Buchauszug Bernhard von Mutius: „Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten“

Bernhard von Mutius (Foto: PR/Richard Pichler)
Brücken bauen. Zuhörend und kooperativ
Noch mal anfangen. Soziales Lernen. Soziale Innovation. Soziale Kooperation.
Zwei Jungen begegnen im Wald plötzlich einem angriffslustigen Grizzlybären. Während der eine Junge in Panik gerät, zieht der zweite in aller Ruhe seine Joggingschuhe an. „Bist du wahnsinnig? Wir können unmöglich schneller laufen als der Grizzly“, schreit der erste. „Richtig“, gibt der andere zurück. „Aber ich muss ja nur schneller laufen als du!“ Zweifellos ein einleuchtendes Kalkül. Die Geschichte stammt aus einem Buch des US-Psychologen Robert J. Sternberg. Ein erfolgreicher Titel in den 90er-Jahren. Der smarte Junge mit den Joggingschuhen. Ein Renner, der die Lacher auf seiner Seite hat.
Chicago
Ich war ein paar Jahre zuvor zu einem großen Kongress in Chicago eingeladen worden. Während der Veranstaltung stahl ich mich einmal für ein, zwei Stunden davon und erkundete die Umgebung, spielte Flaneur. Zunächst war ich in einer riesigen Mall. Da gab es alles in Hülle und Fülle. Marmor, Springbrunnen, Restaurants, die tollsten Geschäfte. Eine Stadt in der Stadt. Und: eine Festung. Denn ein paar Schritte weiter über die Straße war es anders. Da zerfiel die Stadt. Auf der einen Seite der Straße hatten die Jungs die Joggingschuhe, die sie sich wünschten; auf der anderen Seite mussten sie um ihr Leben laufen, um im Bild zu bleiben. Und ich hatte eine Vision, und zwar zunächst eine negative, eine dystopische. Ich fragte mich: Sieht so vielleicht die Zukunft aus? Auch anderswo? Erst später ist mir klar geworden, dass dieses Bild in meinem Unbewussten eine Weile gearbeitet hat. Bevor daraus etwas Positives entstehen konnte.
Szenenwechsel
Wir befinden uns in Dresden. Im Hotel Hilton. Am Ende eines ungewöhnlichen Konferenztages. Menschen, die sich sonst nie im Leben begegnet wären, haben zusammengesessen, sich gegenseitig beschnuppert. Nun essen sie gemeinsam. Das Essen wird serviert von den Kellnerinnen und Kellnern des Hotels, das die Veranstaltung mit gesponsert hat. Schließlich der letzte Gang. Alle erwarteten einen opulenten Nachtisch. Stattdessen liegen auf den großen Tellern Nägel. Und ziemlich große Holzstücke. Jetzt heißt es, daraus etwas machen und anpacken. Alle tun es und bauen gemeinsam eine ansehnliche Holzbrücke. Sie trägt. Am Ende gehen alle über die Brücke. Alle – das sind einige Vertreter:innen von Firmen und viele mehr von Jugendorganisationen, sozialen und kommunalen Einrichtungen. Sie helfen mit, dass Städte, Regionen und Länder nicht auseinanderfallen.
Es war die Geburtsstunde von UPJ, des gro.en deutschen Netzwerkes für soziale Verantwortung und Corporate Citizenship. Mit Reinhard Lang (bis 2021) und Peter Kromminga an der Spitze. In dem heute viele renommierte Unternehmen von BMW bis Trumpf, von SAP bis Microsoft Mitglied sind. Als Mitbegründer habe ich 2022 den Festvortrag gehalten: zum Thema soziale Kooperationen. Die Dresdner Veranstaltung 1996 war ursprünglich so gar nicht geplant. Eher das Ende einer jahrelangen frustrierenden Odyssee. Von Pontius zu Pilatus. Von CEO zu Minister. Alle klopften mir auf die Schulter. Nichts passierte. Dann schrieb ich einen Artikel. Im Hinterkopf hatte ich stets die Bilder aus Chicago. Irgendwann kam ein Anruf aus Sachsen. Daraus wurde besagter Kongress in Dresden, mit dem UPJ gegründet wurde. Mit dem Titel „Brücken bauen“. Soziale Kooperationen.
Es war einer dieser glücklichen Zufälle, die manchmal unglaublich viel auslösen. Mit der selbst gebauten Brücke. Es war lebendig und ein wenig augenzwinkernd. Es gab ein gutes Gefühl. Die Gespräche fielen allen danach noch viel leichter. „Brücken bauen“. Soziale Kooperationen zwischen denen, die ökonomisch stark sind, und denen, die auf anderen Gebieten stark sind, aber wirtschaftlich nicht. Mit der Frage: Können Unternehmen im sozialen Bereich, insbesondere im Jugend- und Bildungsbereich, nicht noch viel mehr tun? Und zwar grenzüberschreitend, innovativ, kooperativ? Zum wechselseitigen Nutzen? Das war die Idee.
Einige Jahre später
Hauptbahnhof München. Wir haben uns verabredet. Hier wird gleich eine Learning Journey beginnen. Die Teilnehmer kommen aus einem großen deutschen Telekommunikationsunternehmen. Treffpunkt: vor dem Starbucks. Direkt vor dem Eingang. Alle glauben: Das Coffee-House sei unsere erste Station. Doch dann kommt es anders. Wir gehen hundert Meter weiter. Dort befindet sich die evangelische Bahnhofsmission. Gabriele Ochse, die Leiterin der Mission, begrüßt uns. Und erzählt von ihrem Alltag. Von der Arbeit ihres Teams für die Menschen, die hier stranden. Von ihrer Art der Dienstleistung. Der Kaffee schmeckt auch hier gut. Nach einer anfänglichen Reserviertheit spüren die Teilnehmer, was hier geleistet wird. Sehr engagiert und sehr professionell. Es entsteht ein Gespräch, ein intensiver Austausch. Es ist die andere Sicht. Es ist, wenn auch nur für ein, zwei Stunden, ein Seitenwechsel.
Niemand vergisst diese Geschichte. Eine Art Spin-off des Themas „Brücken bauen“. Sich praktisch inspirieren lassen, von Menschen mit einer anderen Mission, in einer anderen Umgebung. Tatsächlich auf Reisen gehen – zu ungewöhnlichen Orten und außergewöhnlichen Menschen, von denen man etwas lernen kann. Ein wenig mehr Achtsamkeit, Empathie, soziale Kompetenz. Vielleicht auch eine andere Dimension der Kreativität. Kein Wissen für die Schublade. Für unser Leben.
Don’t wait, innovate!
Etwa zeitgleich kam die Einladung an die HPI School of Design Thinking. Ob ich Lust hätte, an der Schule mitzuwirken? Klar hatte ich Lust. Auch wenn ich nicht wusste, was mich erwartete. Was ich dann erlebte, war für mich eine ganz persönliche Learning Journey. Eine neue Lebenserfahrung. Nicht, weil ich die Methode so umwerfend fand. Darüber hatte ich schon vorher einiges gelesen. Sondern weil die Art und Weise, wie sie hier praktiziert wurde, so umwerfend war. So lebendig. Interdisziplinär, interkulturell, grenzüberschreitend – einfach gemeinsam Probleme lösen. Student:innen und Coaches aus der ganzen Welt, aus unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen, Systemen, Glaubensrichtungen kommen zusammen und entwickeln etwas zusammen.
Geht das überhaupt? Ja, es geht. Es kam viel zusammen, was in verschiedenen Disziplinen neu gedacht wurde. Und vor allem gab es einen Spirit. Nicht nur einen Team-Spirit wie in jedem Hochleistungsteam. Sondern noch etwas anderes, weiter Reichendes. Einen großen Glauben daran, dass ein neues Denken einer neuen Generation, eine neue Haltung, eine neue kreative und soziale Kompetenz irgendwie unwiderstehlich und unaufhaltsam seien. In diesen Tagen leuchtete viel. Es schien irgendwie alles klar und für manche nur eine Frage der Zeit, bis das Neue überall einziehen würde. In die Chefetagen von Unternehmen wie in Ministerien. Neue Arbeitsweisen, Agilität, Collaboration plus Empathie, emotionale Intelligenz, soziale Kompetenz. Wertebasiert. Überhaupt eine neue Qualität der hierarchieübergreifenden Zusammenarbeit, der offenen Kommunikation, der Teamorientierung und der sozialen und nachhaltigen Verantwortung. Das „Yes, we can“ fand ein vielstimmiges Echo in vielen Communitys. War das alles falsch? Nein. Nur die Selbstgewissheit und die Selbstgerechtigkeit. Und die damit verbundene Unterschätzung der Ungewissheit – und der Beharrungskräfte des alten Adams.
Einschläge
Es kamen irritierende Nachrichten. Von Trump, Datenskandalen, Facebook- Deals, vom Brexit und von Fake News. Das war zunächst noch ziemlich weit weg. Dann kamen die Einschläge näher. Immer neue. Dabei hatten sich doch eigentlich alle etwas anderes vorgenommen. Die Welt ist aus den Fugen. Das Wort fällt immer wieder. Damit einher gehen: Verunsicherung, manchmal Erregung, Empörung, Polarisierung. Wir haben das Gefühl, Soziales wird erst jetzt richtig zum Thema. Heftiger Streit überall, so scheint es. Irgendwas funktioniert nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben. Hat das vielleicht etwas mit sozialer Kompetenz zu tun? Oder mit Intelligenz? Oder mit beidem? Oder ist das nur eine Vermutung?
Dabei wissen wir so viel. Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten so viel geschrieben, geforscht, gesagt und trainiert – über soziale Kompetenzen, über Empathie und offene Kommunikation. Es gibt so viele schöne Etiketten, die das Soziale adressieren. Beginnend bei der Bezeichnung „soziale Medien“. Die doch eigentlich ein technologischer Fortschritt und Segen sind. Oder dies vorgeben. Nun stellen wir fest: Es gibt keinen automatischen, kausalen Zusammenhang zwischen mehr Wissen, mehr Intelligenz und sozialerem Verhalten. Manchmal scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. (Man könnte sagen: Es ist die Rückkehr der sozialen Frage. Natürlich nicht mehr im alten Sinne als Klassenfrage. Da hat sich zu viel geändert. Heute scheint mir eher die Beobachtung eines New-York-Times-Autors zutreffend zu sein. „We live finally in a classless society. No one has any class at all”.)
Dabei hapert es offensichtlich nicht am Zusammenspiel im eigenen Team. Ob in einer Fußballmannschaft oder im Führungsteam. Da wird Teamgeist großgeschrieben. Es gibt gemeinsame Ziele, gemeinsame Regeln, gemeinsame Werkzeuge. Online und offline. Und es gibt in der Regel Trainer:innen, Coaches, Moderator:innen, die das Team betreuen. Aber was, wenn diese Stützen wegfallen? Woran sich halten?
Selbsterkundung
Sind wir eigentlich dumm? Nein, nicht die anderen, die wir dafür halten. Sondern wir selbst? Diese Fragen stellen sich zurzeit einige Psychologen, die viel über Intelligenz geforscht haben und früher dazu oft eindeutige Aussagen getroffen haben. Jetzt sind sie sich nicht mehr so sicher. Tillmann Prüfer, stellvertretender Chefredakteur beim ZEITmagazin, hat sich diese Frage auch gestellt. Wie dumm kann man sein? Fragt er in einer Selbsterkundung im Sommer 2022. Und indirekt fragt er uns alle. In dieser Zeit, in der wir manches infrage stellen, was wir bislang eindeutig zu wissen glaubten. Können wir überhaupt etwas in unserem Leben beeinflussen, was mit dumm oder intelligent in Verbindung zu bringen ist? Ist Dummheit unbedingt das Gegenteil von Intelligenz? Oder kann Intelligenz auch dumm sein? Und was könnte das für unser Leben bedeuten?
Einer der Psychologen, die bei dieser Erkundung zu Wort kommen, ist Robert J. Sternberg. Heute sieht Sternberg manches anders, als es im einleitenden Zitat zum Ausdruck kommt. Die nur auf den eigenen Nutzen bedachte Intelligenz ist nach seiner heutigen Überzeugung nicht die Lösung, sondern das Problem. Er beobachtet eine abnehmende intellektuelle Integrität. Menschen nehmen oft nur noch das wahr, was für sie unmittelbar von Nutzen ist. Nur noch der eigene Vorteil zählt. Was im Widerspruch dazu steht, wird ausgeblendet. Er nennt dies „mutwillige Selbstverdummung“. Das sei gefährlich. So steige das Risiko gravierender Fehleinschätzungen. Er spricht von der „imbalance theory of foolishness“ – „an imbalance that results from feelings of omniscience, omnipotence, and invulnerability“: das Gefühl von Allwissenheit, Allmacht, Unverwundbarkeit.
Wir brauchten stattdessen, so sein Plädoyer, eine „balance theory of wisdom“. Sie umfasse mehr als die Erfolgsintelligenz und mehr als den IQ. Er sagt: “When leaders fail, it is usually not because of a lack of IQ, but more often, because of a lack of ethics”. Interessant: Wenn wir genau hinschauen, deckt sich manches davon – positiv gewendet – mit dem, was erfahrene Psychologen als menschliches Verhalten in Krisensituationen empfehlen. Vor allem mit Blick auf Jugendliche, die besonders unter den Schocks dieser Zeit leiden.
◆ Zugeben, etwas nicht zu wissen
◆ Das Gefühl, nicht siegen zu müssen, erlauben und stärken
◆ Verwundbarkeit zeigen und darüber reden dürfen
◆ Und: sich nicht abhängig machen von den Meinungen anderer
◆ Selbst etwas machen, bewegen, einfach anfangen
Der Psychiater Christoph Correll von der Berliner Charité sagt: „Wir sind alle vulnerabel und man darf darüber reden, dass es einem schlecht geht, man nicht so gut in der Schule zurechtkommt und es einem schwerfällt, sich zu strukturieren“. Ich finde, das gilt nicht nur für Jugendliche. Es gilt für uns alle. Und wenn es denn irgendeine Lehre gäbe, die wir aus den Ereignissen und Leiden dieser Jahre ziehen könnten – bei aller Vorsicht gegenüber „Lehren“, dann diese:
◆ Sei dir nicht so sicher!
◆ Teile nicht nur dein Wissen, sondern auch dein Nichtwissen mit anderen.
Vielleicht ist das ein Echtheitszeichen für soziale Intelligenz in dieser Zeit?
Was tun?
Sich fernhalten. Sich innerlich fernhalten vom Gemeinen, von den Performancejägern. Für die ihr Erfolg alles ist. Die immer recht haben wollen und alles zu wissen meinen. Die darauf aus sind, dir bei der ersten möglichen Gelegenheit ein Bein zu stellen. Die glauben, das Leben bestünde darin, schneller zu laufen als der andere – ein ständiger Kampf der Fitten gegen die noch Fitteren. Mit allen Mitteln. Und gleichzeitig: sich nicht einlullen, einschüchtern oder unterkriegen lassen. Immer wieder neu anfangen. Stärker werden. Mit Lust, unabhängig und eigensinnig „unser Ding“ machen. Mit Witz und Fantasie.
„You would play on me? Ihr wollt auf mir spielen? […] Wetter! denkt Ihr, dass ich leichter zu spielen bin als eine Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument Ihr wollt: Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen.“ (Shakespeare, Hamlet III, 2).
Buchauszug Bernhard von Mutius: „Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten“ – 208 Seiten, 29,90 Euro, Gabal Verlag Bernhard von Mutius – GABAL Verlag (gabal-verlag.de)
Weiter wachsen
Wachsen. Nicht müde werden zu wachsen. „Solange Sie wachsen, Herr Hopp, sind Sie nicht verloren. Ihr Glück ist nur gerade müde. Also wachsen Sie!“ Wie es in einem Text von Roger Willemsen heißt. Und Wachsen ist Lernen. Immer wieder von Neuem lernen. Altes auffrischen und Neues entdecken. Neues im Alten und Altes im Neuen. Vielleicht überhaupt lebenslang. Und immer wieder neu anfangen. Nicht glauben, was einmal gelernt wurde, bleibe und werde automatisch weitergereicht. Das stimmt nicht. Wie Hannah Arendt sagte: „Jede neue Generation muss den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen“. Und: „Wir erziehen im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene und geratende Welt. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, so sterblich zu werden wie ihre Bewohner“.
Vor allem immer wieder neu lernen, was soziale Intelligenz sein könnte. Nicht nur im Umfeld von Teams in Unternehmen oder im Sport. Vielmehr vor allem übergreifend, bereichs-, silo- und sektorübergreifend. Wichtigste Lernziele: Sich nicht zu sicher fühlen. Nicht recht haben wollen. Widersprüche ins eigene Denken holen. Von Andersdenkenden lernen. Ihre Position einnehmen können. Unabhängig von Meinungen werden. Und: gelassene Freundlichkeit lernen. Das heißt, auch in extrem angespannten Situationen gut miteinander umgehen zu können.
Die andere Seite
Widersprüche akzeptieren. Auch in sich selbst. Geht das? Und daraus etwas machen. Wie soll das gehen? Manchmal ganz organisch. Ich komme aus einer Familie, die preußisch geprägt war. Das Elternhaus konnte dies nicht verleugnen. Ich habe auch diese Seite in mir. Ich verbinde sie mit Pflicht und Gewissenhaftigkeit. Doch es gibt noch eine andere Seite. Ich verbinde sie mit Lebensfreude und Leichtigkeit. Ich habe sie irgendwann einmal die italienische genannt. Manche Geschichten werden das spiegeln. Das war natürlich eine Konstruktion. Klar. Aber eine hilfreiche, wie ich heute vermute. Manchmal standen die beiden Seiten im Widerspruch. Vereinfacht ausgedrückt. Hier die dringende Pflicht, die zu erledigen war. Dort die Kür, die zu leben war. Und die genauso wichtig war. Erst zusammen wurden die Dinge gut.
Eigentlich kommt unsere Familie aus Schlesien. Also habe ich halb preußische, halb österreichische Wurzeln. Diese habe ich in meinem Leben und in meinen Freundschaften immer mehr zu schätzen gelernt. Wenn ich mich zu lange nur im deutschen Pflichtmodus aufgehalten hatte, meldete sich die Seite: Jetzt wird es Zeit. Warum bist du nicht ein paar Hundert Kilometer weiter südlich, wo es richtige Berge oder einen ordentlichen Espresso gibt? Jetzt könntest du auf dem Markt ein paar wunderbar duftende Tomaten, Basilikum und Zucchini-Blüten kaufen. Oder dich auf den Weg machen zum Meer. Oder nach Fiesole. Von dort zu den Hängen des Monte Ceceri schauen, wo Leonardo seine Flugversuche machte. Es brauchte fast vierhundert Jahre, bis Menschen das wieder konnten. Mit Erfolg. Aber wussten sie noch, wie man eine Mona Lisa malen konnte? Die andere Seite verstehen lernen. Das geht leichter, wenn wir selbst in uns eine andere Seite haben – oder entdeckt haben, dass es da zwei Seiten gibt. Und gelernt haben, zwischen den Seiten Brücken zu bauen. Oder eine Leiter zu nutzen, um zu erkennen, was die andere Seite vielleicht meinen könnte, wenn die eine Seite gerade Nein sagt. Gerade auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, zur Energiewende, zur Energie- Autarkie kann es hilfreich sein, einen Widersacher in sich selbst zu hören, auf dessen Widerspruch zu hören. Wer den hören kann, wird anders in ein Gespräch gehen.
Während ich dieses Kapitel schreibe, bin ich auf das wunderbare Buch Papyrus der spanischen Autorin Irene Vallejo gestoßen. Sie berichtet darin vom griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Er habe seine „Historien“, seine Erkundungen der griechischen Geschichte, nicht einfach aus der Sicht der Griechen geschrieben, sondern bewusst die Seiten gewechselt und die Version der Perser und Phönizier niedergelegt. Vallejo schreibt dazu: „So entsteht die Geschichte des Abendlandes aus einer Darstellung der Perspektive des Anderen […]. In meinen Augen ist dies auch 2500 Jahre später eine zutiefst revolutionäre Herangehensweise […]. Der andere erzählt mir meine Geschichte, er sagt mir, wer ich bin“.
Gespräche
Lange Gespräche, intensive Gespräche, immer wieder Gespräche führen. Nicht nur Meetings, Calls, Versammlungen oder Get-togethers. Unternehmen mit einer guten, innovativen Unternehmenskultur wie zum Beispiel Hilti zeichnen sich dadurch aus. Ich werde nie vergessen, wie ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, wie die Mitarbeiter sich auf ein Gespräch einlassen. Sich angewöhnen, Fragen zu stellen und den anderen ohne Hast zuzuhören. Als Unterstützung nimmt die oder der Sprechende einen Redestab in die Hand. Solange jemand ihn in den Händen hält, hören die anderen zu. Den Redestab habe ich noch. Ein Symbol dafür, die anderen ausreden zu lassen, ihre Standpunkte gelten zu lassen und innerlich abzuwägen. Am besten geht das für mich in einem persönlichen Gespräch, das ohne Zeitdruck stattfindet. In einer Atmosphäre, die das ermöglicht.
Zum Beispiel bei einem Waldspaziergang oder an einem langen Nachmittag und Abend. Die Bergweg-Gespräche haben wir bewusst auf einen Samstagnachmittag gelegt. Start gegen 16.00 Uhr. Ende offen. Das klingt heute ein wenig verrückt. Oft sitzen wir bis tief in die Nacht zusammen, hören zu, lassen den anderen ausreden. Manchmal mit einem abrundenden gemeinsamen Frühstück. Wer sich diese Zeit nimmt, bringt Wertschätzung mit – für das Thema und für die anderen. Ein gutes Gespräch zu führen, ist Disziplin. Und eine Kunst. Eine der wichtigsten des Lebens.
Ein gutes Gespräch ist ein Dialog. Da entwickelt sich eine Logik, die sich unterscheidet von der in Talkrunden. Eine zirkuläre. Zirkularität ist ein differentes, andersgeartetes Prinzip als das gewohnte. Ich habe die gewohnte Logik einmal – ohne zu wissen, wie aktuell die Metapher noch werden könnte – die lineare Schusswaffenlogik genannt: zielen – feuern. Die Kugel fliegt in die gewünschte Richtung und kommt nicht mehr zurück. Trifft sie ins Schwarze: gut. Wenn nicht: nicht gut. Dann muss besser gezielt und noch mal gefeuert werden. Um Weiteres muss man sich nicht kümmern. Das Geschoss ist weg. Im Unterschied dazu sagt die zirkuläre Logik: Alles kommt irgendwann wieder zurück. Also sorge gleich dafür.
„Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich nicht die Antwort des anderen darauf gehört habe“. So hat es einmal Norbert Wiener gesagt. „Zirkulär“ heißt: in Beziehung sein. Du sparst Zeit, obwohl du länger dafür brauchst. Das ist ein lebendiges Prinzip. Gibt es einen inneren Zusammenhang? Hängt die soziale Frage mit der nachhaltigen zusammen? Bei beiden stoßen wir auf das Problem der Extraktion. Manche nehmen sich zu viel raus. Und wir haben uns daran gewöhnt. Bei der sozialen Extraktion ist der Mensch selbst der Boden, aus dem die Schätze entnommen werden. YouTube, Instagram, Meta, TikTok & Co. sind mit ihren Algorithmen die Goldgräber, die Bergbau- und Minengesellschaften der neuen Zeit. Der Unterschied: Bei der Datenextraktion macht sich niemand die Finger schmutzig.
Unterbrechen
Auch diese Art der Extraktion lässt sich nicht einfach abstellen. Aber wir selbst können manches öfter abstellen. Wir können unterbrechen. Was steht dann auf dem Programm? Wir. Die andere, der andere. Statt etwas rauszunehmen, etwas mitbringen, etwas geben. Nichts Großes. Zeit schenken, Aufmerksamkeit schenken, Freude und Freundlichkeit schenken. Zuhören, uns erkundigen, den Redeschwall unterbrechen. Leiser werden. Und: nicht besser wissen. Dem anderen keinen Rat geben. Sich nicht für schlauer halten. Nicht schneller laufen wollen.
Aber vielleicht etwas gemeinsam anstellen. Das Gesellige mit dem Gemeinschaftlichen und dem Unternehmerischen verbinden. Gemeinsam etwas bauen oder pflanzen. Im bürgerschaftlichen Engagement. Für den Verein. Für die Schule. Für das Quartier. Um in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde energieautarker zu werden. Wir haben darüber gesprochen. Der genossenschaftliche Gedanke wird in den nächsten Jahren attraktiver und stärker werden. Energiegenossenschaften werden für manche Gemeinde ein interessantes Modell werden. Möglicherweise entstehen daraus künftig auch Datengenossenschaften. Sie könnten dafür sorgen, dass Bürger über sensible persönliche Daten selbst bestimmen können. Soziales Lernen, soziale Kooperationen und soziale Innovation kommen hier zusammen. Ich habe das Gefühl, dass gerade enorm viel entsteht, was nicht in den Lehrbüchern steht. Lebenskunst ist, wenn du damit anfängst. Bei dir selbst. In deinem Umfeld. Ohne zu wissen, was daraus entsteht.
Zwischenraum
Ich glaube an den wissenschaftlichen, künstlerischen und sozialen Erfindungsreichtum der Menschen. Ich vermute, dass unser sozialer Erfindungsreichtum in nächster Zukunft besonders gefragt ist. Er wird sich zwischen den bereits erschlossenen Gebieten unseres Wissens besonders bewähren. Wir wissen nur noch nicht, wie. Mehr Gemeinschaft. Weniger Ego. Das wünschen sich viele. Doch wie können wir das zumindest in unserem eigenen Einflussbereich ermöglichen? Indem wir weniger recht haben wollen. Indem wir nicht sofort abwerten. Indem wir leerer werden. Und uns auf Zwischenräume einlassen. Zwischen uns und den anderen, zwischen unserer Meinung und der der anderen.
Der Physiker Carlo Rovelli hat das wunderbar ausgedrückt: „Wir leben in einem Universum, in dem Unwissenheit vorherrscht. Wir wissen viele Dinge, doch es gibt eine ganze Menge mehr, was wir nicht wissen. Wir wissen nicht, wen wir morgen auf der Straße treffen werden, wir kennen die Ursachen vieler Krankheiten nicht, wir kennen die ultimativen Gesetze nicht, die das Universum lenken, wir wissen nicht, wer die nächste Wahl gewinnen wird […]. In dieser grundlegend unsicheren Welt wäre es töricht, absolute Sicherheit zu verlangen. Wer prahlt, er sei sich seiner Sache sicher, ist gewöhnlich am unzuverlässigsten. Aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass wir völlig im Dunkeln tappen. Inmitten von Sicherheit und völliger Unsicherheit gibt es einen kostbaren Zwischenraum – und genau in diesem Zwischenraum entfalten sich unser Leben und unsere Gedanken“.
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