.

Gegen fünf Uhr nachmittags gingen wir zurück zum PepsiCo-Flugzeug und flogen nach Chicago. Am nächsten Tag besuchten wir wieder Fast-Casual-Restaurants wie Olive Garden, California Pizza Kitchen und Cracker Barrel – wir bestellten, gingen und bewerteten. Am dritten Tag machten wir das Ganze in einem Vorort von Washington, D.C. Ich gewöhnte mich an diesen Erkundungsprozess und begann, ihn zu genießen.

Als Roger und ich zum Westchester County Airport zurückflogen, schlug ich zufällig die Lokalzeitung auf und stieß auf die astrologische Prognose. Ich bin Skorpion. In meinem Horoskop stand: „Heute werden Sie mit jemandem reisen, der sehr schwierig ist und in den nächsten Jahren ein wichtiger Teil Ihres Lebens sein wird.“ Das war Roger auf den Punkt gebracht. Ich kreiste es ein und gab es ihm. Er las es, reichte es mir lächelnd zurück und bemerkte: „Ich bin auch Skorpion!“

Unser dreitägiger Fast-Food-Streifzug festigte meine Beziehung zu Roger für die kommenden Jahre. Wir sprachen auf dieser Reise kaum miteinander, aber er merkte, dass ich genauso neugierig auf die betrieblichen Details war wie auf die umfassende Sicht. Wir wussten beide, dass er unter Druck stand und das Geschäft selbst kennenlernen musste.

In den nächsten Monaten erarbeiteten Roger und ich gemeinsam, was die besten Restaurants des Systems ausmachte. Die Antwort, so fanden wir heraus, war, dass die Gäste Aufmerksamkeit auf einer sehr persönlichen Ebene brauchen. Gastronomen auf Lebenszeit, die ihre Arbeit liebten, neigten dazu, für ihre eigenen Märkte Neuerungen einzuführen, mit lokalen Werbeaktionen und anderen Anreizen. Ihre Lokale waren sauberer, fröhlicher und beliebter. Die Manager mochten die Menschen und behandelten jeden Kunden wie Familie. PepsiCo war ein Unternehmen für abgepackte Ware, das dieses sehr berührungsintensive Geschäft auf eine unpersönliche Art und Weise anging. Wir waren gut im Hinzufügen von Einheiten, im Einstellen und im Entwickeln von Menüpunkten, und solange das Restaurantgeschäft auf diese Weise wuchs, schnitten wir gut ab. Als wir jedoch mehr Umsatz von bestehenden Restaurants erzielen mussten, hatten wir Schwierigkeiten. Wir waren nicht so gut, wie wir es hätten sein müssen, was den „Berührungs“-Teil angeht.

In einem mutigen Schritt fuhr Roger den Bau neuer Restaurants zurück und übertrug bestehende Standorte aller unserer QSR-Marken an unsere besten Betreiber. Dies verbesserte sofort unseren Cashflow und die Kapitalrendite. Da die Franchisenehmer die Restaurants besser führten, begannen die Umsätze und Erträge zu steigen. Roger wurde als Held betrachtet. In diesem Prozess lernte ich unheimlich viel über das Dienstleistungsgeschäft und wie sehr es sich von einem Unternehmen für abgepackte Ware unterschied. Außerdem machte ich meine erste richtige Erfahrung an der Front und musste Investoren Rede und Antwort stehen. Roger drängte mich dazu, mit den Wall-Street-Analysten zu sprechen, die PepsiCo betreuten – es waren Dutzende –, und es machte mir Spaß, sie kennenzulernen. Ich hielt sie für klug und gut informiert über das gesamte Geschäftsmodell, auch wenn es ihnen überraschenderweise an operativem Wissen mangelte, da sie sich nie wirklich intensiv mit den Feinheiten dessen befassten, was den Umsatz oder den Wettbewerb antrieb.

Anfang 1995 reichte PepsiCo seinen Jahresbericht 10-K ein, den detaillierten Bericht über unsere Ertragslage für die US-Börsenaufsichtsbehörde (Securities and Exchange Commission). Unter „Executive Officers“ stand mein Name: Indra K. Nooyi, 39 Jahre. Ich war nervös und stolz darauf, auf dieser Liste zu stehen. Ich erinnere mich, dass mir die Verantwortung, die mit dem Job verbunden war, beim Anblick dieser Liste erst richtig bewusst wurde.

 

Buchauszug Ex-PepsiCo-CEO Indra Nooyi: „Die Lektionen eines Lebens. Was ich über Arbeit, Familie und unsere Zukunft denke“, Plassen, 352 Seiten, 24,90 Euro

 

 

 

 

 

 

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