Buchauszug Anselm Bilgri / Maurizio Singh: „Agiles Arbeiten – Agile Führung. Wo bleibt der Mensch bei Agilität? Impulse aus der benediktinischen Regel“

Buchauszug Anselm Bilgri | Maurizio Singh Vahlen: Agiles Arbeiten – Agile Führung. Arbeiten – Agile Führung. Wo bleibt der Mensch bei Agilität?
Impulse aus der benediktinischen Regel“

 

Anselm Bilgri (Foto: PR Bilgri / Hoffotografen)

 

Viele junge Führungskräfte erleben nach ihrer lang ersehnten Beförderung eine große Überraschung. Jahrelang haben sie darauf hingearbeitet, Führungsverantwortung zu übernehmen, sie haben sich vorgestellt, wie es sein wird, wenn sie eine Abteilung oder auch eine größere Einheit leiten werden. Schließlich sind sie an ihrem Ziel angelangt und stellen fest, dass eigentlich alles ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt haben.

 

Auch ich habe mich bereits während meines Studiums als Führungskraft gesehen und mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich eines Tages ein großes Unternehmen leiten werde. Ich würde – so dachte ich – von allen respektiert werden und mein Wort würde großes Gewicht haben.

 

Die Realität sah dann anders aus: Als ich langsam Verantwortung übernahm, hatte sich die Unternehmenslandschaft verändert und plötzlich war agile Führung angesagt. Im vorherigen Kapitel habe ich dargestellt, was agile Führung ausmacht. Um die heutige Rolle der Führungskraft zu verstehen sollten wir ein besseres Verständnis bekommen, wie sich die traditionelle Führung von der agilen Führung unterscheidet.

 

Anhand der Gegenüberstellung lassen sich die charakteristischen Eigenschaften einer agilen Führungskraft erkennen. Die agile Führungskraft bewertet, steuert und kontrolliert die Mitarbeiter nicht mehr. Vielmehr überprüft sie die Erfüllung der Ziele und bewertet die Ergebnisse und nicht die Personen. Die Führungskraft vertraut auf die Erledigung der Aufgaben durch das Team. Die gewonnene Zeit und Ressourcen können eingesetzt werden für die strategischen Aufgaben – und die wichtigste
strategische Aufgabe ist die Förderung und Entwicklung des Teams, der
Zusammenarbeit des Teams und der Lernschleifen im Team.

 

Sehr gut dargestellt sind die Prinzipien, die Google seinen Führungskräften an die Hand gibt, um eine gute agile Führungskraft zu sein.

 

Für Google bestehen die Prinzipien agiler Führungskräfte aus folgenden Eigenschaften:

Eine gute Führungskraft ist … ein guter Coach.

befähigt das Team zur Lösung von Aufgaben, und hält sich aus Kleinigkeiten
heraus.

interessiert am Erfolg und am Wohlergehen des Teams.

produktiv und ergebnisorientiert.

ein guter Kommunikator und hört dem Team zu.

unterstützt die Mitarbeiter darin immer besser zu werden (auch wenn dadurch der Mitarbeiter fachlich besser wird als die Führungskraft).

liefert eine klare Vision und eine nachvollziehbare Strategie zur Erreichung
(und involviert das Team in die strategische Planung).

besitzt die fachlichen Fähigkeiten, um das Team optimal beraten zu können.

 

Ein neuer Typus von Führungskraft ist also gefragt – aber wer teilt dies der aktuellen Führungsriege mit? Jeder, der schon einmal in einem größeren Unternehmen gearbeitet hat, weiß, dass nur die wenigstens Führungskräfte alle acht genannten Eigenschaften besitzen. Meistens zeichnen sich die Führungskräfte durch ein sehr starkes Selbstbewusstsein aus und bewegen sich wie kleine, absolutistische Landesfürsten durch ihre jeweiligen Reiche bzw. Abteilungen.

 

Ich werde nie meine erste Begegnung mit einem Scrum Master vergessen. Es war mein erster Tag für ein Projekt in einem großen deutschen Unternehmen. Ich sollte bei einem Daily und Weekly Scrum Meeting teilnehmen, um zu erfahren, wie sich das Unternehmen transformiert.

 

Punkt 9.00 Uhr stand ich vor dem Meetingroom, wurde von einem Mann in Anzug abgeholt und in den Raum gelassen. Ohne große Vorstellungsrunde wurde ich gebeten Platz zu nehmen. Der Mann im Anzug entpuppte sich als der Scrum Master, da er das Daily startete. Man spürte im Raum eine extreme Anspannung, im Verlauf des Daily
verstand ich auch, warum.

 

Das Format war weniger ein Statusreport des Tages und der Woche, es war eher eine Inquisition der Entwickler. Sie mussten sich rechtfertigen, warum sie dies oder jenes nicht geschafft hätten. Der Scrum Master forderte in scharfem Tonfall sofortige Korrekturen oder sofortige Lösung der Themen bis Mittag oder bis zum Ende des Tages. In diesem Raum waren 15 gestandene Männer und Frauen, die sich von einem Anzugmann anschreien ließen, und keiner dieser smarten und hoch gefragten Entwickler sagte etwas dagegen.

 

Ich konnte die Welt einfach nicht verstehen. Vielleicht war es der Tonfall des Anzugmanns oder die gesamte Situation, die sich mir vor meinen Augen bot. Ich entschied in diesem Moment, dass Agilität nichts Gutes sein kann, wenn man Menschen so behandeln muss. Ich wollte dem Ganzen fast einen Schlussstrich
ziehen und hatte mir fest vorgenommen, nach dem Mittagessen zu
gehen. Ich ging mit drei der Entwickler Mittagessen und bei ziemlich
fetten Rib Steaks (eines habe ich gelernt: die Küche von IT-Unternehmen kann richtig deftig sein, Entwickler haben Hunger) teilte ich ihnen meinen Schrecken mit.

 

Sie beruhigten mich, dass der Scrum Master gar nicht so böse sei, wie
er tut. Viele würden ihn nicht mögen. Er war die vorherige Führungskraft, die viele von ihnen eingestellt hatte. Er hatte das Team bereits geleitet, als es noch nicht nach Scrum gearbeitet wurde. Er hat dann auf einem zwei Tages Seminar seinen Scrum Master erworben, weil das Unternehmen alle Projekte auf agil umgestellt hat. Nach seiner
Rückkehr war er formal nicht mehr Teamleiter, sondern Scrum Master. Der in kurzer Zeit neu erworbene Titel konnte jedoch nicht bewirken, dass lang antrainiertes Verhalten abgelegt wurde.

Nun konnte ich alles verstehen, er trug nur die Kutte eines Mönchs,
aber nicht den Geist. Dies spürte man in der Angst im Raum, man
spürte es in der Rolle, die er sich selbst vorgab als Inquisitor. Es fehlte
ihm der Spirit von Scrum und Agilität. Er führte weiterhin so wie er
es immer getan hatte.

 

Zwei Jahre später traf ich zufällig die Führungskraft im Gewand des
Scrum Master auf einer Zugfahrt von Frankfurt nach Nürnberg. Er
beklagte auf der zweistündigen Fahrt, dass er entlassen worden war,
da man einen externen Product Owner ins Haus geholt hatte, der alles
anders machen wollte und der die Entwickler aufgemuntert hatte,
gegen ihn zu revoltieren.

 

Er musste gehen ohne einzusehen, warum. Er erkannte auch nicht nach zwei Jahren, dass sich das Unternehmen verändert hatte und dass die Organisation in langsamen Schritten nach vorne ging. In seinem Weltbild funktioniert es weiterhin so,
dass nur Disziplin, klare Leitplanken und klarer Ton zu Ergebnissen
führen können. Dass die Mitarbeiter ihre Tätigkeit eher aus Angst
durchführten und weniger aus Leidenschaft, interessierte ihn nicht.
Schlussendlich musste er seinen Vorgesetzten klare Ergebnisse liefern.
Alle Ampeln in den Statusberichten sollten auf grün stehen.

 

(Foto: PR/Vahlen)

Buchauszug Anselm Bilgri | Maurizio Singh Vahlen: Agiles Arbeiten – Agile Führung. Arbeiten – Agile Führung. Wo bleibt der Mensch bei Agilität?
Impulse aus der benediktinischen Regel“ 152 Seiten, 24,90 Euro, Vahlen Verlag 

 

 

Die Stellung der Führungskraft in der agilen Welt

Die Position der Führungskraft entwickelt sich von einer Herrschaftsposition über das Team zu einer dienenden Position für das Team. Ich muss zugeben, manchmal habe ich mich gefragt, wie es wohl mal war, Chef zu sein in der traditionellen Führung. Vielleicht würde ich die agile Führung besser verstehen und genießen können, wenn ich mal die klare, alte, traditionelle Führung auf meiner Haut gespürt hätte.

 

Das hätte ich mir wohl nie wünschen sollen. Irgendwann im Verlauf meiner Berufskarriere habe ich einen Vorgesetzten bekommen, der die
schlimmste Variante von allem war. Die personifizierte traditionelle
Führung, der aber das Gewand oder die Kutte der agilen Führung
tragen wollte.

 

An dieser Stelle ein Dank an alle tollen Trainer in diesem Lande, die Tagesworkshops an Vorstände und Führungskräfte verkaufen mit den großen Stichworten oder Slogans mit dem Inhalt „Agilität und Scrum lösen alle eure Probleme“. Danke, dass Ihr im Keim bereits die Grundidee von Agilität zerstört. In einem oder zwei Tage werdet Ihr
nie ein Mindset ändern und Reorganisationen antreiben. Die Früchte
davon habe ich an dem besagten Vorgesetzten gesehen. Ein begnadeter
Verkäufer, der mit den Begriffen aus dem Agilitätsbaukasten souverän
jonglieren konnte, nur um sie so umzuinterpretieren, dass sie ihm und
seinen eigenen Interessen nützlich sind.

 

Spannende Sätze von ihm und was sie wirklich bedeuteten:
Transparenz ist die wichtigste Grundlage der Zusammenarbeit. Meine Mitarbeiter sollen mir alles mitteilen, ich werde ihnen jedoch nicht die Hintergründe meiner Strategie und Vorgehensweise erläutern. Mitarbeiter sollen offen Fragen stellen können, hierfür schaffen wir die entsprechenden Formate.

 

Ich habe einen Townhall ins Leben gerufen, auf der Fragen offen im
Kreis der gesamten Mitarbeiter gestellt werden. Allerdings werde ich
die Fragen, die für mich unangenehm sind und die ich nicht gut finde,
nicht beantworten, sondern die Fragenden angreifen. Dadurch habe
ich erreicht, dass die Mitarbeiter sich nicht mehr trauen, wichtige
Themen wie beispielsweise Überstunden, Überlast oder Arbeitszeiten
anzusprechen. Stattdessen diskutieren wir nun konstruktiv über
wesentliche Themen wie Mülltrennung oder die Notwendigkeit von
Toilettenpapier aus Umweltpapier.

 

Mitarbeiter sollen entsprechend ihrer Individualität gefördert werden.
Nach der Kündigung eines Mitarbeiters kommunizierte der Vorgesetzte,
derjenige sei sowieso zu stark familienbezogen und daher wäre die
Kündigung die beste Entscheidung für ihn gewesen. Er fügte den Satz
hinzu, dass jeder ersetzbar sei und dass der Nachfolger möglicherweise
sogar besser sei als der bisherige Mitarbeiter.
Das waren wirklich prägende Momente für mich, die mir zeigten, das
kann nicht der wahre Charakter der Führungskraft der Zukunft sein.

 

Die agile Führungskraft als dienende Führungskraft

In den 70er Jahren publizierte Robert Greenleaf einen Aufsatz „The
servant as Leader“. Er war selbst als Führungskraft als „Director of
Management Development“ auf die Fragestellung gestoßen, wie die
Führungskraft der Zukunft sein wird. Er erkannte, dass das heroische Manager-Verständnis des 20. Jahrhunderts, welches aus dem Taylorismus geprägt war, nicht mehr zeitgemäß war. Und so schrieb er von einer Umdrehung der Hierarchiepyramide. Eigentlich hat Greenleaf nur Erkenntnisse in eine neue
Hülle verpackt, die Benedikt von Nursia bereits einige Jahrhundert
zuvor bei der Gestaltung der Führungsstrukturen ausgesprochen hat.

 

Dienen und Führen bilden auf den ersten Blick einen Widerspruch in
der heutigen Welt. Die beiden Verben scheinen nicht zusammenzupassen. Jahrelang habe ich in der Gastronomie meiner Eltern ausgeholfen.
Als Jugendlicher habe ich es gehasst, meine Wochenenden in der Pizzeria zu verbringen und auszuhelfen. Erst Jahre später habe ich erkannt,
dass ich dort das Dienen erlernen durfte und somit eine Haltung, die
auch in jahrelangem Studium von niemandem gelehrt wird.

 

Durch das Kellnern bei meinen Eltern habe ich erlernt, schnell zu erkennen, welcher Typus von Mensch am Tisch sitzt. Mich einzufühlen
in mein Gegenüber. Zu erkennen, ob er einen Plausch haben möchte
oder in Ruhe gelassen werden will. Ihn proaktiv auf Themen anzusprechen. Zu erkennen, ob er sich in der Situation unwohl fühlt. Ich habe
gelernt, Gestik und Mimik zu interpretieren. Insbesondere lernt ein
Kellner schnell, auf die Launen der Gäste einzugehen und auf Unzufriedenheit angemessen zu reagieren.

 

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie begeistert wir von Kellnern in Restaurants sind, die überaus freundlich sind und die uns weiterhelfen
können, evtl. auch durch klare Anweisungen? Daraus schließen wir
sofort, dass das Restaurant oder Hotel toll ist.

 

Die Eigenschaften einer dienenden Führungskraft 

Aber welche Kompetenzen hat eine dienende Führungskraft? Basierend auf den Erkenntnissen von Robert Greenleaf und bereichert durch meine Erfahrungen aus den letzten Führungsjahren habe ich die wichtigsten Aspekte einer dienenden Führungskraft reflektiert und aufgeschrieben.

 

Führungskraft ohne Macht – Führungskraft mit Freiheit 

Z wie Zuhören

Der Kellner muss genau hinhören, um die richtige Bestellung in die
Küche und an die Bar zu bringen. Zuhören ist aber auch für die Führungskraft eine wichtige Tätigkeit. Sie muss auf die Mitteilungen und
die Kommunikation der Teammitglieder hören und auch zwischen
den Zeilen lesen können.

 

Von einem Mitarbeiter wurde mir einmal vorgeworfen, er würde sich
immer nicht gehört fühlen. Er hätte mich seit einem Jahr warnen
wollen bei Themen, aber ich hätte ihm nicht recht gegeben und nicht
die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich musste ihm traurigerweise
recht geben, ich hatte ihn mehrmals überhört. Er hatte mir immer mit
derart panischen Aussagen und mit Horrorszenarien die Probleme
dargestellt, dass ich irgendwann seine Aussagen nicht mehr ernst
genommen habe und diese immer mehr verdrängt habe. Irgendwann
habe ich mir wohl gedacht, er macht immer Panik. Daraus habe ich
gelernt, man kann auch hinhören, aber nicht verstehen wollen.

 

E wie Empathie

Der Kellner muss sich einfühlen in die Bedürfnisse des Gastes. Wenn
der Gast mitteilt, dass er eine Allergie oder Intoleranz hat, muss der
Kellner das deutlich verstehen und andere Gerichte vorschlagen. Er
muss aber auch über Taktgefühl verfügen und sich einfühlen in die
Situation: ein Tisch mit einem ersten Date zwischen zwei jungen Menschen wird anders bedient als ein Tisch mit einer Burschenschaft.

Zuhören: Vorurteilsfrei und aktiv zuhören

Empathie: Sich in die Rolle des Mitarbeiter einfühlen. Erkennen und verstehen der Probleme

Individualität achten: Fördern der eigene Entwicklung nach den individuelle Potenziale
Gemeinschaft: Das Gemeinwohl des Unternehmen im Fokus, nicht nur das eigene Team

 

Eigenverantwortung: Aufgaben abgeben und vertrauen

So ist es bei der Führungskraft, diese muss die jeweilige Sprache der
Mitarbeiter verstehen und deren Sorgen wie auch Freude mitfühlen
können.

 

I wie Individualität

Der Kellner stellt sich immer neu ein auf den vor ihm sitzenden Gast.
Eine Seniorin, die zum Kaffee und Kuchen vorbeikommt, wird anders
begrüßt und bedient, als eine junge Familie mit Kind und Hund. Sie
haben andere Bedürfnisse und werden auch andere Fragen stellen. Für
die einen ist die Speisekarte zu groß und unübersichtlich, die anderen
bemängeln die angeblich zu geringe Auswahl.

 

So ist es wichtig, die Individualität der Mitarbeiter zu achten und
deren Potenziale zu erkennen und fördern. Ich hatte ganz lange einen
sehr schweigsamen Mitarbeiter in meinem Team. Ich fragte mich oft,
ob er denn Spaß an der Arbeit hätte. Ich versuchte ihn tagtäglich zu
verstehen, mich einzufühlen und die Arbeit aus seiner Perspektive
zu betrachten. Es war eine ständige Herausforderung. Ich sprach ihn
eines Tages direkt an und er sagt mir, er sei einfach so. Er sei sehr
introvertiert und er würde auch zu Hause nicht viel reden. Ich war
beruhigt, es lag nicht an mir oder an der Arbeit, ab dem Moment habe
ich seine Individualität viel stärker respektiert, ohne immer wieder zu
versuchen ihn zu lockern oder zu aktivieren.

 

G wie Gemeinschaft

Als Kellner erlernt man sehr schnell, was es bedeutet, zusammen zu
arbeiten, anstatt gegeneinander zu arbeiten. Wenn man nicht zum
Wohl des Unternehmens arbeitet und nur auf den eigenen Bereich
schaut, wird die Unternehmung dies sehr bald in den eigenen Ergebnissen erkennen. Ein Kellner muss aber auch proaktiv die Tagesgerichte hervorheben, da er sonst Stress von der Küche bekommt, die die Pfifferlinge oder den Rucola nicht lange frisch halten kann. So muss die dienende Führungskraft immer eine Vogelperspektive behalten und
die Schnittstellen und Konsequenzen in der Organisation erkennen.

 

E wie Eigenverantwortung

Die Eigen-Verantwortung hat zwei Aspekte, das ichbezogene „Eigen“
und „Verantwortung“ gegenüber anderen. Das Ichbezogene ist, sich der
eigenen Rolle bewusst zu werden. Verantwortung gegenüber anderen
bedeutet, die eigene Rolle auszufüllen, ohne überall mitmischen zu
wollen in den Aufgaben und Rollen der anderen Mitarbeiter. Ich muss
meine Kollegen ihre Arbeit machen lassen ohne mich einzumischen
über das Wie und über deren Geschwindigkeit. Wenn jeder den Koch
spielen will, wird keiner den Gast bedienen.

 

Die Aufgaben der dienenden Führungskraft

Gelegentlich wurde ich von anderen Führungskräften als faul und
zurückhaltend wahrgenommen. Die meisten meiner Kollegen sahen
mich meist nur am Quatschen, im Austausch mit meinen Mitarbeitern
oder Kaffee trinkend mit meinem Team. Nur selten traf man mich an
meinem Schreibtisch an. Diesen Aufgaben ging ich früh morgens oder
spät abends nach. Die übrige Zeit nutzte ich für Gespräche mit den
Mitarbeitern.

Um Führung zu übernehmen, müssen Führungskräfte wissen, was in
ihrem Laden los ist, was vor sich geht. Sie müssen mit den Mitarbeitern
in Kontakt bleiben, über Hindernisse und Erfolge Bescheid wissen.
Ich habe, unbeeindruckt von den Aussagen meiner Führungskollegen und
Geschäftsführer, viel Zeit mit meinen Mitarbeitern verbracht. Ich habe
bei ihnen am Tisch gesessen, mit ihnen die Mittagspausen verbracht.
Ich habe Interesse an ihrem Leben und ihren Schwierigkeiten gehabt.

 

Eine Führungskraft sagte mir im Rahmen eines Workshops, sie würde
schon Magenschmerzen bekommen, wenn sie ihre Mitarbeiter sehen
würde. Sie hätte keine Lust, sich mit deren Alltagsproblemen auseinanderzusetzen. Dafür hätte sie doch wirklich nicht studiert.

 

Das Interesse und die Liebe am Mitmenschen sind die Grundlagen für
die dienende Führungskraft. Es ist ein Interesse an der Zusammenarbeit, aber auch an den Menschen, die der Führungskraft anvertraut worden sind.
Ein dienender Führungsstil ist deutlich schwieriger umzusetzen als
ein Top-down-Führungsstil, bei dem man eine Aufgabe vorgibt und
das Team diese zu bearbeiten hat. Da braucht man nicht viel zu wissen
über die Fähigkeiten oder Befindlichkeiten des Einzelnen. Wichtig
ist nur das Ergebnis. Als dienende Führung erfordert es Nachdenklichkeit, wem kann ich dies oder jenes zumuten und die Fähigkeit, die eigene Individualität nicht nur erkennen, sondern auch schätzen zu lernen. Dies beginnt bereits bei der Einstellung der Mitarbeiter.

 

Ich brauche keine eifrigen Bienen, die alles durchboxen. Ich brauche
engagierte Mitarbeiter, die mit Leidenschaft ihre Stärken einsetzen.
Genau hier dockt eine gute dienende Führungskraft an. Sie erkennt
den Stein bereits unpoliert und verhilft dem Mitarbeiter seine Stärken
zu erkennen und aus dem Stein den Diamanten zu schleifen.
„A servant-leader loves people and wants to help them.
The mission of a servant-leader is, therefore, to identify the
needs of others and try to satisfy those needs.“

 

So wird es erklärt von Kent Keith, dem Vorsitzenden des Greenleaf
Center for servant leadership. Die Führungskraft versteht sich dabei
als Coach und Trainer, nicht als Lenker und Führer. Hierzu benötigt
man eine Menge Demut, welche allzu häufig beim Erklimmen der
Karriereleiter verloren geht.

 

„Der Herrscher ist der erste Diener des Staates.“
Friedrich der Große

Demut, weil man als Führungskraft auf einmal nicht immer auf der
Bühne steht und die Lorbeeren abholt. Das Ziel der Führungskraft ist
hier, Individuen zu helfen, zu begeistern und auch, ihnen Grenzen zu
setzen. Die Individualität zu stärken ist aber nur dann möglich, wenn
die eigene Individualität erkannt worden ist und die eigenen Stärken
und Schwächen entdeckt worden sind.

 

Hierzu werde ich noch in den  weiteren Kapiteln schreiben, die sich dem agilen Mitarbeiter widmen werden.

 

Für die deutsche Unternehmenslandschaft ist die Begrifflichkeit „dienende Führung“ häufig mit einer christlichen Konnotation verbunden.

 

Dies behinderte in vielen Workshops das Verständnis und den Zugang
zu diesem Prinzip, welches meiner Ansicht nach sehr gut losgelöst von
einer christlichen Sichtweise betrachtet werden kann. In der deutschen
Managementliteratur hat man das dienende softer beschrieben mit
dem Ausdruck „Führung als Dienstleistung“.

 

Hierbei wird die Führungskraft als Dienstleister gegenüber den Mitarbeitern in der Vergabe von Aufgaben und in der Lösung von Problemen der Mitarbeiter gesehen und als Dienstleister gegenüber der Organisation, in der Führung
von Mitarbeitern und Einhaltung der Organisationsziele. Spannend ist
hierbei die zweifache Betrachtungsweise, sowohl auf das Verhältnis zu
dem Mitarbeiter wie auch auf das zur Organisation.

 

In Deutschland gibt es bereits die ersten Schritte im Bereich „Führung
als Dienstleistung“, einige Unternehmen haben begonnen, ihre Organisation darauf einzustellen. Hier ein Beispiel, wie der Führungsstil im
Leitbild verankert ist:

◆ Wir schaffen für unsere Mitarbeiter die Freiräume zur Stärkung ihres
individuellen Leistungspotenzials und zur Erschließung des vollen
Kundenpotenzials.

◆ Wir verbinden systematische Mitarbeiterentwicklung mit aktivem
Wissens- und Innovationsmanagement als Voraussetzung dafür, dass
jeder die Zukunft mitgestalten kann.

◆ Wir fordern und fördern unternehmerisches Handeln jedes Einzelnen in seinem definierten Verantwortungsbereich, um den Erfolg des
Unternehmens und seiner Kunden weiter zu steigern.
Interessant ist hierbei, wie das Unternehmen die Säulen der Führung
als Dienstleistung gesetzt hat.

◆ Individualität des Mitarbeiters stärken

◆ Mitarbeiterentwicklung im Fokus

◆ Zukunft gemeinsam mitgestalten

◆ Unternehmerisches Handeln im Verantwortungsbereich

 

Themen, die immer wieder in diesem Buch vorkommen werden, in
den verschiedenen Kapiteln und die meiner Meinung nach auch die
Prinzipien von Agilität repräsentieren.

 

Im Juni 2018 habe ich an einem Symposium teilgenommen mit dem
spannenden Titel „Dienende Führung – Von der Gier zum Wir“. Eine
Reihe renommierter Wirtschaftswissenschaftler debattierte darüber,
welche Art von Führungskraft die Organisationen der Zukunft benötigen werden. Daran anschließend dann die Fragestellung, wie können wir in unseren Universitäten dem Nachwuchs dienende Führung beibringen.

 

Hier hatte ich die Gelegenheit, interessante Ideen und Gedanken zum
Konzept der dienenden Führungskraft zu sammeln. Die Führungskraft, die Verantwortung übernimmt nicht nur dafür, Organisationsziele zu erreichen, sondern vielmehr auch dafür, die eigenen Mitarbeiter zu „führen“.
Hierbei verstehe ich unter „führen“ vor allem, Leben in den Menschen
wecken, Leben aus ihnen hervorzulocken. Sie die Leidenschaft in ihren Aufgaben entdecken zu lassen. Menschenführung bedeutet in einem agilen Sinn auch, Menschen beim Wachstum zu helfen. Dies ist ein Mindset, eine klare Haltung. Dafür braucht man ein starkes und selbstbewusstes Sein als Führungskraft.

 

Die dienende Führungskraft ist diejenige, die authentisch und demütig
Hindernisse für die Mitarbeiter ausräumt, aber auch fähig ist, sich
überflüssig zu machen. Hier gewinnen Management und Führung eine
viel größere Rolle als nur die Methode der Steuerung eines Unternehmens, es gewinnt eine gesellschaftliche Rolle. Dienende Führungskraft bedeutet nicht Unterordnung, sondern als Vorbild Freiräume der Entwicklung zu schaffen, aber wohlwissend, dass eine disziplinarische Kraft als Leitplanke da ist.

 

„Management hat eine gesellschaftliche Funktion, ist eine
berufliche Aufgabe, deren Kern weder Reichtum noch Rang ist,
sondern die Verantwortung bildet, über allem wissentlich keinen
gesellschaftlichen Schaden anzurichten.“

 

Die agile Führungskraft führt ihre Teams durch Ziele, die sich direkt
aus der Unternehmensvision ableiten, und die idealerweise gemeinschaftlich vereinbart werden. Die agile Führungskraft bewertet und steuert keine Menschen, sondern die Erfüllung von objektiv bewertbaren Zielen. Die frei gewordenen Kapazitäten (die vorher für Befehls- und Kontrollstrukturen auf der Mikroebene eingesetzt wurden) werden in strategische Aktivitäten investiert. Zu den wichtigen
strategischen Aufgaben einer agilen Führungskraft gehört die Pflege,
Stärkung und konsequente agile Ausrichtung des eigenen Teams. Die
agile Führungskraft ist diejenige, die sich überflüssig machen kann.
In agilen Organisationen wird ein anderes Menschenbild zugrunde
gelegt als in traditionellen Führungsstrukturen mit Befehls- und
Kontrollstrukturen.

 

Damit ist für den Servant Leader klar, dass Führen mit einer Haltung
des Dienens beginnt. Und dem Vertrauen darauf, dass sich der Geführte der Führung freiwillig anschließt, anstatt sich institutionalisierter „Macht“ zu beugen. Dabei kann Servant Leadership sowohl auf die Interaktion zwischen Personen als auch ganze Teams übertragen werden.

 

Es ist ein klarer Wandel angesagt in den Organisationen, nicht nur in
agilen Organisationen, sondern auch in traditionellen Unternehmen,
die noch jungen Nachwuchs als Mitarbeiter haben möchten. Menschen
suchen eine andere Art der Führung. Sie suchen eine Führungskraft,
die ihnen in ihrer Lernkurve weiterhilft, anstatt um sie herum ein
Kontrollsystem aufzubauen.

 

Insbesondere für die Führungskräfte von heute ist eine große Transformation notwendig. Sie müssen Macht abgeben, sie werden aber
dafür Freiheit gewinnen. Sie müssen Konflikte lösen, aber nur so kann
eine einwandfreie Zusammenarbeit funktionieren. Sie müssen Demut
und Menschenliebe lernen. Dafür erhalten sie aber Mitarbeiter voller
Leidenschaft und die eigene Gesundheit wird es ihnen danken. Leidenschaftliche Mitarbeiter erledigen ihre Arbeit voller Engagement
und als Führungskraft wird man eher zurückhaltend sein können und
die gewonnenen Freiräume genießen können. Es benötigt aber Mut
und Ausdauer, sich auf den Weg zur dienenden agilen Führungskraft
aufzumachen und das entsprechende Mindset aufzubauen.“

 

Die Zukunft hat viele Namen. Für Schlaue ist sie das Unerreichbare,
für Furchtsame das Unbekannte, für Mutige die Chance.“ Victor Hugo

Benediktinische Anmerungen zu Führungskraft ohne Macht – Führungskraft mit Freiheit

Liest man die vorausgehenden Bemerkungen zum dienenden Führen, meint man, ein in modernes Management-Sprech übersetztes Exzerpt der Benediktsregel vor sich zu haben. In dieser ist dem Dienen eine führende Rolle im Tugendkatalog für die Mitglieder eines Mönchskonventes zugewiesen, und zwar auf allen Hierarchieebenen.
Benedikt verwendet dafür den traditionellen Namen Demut.

 

Von der Geschichte dieses Wortes und der damit verbundenen Bedeutung
heißt Demut nichts anderes als „Wille zum Dienen“. In der lateinischen Entsprechung „humilitas“ wird mit der Konnotation „humus“ die Bodenständigkeit beschworen. Jeder, der in ein Kloster eintritt, das nach der Regel des hl. Benedikt lebt, soll auf dem Boden bleiben. Das heißt, er soll er selbst bleiben und nicht versuchen ein anderer sein zu
wollen, also mehr zu scheinen als zu sein. Heute würde man wohl von
Authentizität sprechen. In besonderem Maße gilt das für den CEO im
Kloster, den Abt und seine „Vorstandskollegen“, den Cellerar (CFO) und
den Prior, seinen Stellvertreter (Vice-president).

 

Schon im 2. Kapitel der Regel wird eine Art Stellenbeschreibung des Abtdienstes dargelegt. Da heißt es u. a.: „Er muss wissen, welch schwierige und mühevolle Aufgabe er auf sich nimmt: Menschen zu führen und der Eigenart vieler zu
dienen. Muss er doch dem einen mit gewinnenden, den anderen mit
tadelnden, dem dritten mit überzeugenden Worten begegnen. Nach
der Eigenart und Fassungskraft jedes Einzelnen soll er sich auf alle einstellen und auf sie eingehen.“

 

Im lateinischen Original heißt es: „multorum moribus servire“ und „se omnibus conformet et aptet“. Wörtlich müsste man übersetzen: er muss der Eigenart vieler dienen, sich allen gleichförmig machen und sich anpassen.

 

Ein Mitglied der benediktinischen Übersetzerkommission der Regel meinte, da das Wort
„anpassen“ im kirchlichen Sprachgebrauch nicht gut klingt, habe man
die weichere Fassung mit „einstellen und eingehen“ gewählt.
Was für die Kirche gilt, gilt auch für Unternehmen. Das würde wohl
zu sehr an der Ellenbogenmentalität und Durchsetzungskraft der
Leader kratzen, wenn man von ihnen Anpassung an die Eigenarten
ihrer Mitarbeiter verlangte.

 

Aber es entspricht doch der Erfahrung im menschlichen Miteinander: Eigentlich kann ich andere nicht ändern, sondern nur mich selbst. Oder wie der Management-Guru Peter F. Drucker meint: „im letzten muss die Führungskraft nur eine einzige
Person führen, nämlich sich selbst.“ Weiter wird der Abt ermahnt,
„mehr durch sein Leben als durch sein Reden“ zu überzeugen.

 

Überhaupt ist das Vorleben dessen, was von allen gefordert wird,
das Beispielgeben, eine der Hauptanforderungen an die „Funktionäre“
der Gemeinschaft. Benedikt spricht von den „exempla maiorum“, dem
Beispiel der Oberen. Im Anforderungsprofil an einen neu zu bestellenden Abt, dem 64. Kapitel wird ausdrücklich verlangt, „er wisse, dass er mehr helfen als herrschen soll“. Lateinisch: magis prodesse quam praeesse, lautmalerisch übersetzt: er soll mehr vorsehen als vorstehen.

 

Seine Amtsführung sei so, „dass er mehr geliebt als gefürchtet wird“ (plus amari quam timeri). Cholerisches Führungsverhalten führt wohl nicht zu Liebe, sondern eher zu Angst. Führung durch Sog statt Führen mit Druck, so müsste man Benedikt
mit modernen Worten interpretieren. Es heißt, dass bei einer Befragung der erfolgreichsten amerikanischen Unternehmensgründer, was
denn nun das Geheimnis ihres Erfolges sei, ihre Antworten auf einen
gemeinsamen Nenner gebracht werden konnten: „You have to love people!“ Im Deutschen kann man es mit den berühmten 4 Ms ausdrücken:
„Man muss Menschen mögen.“ Lieben – mögen – das findet seinen
Ausdruck in zugewandter Kommunikation.

 

 

 

 

 

 

 

 

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