Buchauszug Bodo Janssen: „Das neue Führen. Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit“

Buchauszug Bodo Janssen: „Das neue Führen. Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit“

 

Bodo Janssen (Foto: PR/Ariston)

 

Bewusstsein schaffen

 

Neue Arbeit

Stell dir vor, du gehst zur Arbeit und wirst gesund

 

In dem Film Die stille Revolution formuliert Frithjof Bergmann, Philosoph und Begründer der New-Work-Bewegung, folgende Anforderungen an die Zukunft der Arbeitswelt: »So wie wir die Welt sehen, braucht die Welt eine Vielzahl von Zentren neuer Arbeit! In denen Menschen den Willen und auch die Ausbildung haben, um andere dabei zu unterstützen, eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Was ist das, was ich auf dieser Erde wirklich, wirklich will. Wirklich, wirklich wollen hieße etwas ganz anderes als die Jobarbeit. Das genaue Gegenteil von Jobarbeit. Nicht Arbeit, die wir als milde Krankheit erleben, und ich würde sagen, fast jede Jobarbeit ist wie eine milde Krankheit. Nicht Krebs, sondern so etwas wie eine Erkältung, von der man sagt, von Mittwoch bis Freitag halte ich das schon aus. Und das ist ja auch das, was man über die Arbeit sagt, von Mittwoch bis Freitag halte ich das schon irgendwie bis zum Ruhestand aus … Die Zukunft der Gesellschaft wird eine sein, in der alles alles stärkt! Vom Kindergarten an. Stärkt Menschen! Das ist das, was wir brauchen!«

 

Mit Blick auf die Intention des am 23. Mai 2021 verstorbenen Philosophen geht es bei New Work um wesentlich mehr als das, was viele Führungskräfte, Berater und Personalentwickler in die Bewegung hineininterpretiert haben, etwa Scrum, Agility, flexible Arbeitszeiten, transparente Gehälter oder eine Vier-Tage-Woche. Bergmann verstand Führung und Arbeit als etwas, was mir dabei helfen soll, herauszufinden, was ich im Leben wirklich will. Eine Methode wie Scrum (engl. für »Gedränge«), die für Projektmanagement steht, hat nichts mit New Work im ursprünglichen Sinn zu tun, solange sie dafür genutzt wird, um die Produktentwicklungen effizienter zu gestalten.

 

Das Gleiche gilt für Agility. Wird agiles Arbeiten nur dazu verwendet, Umsetzungsprojekte durch kürzere Entwicklungsprozesse kostengünstiger zu gestalten, haben die Auftraggeber ihre Berater, Coaches und Trainer einzig vor den Karren der Gewinnmaximierung, Transformationsbeschleunigung oder Marktbehauptung gespannt. All das ist okay, aber es hat dann nicht mehr viel mit den Beweggründen des New-Work-Gründers zu tun. Denn wenn hinter flexiblen Arbeitszeiten, einer Vier-Tage- Woche oder der Zurverfügungstellung von firmeneigenen Workation-Angeboten, bei denen ortsunabhängig gearbeitet werden kann, das Motiv steht, Mitarbeiter zufriedener zu machen und sie an das Unternehmen zu binden, so hat das genauso wenig mit dem ursprünglichen Geist von New Work zu tun und fällt wohl eher in die Kategorie: »Glückliche Kühe geben mehr Milch!«

 

New Work beschreibt Arbeit als Mittel zum Zweck dafür, Selbsterkenntnis zu erlangen. Doch die von vielen Beratern als New Work verkauften Methoden und Instrumente erfüllen maximal den Anspruch eines zeitgemäßen Managements, nicht aber den an die Stärkung des Menschen an sich, so wie Bergmann es vertrat. Denn wenn es darum geht, herauszufinden, was ich wirklich will, führt kein Weg an der Selbsterkenntnis vorbei. Und erst die Erkenntnis darüber, wer ich bin und was zu meinem Leben passt, kann tatsächlich zu größerer Zufriedenheit und Produktivität führen. Alles andere kratzt nur an der Oberfläche. Tiefergehender und nachhaltiger wird es, wenn wir die Zeit unserer Arbeit auch als Möglichkeit verstehen, herauszubekommen, wer wir sind, was wir können und was wir tatsächlich wollen.

 

Berufung ist das, was mir meine innere Stimme zuruft

Aristoteles meinte: »Wo sich deine Talente mit den Bedürfnissen der Welt kreuzen, dort liegt deine Berufung.« In diesem Sinn hat Berufung nichts Elitäres, sondern etwas, das auf jeden Menschen zutrifft. Und wenn ich auf den nunmehr seit über zwölf Jahren andauernden Upstalsboom-Weg schaue, beschreibt dieser den vom Beruf zur Berufung. Das ist das, worum es bei uns im Unternehmen seit 2011 geht. Berufung oder das Gefühl, sich zu etwas berufen zu fühlen, ist jedoch nichts, was ich mir als Antwort im Kopf zurechtlegen kann, sondern es entsteht aus einer Erfahrung heraus, die ich mache, indem ich etwas tue und ausprobiere. Und irgendwann macht es klick – und es entsteht ein Gefühl, das nur entstehen kann, wenn sich Kopf, Herz und Bauch im Einklang befinden und über das ich dann denke: Wow, das fühlt sich gerade an wie die Antwort auf eine Frage, die ich mir ein Leben lang gestellt habe. In diesem Moment bin ich im Flow, beschrieben wurde dies von dem ungarischen Psychologen Mihály Csíkszentmihályi. Das Flow- Erleben schenkt mir Energie, anstatt dass es mich Energie kostet.

 

Bodo Janssen: „Das neue Führen. Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit“. Ariston Verlag, 224 Seiten, 23,– Euro

 

 

(Sinn-)Erfahrungsort Unternehmen

Was uns vor der »milden Krankheit«, wie Frithjof Bergmann es nannte, bewahrt, ist das Bewusstsein, dass Arbeit nicht nur dazu dient, Geld zu verdienen (das wäre für ihn die Jobarbeit), sondern auch dazu, uns selbst kennenzulernen und das, was uns wichtig ist, zu verwirklichen. Gerade bei Mitarbeitern jüngerer Generationen erlebe ich, dass sie nicht mehr bereit sind, den Großteil ihres Lebens darauf zu verwenden, Geld zu verdienen. Ihnen kommt es darauf an, etwas Sinnvolles zu tun. Nicht Geldeinheiten, sondern Einheiten sinnvoller Arbeit sind die Währung, in der viele jüngere Menschen rechnen. Und wenn ein Unternehmen ihnen nichts Sinnvolles anzubieten hat, versuchen sie die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das, was sie wirklich wollen, in ihrer Freizeit möglich wird. Und so wunderte es mich überhaupt nicht, als mich vor drei Jahren im Rahmen einer meiner Klosterkurse ein Unternehmer voller Verzweiflung ansprach: »Bodo, was mach ich denn bloß, wenn ich Mitarbeiter nicht mehr mit Geld dazu motivieren kann, in mein Unternehmen zu kommen und zu bleiben und ein paar Überstunden zu übernehmen. Die Aufträge müssen doch abgearbeitet werden. Und ich wäre bereit, diesen Menschen viel Geld zu zahlen.«

 

»Gerd«, erwiderte ich, »ein guter Freund und Gleichgesinnter, Oliver Haas, sagte mir einmal: ›Über 150 Jahre lang dachten wir, wir können Menschen kaufen, damit sie das machen, was wir wollen. Aber die Zeiten sind vorbei.‹ Und das bringt es auf den Punkt. Denn die jüngeren Generationen, aber nicht nur die jüngeren, haben im Vergleich zu ihren Eltern völlig andere Voraussetzungen, mit denen sie ins Leben starten. Wenn die Großeltern und Eltern vielleicht darauf angewiesen waren, Geld zu verdienen, um zu überleben oder sich ein Leben aufzubauen, ist bei den jüngeren Generationen tendenziell etwas mehr Geld vorhanden. Ihnen ist die Freizeit wichtiger, und die Arbeit dient vielleicht nur noch als Mittel zum Zweck, um in der Freizeit das tun zu können, was für sie Bedeutung hat. Sie wollen nicht mehr vierzig Stunden arbeiten, zweiunddreißig Stunden tun es auch. Oder vielleicht nur zwanzig Stunden? Sie lassen sich immer weniger mit Geld ködern. Sie haben geerbt. Ein Haus oder eine Wohnung. Und das wird in Zukunft tendenziell häufiger vorkommen. Das betrifft aber nicht nur die ganz junge Generation. Ich erlebe verstärkt Menschen in meinem Alter, die für ein paar Euro mehr nicht ›ihr Leben‹ opfern wollen.«

 

In einer unserer internen Schulungen fragte mich ein Teilnehmer, ob es denn nicht der totale Luxus sei, dass wir uns hier mit dem Sinn des Lebens beschäftigen. Ich antwortete: »Das ist eine Sichtweise. Eine andere Sichtweise könnte sein: Gerade weil wir den Luxus haben, müssen wir uns mit dem Sinn (unseres Lebens) beschäftigen.«

 

Wenn ich an meine Aufenthalte in Ruanda zurückdenke, wo wir vom Unternehmen aus viele Projekte gestartet haben, kann ich mich nicht daran erinnern, dass sich auch nur einer der Einheimischen auf eine Art und Weise mit dem Sinn seines Lebens beschäftigt hat, wie wir es hier tun. Was ich dort erlebt habe, war, dass der Sinn des Lebens im Leben an sich besteht. Dass der Sinn der Menschen dort darin existiert, trotz der zum Teil sehr widrigen Umstände gut durch den Tag zu kommen. Doch sobald der Sinn unseres Lebens nicht mehr in dem gesehen wird, unsere Grundbedürfnisse decken zu müssen, brauchen wir etwas Neues, anderes, vielleicht Größeres, wofür es sich einzusetzen lohnt. Und das betrifft in unserer westlichen Welt nicht nur vermehrt Mittvierziger, die sich ihren Lebensunterhalt weitestgehend verdient oder etwas geerbt haben, nicht nur diejenigen, die im Rahmen ihrer Midlife-Crisis alles noch einmal infrage stellen, sondern auch die jungen Leute. Und das ist eine Tendenz, die wir schon seit Jahren verstärkt wahrnehmen: Dass immer mehr Menschen weniger in Geldeinheiten und mehr in Einheiten sinnvoller Arbeit denken.

 

Was für uns vor zehn Jahren zwar nicht absehbar war, uns aber im Nachhinein doch geholfen hat, war, dass wir mit der Entscheidung, das Unternehmen als Mittel zum Zweck dafür zu nutzen, Menschen zu stärken, auch damit begonnen haben, eine unternehmenseigene Infrastruktur aufzubauen, die den Mitarbeitern das bietet, wonach sich heute viele sehnen. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, sich mit dem Sinn ihres Lebens zu befassen, sondern ebenso mit dem, was sie für sich Sinnvolles entdeckt haben, um es bei uns im Unternehmen dann tatsächlich zu verwirklichen.

 

Und so haben wir im Spannungsfeld von Spiritualität und Wissenschaft Angebote geschaffen, die Menschen dabei unterstützen, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Vom Upstalsboom Curriculum über »Tour-des-Lebens«-Projekte (auf den Kilimandscharo, nach Ruanda oder Spitzbergen), Klosterseminare, Corporate Happiness bis hin zu Coaching- Ausbildungen, Systemaufstellungen, der Logotherapie nach Viktor Frankl oder dem Präventorium, dem unternehmenseigenen Gesundheitssystem, finden unsere Mitarbeiter ein dichtes Angebot, um sich besser kennenzulernen und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens für sich gut beantworten zu können. Und das kostenlos und in einer Qualität, dass diese über Jahre geschaffenen Möglichkeiten einer fundierten Persönlichkeitsentwicklung offenbar als eine sinnvolle Alternative oder Ergänzung zum Euro-Verdienst angesehen werden.

 

So erleben wir zum Beispiel Geschichten wie die von einem Bankdirektor, der aus seinem originären Job ausgeschieden ist und bei uns als Page begonnen hat. Oder eine selbstständige Physiotherapeutin, die ihren Einstieg bei uns als Zimmermädchen gefunden hat. In manchen Hotels haben wir Quereinsteigerquoten von über 50 Prozent. Überwiegend sind das Menschen, die zugunsten von Leistungen, die sie sonst nicht bekommen würden oder aber teuer bezahlen müssten, auf ein Teil ihres bisherigen Einkommens verzichten. »Endlich wieder mit Freude zur Arbeit kommen und zusätzlich noch die Möglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung haben, das ist großartig« – Sätze wie diese höre ich oft.

 

Mit Fort- und Weiterbildung Geld verdienen

So mancher wird sich sicherlich fragen, wie viel es denn kostet, eine derart menschenorientierte Infrastruktur aufzubauen. Mittlerweile müssen wir dafür nichts mehr ausgeben, wir verdienen damit sogar Geld. Sie hat sich nicht nur zu einem Profitcenter ausgebaut, sondern die Upstalsboom Wegbegleiter haben sich, unter der Führung von Mirco Hitzigrath, als erfolgreiches Start-up zu einem »rising star« innerhalb unserer Unternehmensgemeinschaft entwickelt. Denn die von uns geschaffene Infrastruktur zur Stärkung von Menschen hat sich nicht nur intern, sondern bei Kunden und Partnern herumgesprochen, letztlich vielen, die sich ernsthaft mit der menschlichen und kulturellen Entwicklung in Unternehmen befassen wollen. Und das werden täglich mehr. So werden seit vielen Jahren 50 Prozent der von uns ursprünglich einzig intern angebotenen Kursplätze auch für Externe, sogenannte Upstalsboomer auf Zeit, angeboten. Aber nicht nur das. Wir laden diese Upstalsboomer auf Zeit auch zu uns ein. Das nennt sich dann Kultur-Sightseeing oder einfach Sabbatical. Ein Grund, weshalb wir uns nach außen hin geöffnet haben, war, dass unsere Fluktuation für die erforderlichen Innovationen schlicht und ergreifend zu niedrig war und ist.

 

Die durchschnittliche Zugehörigkeit eines Upstalsboomers ist in etwa sechs- bis siebenmal höher als sonst in der Hotelbranche üblich. Und das ist mit Blick auf Innovationen natürlich ungünstig. Also haben wir uns dafür entschieden, Innovation über die Beteiligung von Externen an Schulungen oder Einladungen zum Kultur-Sightseeing zu generieren. Dadurch gewinnen wir nicht nur wertvolle Impulse für unsere Weiterentwicklung, viel interessanter ist, dass unsere Mitarbeiter in den Schulungen und im Rahmen der Besuche von Externen eine unglaubliche Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Und das allein durch die Tatsache, dass die Besucher sich für das interessieren, was die Upstalsboomer geschaffen haben.

 

So saß ein Sechzehnjähriger, einer unserer ganz jungen Auszubildenden, neben einer Pressesprecherin der Deutschen Bahn in unserer Upstalsboom-Kulturwerkstatt. Nachdem beide den Tag gemeinsam mit noch knapp zwanzig anderen Vertretern verbracht haben, wandte sich die Pressesprecherin an Alexander, unseren Auszubildenden: »Weißt du, Alex, auf der einen Seite durfte ich durch euch Upstalsboomer und ganz besonders durch Menschen wie dich und die anderen Mitarbeiter hier erfahren, dass all das, was ihr so auf die Beine gestellt habt, tatsächlich in der Praxis umsetzbar ist. Keine Theorie, kein Konzept, sondern Realität. Wenn ich mir dann aber die Komplexität anschaue, frage ich mich mit Blick auf mein Unternehmen, wie ich das alles umsetzen kann.«

 

Alexander schaute sie mit seiner großen Gelassenheit an und sagte: »Weißt du, das ist so einfach, dass es für manche schon wieder zu schwer wird, das umzusetzen. Wir können uns ständig ganz viele Gedanken darüber machen, wie es gehen oder was nicht gehen könnte. Es gibt Dinge, die können wir nicht im Kopf beantworten, sondern nur, indem wir etwas tun. Das Beste ist einfach anzufangen!«

 

Praxis statt Theorie, ausprobieren statt verstehen, können statt kennen

Und damit hatte es Alexander auf den Punkt gebracht. Die von uns in unseren »Werkstätten« oder Büchern beschriebenen Impulse, Bilder, persönlichen Erfahrungen und Gedanken können einer Suche nach einer zeitgemäßen Führung nur eine Richtung geben. Doch die persönlichen Erfahrungen ersetzen sie nicht. Denn wie das Führen, das (Sich-)Führen-Lassen und Sich-selbst-führen- Können gelingt, erfahre ich nicht, indem ich darüber nachdenke, durch das Lesen eines Buchs oder das Besuchen eines Seminars oder Vortrags. Denn wie Führung gelingt, erfahre ich nur, indem ich tatsächlich führe, mich selbst und andere, oder die Bereitschaft entwickle, mich führen zu lassen, mich auf Führung einzulassen.

 

Mit der Theorie ist es in etwa so, als würde ich einem Menschen, der noch nie einen Apfel gegessen hat, zu beschreiben versuchen, wie ein Apfel schmeckt. Ich könnte mich dafür so richtig ins Zeug legen, könnte Form, Farbe und Geschmack des Apfels mit allen Mitteln der sprachlichen Kunst ausführen. Mich bemühen, ihm den Mund wässrig zu machen. Aber letztlich reicht das nicht aus, um zu erfahren, wie ein Apfel tatsächlich schmeckt. Und abgesehen davon wird jemand das, was er über den Apfel gehört oder gelesen hat, auch schnell wieder vergessen. Wie ein Apfel wirklich schmeckt, das wird er erst in dem Moment erleben, in dem er in diese Frucht hineinbeißt. Und in dem Moment, in dem die Schale des Apfels gespürt und geschmeckt wird, der Saft auf den Lippen und im Mund, verlieren die von mir gewählten Formulierungen an Bedeutung. Und noch etwas ganz Wunderbares geschieht: Ich werde mich an den Geschmack des Apfels ein Leben lang erinnern. Und so möchte ich dich ermutigen, neue Führung einfach auszuprobieren, ins Handeln zu kommen und in deinen Alltag zu integrieren. Denn Führung ist nicht dazu da, um sie zu verstehen, sie ist dazu da, sie zu leben.

 

Wenn ich zum Beginn eines Vortrags mit Formulierungen wie: »In jenem Land gab es eine Studie, die …«, »Wissenschaftler haben herausgefunden, dass …« oder »Der Unternehmer Max Mustermann hat auf beeindruckende Weise gezeigt, dass …« konfrontiert werde, also immer dann, wenn die Vortragenden nicht über ihre persönlichen Erfahrungen, sondern über die Erkenntnisse, Erfolge oder Errungenschaften anderer zu reden beginnen, werde ich in den darauffolgenden Minuten oder Stunden eher informiert als inspiriert. Doch eine Information dient mehr der Erweiterung meines Wissens als dazu, mich in Bewegung zu setzen. Wir wissen ohnehin zu viel und tun im Verhältnis zu dem vielen Wissen zu wenig.

 

Viele dieser Vortragenden haben mir in den letzten Jahren bewusst gemacht, dass die spirituelle Kraft oder Inspiration oft dann verloren geht, wenn Menschen verstärkt über irgendwelche Theorien sprechen als über das, was sie selbst erlebt oder erfahren haben. Spannender und beflügelnder wäre es, wenn Menschen in höherem Maße etwas aus ihrem Leben berichten würden, etwas, was sie selbst erfahren oder durchlebt haben und mit dem sie tatsächlich in Berührung gekommen sind. Denn wenn ich einen anderen in Bewegung bringen will, muss ich ihn berühren. Und berühren kann ich nur dann, wenn ich selbst berührt worden bin, wenn ich etwas nicht nur verstanden, sondern es auch wirklich begriffen habe. Es selbst in die Hand genommen habe.

 

In einer anderen Situation entschied sich die Führungskraft einer großen Bank dafür, bei uns im Unternehmen ein Sabbatical zu machen. Nachdem die Managerin bei uns angefragt hatte, überließen wir ihr die Wahl, in welches Hotel und in welche Abteilung sie für zwei Monate gehen wolle. Sie entschied sich für unser Hotel auf Usedom, um dort die Arbeit in der Küche und beim Housekeeping kennenzulernen. Als die Mitarbeiter des Hotels von dem »hohen Besuch« erfuhren, waren sie zunächst sehr aufgeregt: »Was können wir einer Bankerin aus dem Topmanagement in Frankfurt beibringen? Die kann mir doch eher erzählen, wie das Leben funktioniert. Ich bin nur ein Zimmermädchen!«

 

Und dann war die Bankmitarbeiterin für zwei Monate im Hotel und Teil unserer Teams. Anschließend meinte sie über diese Zeit, sie hätte nicht nur ihre persönliche Einstellung verändert, sondern auch die zu ihrer beruflichen Laufbahn, allein durch die Begegnungen mit den Zimmermädchen und Köchen. Mehr Wertschätzung kann ein Team nicht erfahren, zu wissen, dass sie nicht nur entscheidend auf die Entwicklung eines Menschen eingewirkt haben, sondern auch auf die einer ganzen Bank.

 

Der Hauptgrund, weshalb Menschen zu uns ins Unternehmen kommen, ist also nicht unbedingt nur ihre finanzielle Situation, sondern die Möglichkeit, sich als Mensch psychisch, physisch und sozial weiterzuentwickeln. Und weil sie durch unsere Leistungen, durch unsere Infrastruktur und Begegnungen mit Menschen wachsen können.

 

 

New Work Inflation

New Work, nur so gut wie unbequem// Die Herausforderung ist, dass das menschliche Wachsen, dieser Weg zur Selbsterkenntnis, durchaus Wachstumsschmerzen mit sich bringt, also eher unbequem daherkommt. Doch wenn es mir als Mitarbeiter gelingt, die Widrigkeiten in einem Unternehmen als Möglichkeit zu erkennen und zu nutzen, mich als Mensch zu entwickeln, kann ich mich trotz dieser dafür entscheiden, in dem Unternehmen zu bleiben. Denn auch das ist klar, in keinem Unternehmen auf der Welt werden wir ein Paradies ohne jegliche Schwierigkeiten finden. Die Frage ist nur, wie groß und wie stark die jeweiligen Unannehmlichkeiten sind. Und: Sind sie so groß, dass sie mich überfordern? Drohe ich an ihnen zu zerbrechen oder haben sie ein Maß, sodass ich mich dennoch als Mensch entwickeln kann, sie mich dabei vielleicht sogar unterstützen?

 

Wenn jedoch für mich die Bequemlichkeit im Vordergrund steht, werde ich in keinem Unternehmen Freu(n)de bei der Arbeit finden. In einem solchen Fall werde ich immer unzufrieden sein, und die Unzufriedenheit wächst proportional mit dem Verlangen nach Bequemlichkeit. Wird New Work mit Arbeitsbedingungen verknüpft, die mir »das Leben« einfach oder bequem machen, die mich weder geistig noch körperlich herausfordern, taugen sie nicht viel, um herauszufinden, wer ich wirklich bin und was ich wirklich will. Denn: Geistige und körperliche Vitalität ist ein wichtiger Pflasterstein auf dem Weg zu einem guten Lebensgefühl. Aber sie ist die Folge von Bewegung und nicht von Sesshaftigkeit oder Bequemlichkeit.

 

Wer Zufriedenheit nicht auf dem Fundament einer persönlichen, geistigen und körperlichen Entwicklung oder dem der Selbsterkenntnis errichtet, sondern auf einfachen oder bequemen Arbeitsbedingungen, wird einer Welt, die immer unsicherer, brüchiger, schneller oder komplexer wird, nicht mehr viel entgegenzusetzen haben. Das Verlangen nach Bequemlichkeit wird uns da nur in die Irre und zu Enttäuschungen führen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass New Work wie ein als Allheilmittel angepriesenes »Medikament« vermarktet wird. Doch was daraus entsteht, ist ein Effekt, der den leeren Versprechungen einer Fernsehwerbung eher gerecht wird, als dass tatsächlich etwas Sinnvolles passiert. Denn auch sie hat ja zum Ziel, die Nachfrage der durch sie beworbenen Produkte zu erhöhen, indem sie dem Konsumenten häufig auf Grundlage eines völlig überzogenen Idealbilds das Gefühl vermittelt, noch etwas kaufen zu müssen.

 

Und so verhält es sich auch immer wieder bei New Work. »Du musst nur ein bisschen New Work einführen, ein bisschen agiler arbeiten lassen, die Arbeitszeiten noch ein bisschen flexibler gestalten oder die Vier-Tage-Woche einführen – und dann wird alles gut. New Work macht das schon. Und dann wundern sich die Auftraggeber oder Führungskräfte, dass das auf Dauer irgendwie doch nicht so funktioniert, wie sie sich das gedacht haben. Und genau dort sehe ich auch ein Risiko bei dem sich auf eine einfache, bequeme oder effiziente Arbeit fokussierenden New Work, dass hier ein völlig überzogenes Idealbild von Arbeit geschaffen wird, das zwar der Entwicklung einer ansprechenden Arbeitgebermarke dient, aber den Menschen im Unternehmen nicht weiterhilft.

 

Und das fühlt sich dann ein bisschen so an wie nach dem Reinfall auf die Werbung, der wieder in einer Enttäuschung geendet hat. Häufig habe ich das bei Bewerbern für unser Unternehmen erlebt. Da kommen Menschen mit dem New-Work-Bequemlichkeitsverständnis und in der Hoffnung zu uns, dass wir ihrem Glück dienen können. In dem Glauben, dass es bei uns nur harmonisch, friedvoll, einfach und bequem zugeht. Und wenn sie dann in unsere Unternehmenswelt und Kultur eintauchen, merken sie plötzlich, dass bei uns sehr hart gearbeitet wird – und das nicht nur an sich selbst.

 

Wir dürfen uns nichts vormachen: Arbeit erfordert auch Anspannung, Anstrengung und vielleicht sogar die Bereitschaft, sich verletzen zu lassen. Ein Profifußballer ist sich vor dem Spiel darüber bewusst, dass er sich bei seinem Einsatz für die Mannschaft vielleicht sogar verletzen wird. Für Jäger, die in früheren Zeiten loszogen, um ihre Familien und sich mit Nahrung zu versorgen, war es häufig auch sehr gefährlich. Doch im Bewusstsein, worum es geht, waren sie dazu bereit, sich anzustrengen und sich verletzen zu lassen. Wichtig ist nur, der Anspannung und Anstrengung etwas Ausgleichendes entgegenzusetzen. Pause, Ruhe und Erholung. Zeit, die ich nicht nur brauche, um mich zu entspannen oder meine »Wunden« zu lecken, sondern ebenso dafür nutze, um auf das Geschaffene, Gelernte oder Erfahrene zurückzublicken.

 

Die benediktinischen Mönche beschreiben dieses Wechselspiel von Anspannung und Ruhe mit den Worten »Ora et labora«. Es ist das Intervall, das uns als Mensch körperlich, geistig und seelisch wachsen und gedeihen lässt, uns fit werden lässt für das, was in Zukunft auf uns zukommt. Wenn es darum geht, unsere gemachten Erfahrungen und die daraus entstandenen Gedanken, Fragen und Impulse in die Praxis umzusetzen, werden wir mit einer Herausforderung konfrontiert, die in einem Midrasch, einer religiösen Auslegung von Texten im rabbinischen Judentum, sehr treffend formuliert ist: »Unkraut sprießt und gedeiht; aber wie sehr müssen wir uns plagen, um Weizen zu bekommen.« Das heißt: Wenn wir Arbeit tatsächlich auch als Mittel zum Zweck nutzen, um uns selbst besser kennenzulernen, braucht sie nicht nur Strukturen und Angebote, sondern ebenso eine Führung, die das Ansinnen versteht und selbst will, dass das möglich wird. Menschen, die weder die Ausbildung noch den der Zukunft bald nichts mehr zu bieten. Und die diesen Anforderungen gerecht werdende Ausbildung hat nichts mehr mit der eines Betriebswirts, Ingenieurs oder Ökonomen zu tun. Die Quellen für diese Ausbildung finden sich ganz woanders. Und auch mit Blick auf den Willen oder die Haltung sind die Ansprüche sehr klar formuliert.

 

Vor ein paar Jahren hatte ich die Aufgabe, einen Direktionsposten neu zu besetzen. Zu diesem Anlass führte ich Gespräche mit drei sehr unterschiedlichen Bewerbern; alle kamen aus unserem Unternehmen.

»Was ist deine Absicht, wieso willst du diese Führungsaufgabe übernehmen?«, fragte ich den ersten Bewerber.

»Bodo, ich wollte immer schon einmal Direktor werden«, antwortete er. »Das ist mein Traum, und ich möchte das Hotel als Bühne nutzen, um ein guter Gastgeber zu sein.«

Der zweite Bewerber argumentierte so: »Meine Absicht besteht darin, die Menschen zu befähigen, damit sie ihre Aufgaben auch wirklich gut machen können. Sie sollen Schulungen bekommen, Erfahrungen machen, ich will sie darin befähigen, die Aufgaben, die ihnen die Arbeit, die Gäste, das Hotel und das Leben stellen, in ihrem Sinne gut lösen zu können.«

Der Dritte antwortete: »Gemeinsam mit dem Team will ich Rahmenbedingungen schaffen, Organisationen entwickeln, die die Menschen dabei unterstützen, das, was sie zu tun haben, auch gut machen zu können.«

Welchen dieser drei Bewerber hättest du gerne als deinen Chef?

 

 

 

 

 

 

 

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