Buchauszug Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader: „Mein Chef ist irre – Ihrer auch?“

Buchauszug von Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader: „Mein Chef ist irre – Ihrer auch?“

 

Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader (Foto: Privat/Ullstein)

 

Das Waffenarsenal psychopathischer Chefs

Es gibt nicht nur ganz unterschiedliche psychopathische Chef-Typen; sie benutzen auch unterschiedliche Waffen im täglichen Kampf um ihren Erfolg, Macht, Geld und Anerkennung. Jede dieser Waffen ist dazu geeignet, andere zu unterwerfen, gefügig zu halten, zu quälen und bei vermeintlichem Ungehorsam abzustrafen. Während es zu Zeiten der mittelalterlichen Inquisition brutale Bestrafungsrituale gab – von der Daumenschraube bis zum Blenden mit dem glühenden Eisen –, haben wir es heutzutage in der Arbeitswelt mit vor allem psychologischen Foltermethoden zu tun.

Sie denken, wir übertreiben? Das Waffenarsenal der Chefs ist erschreckend vielseitig. Es gibt eine Menge direkter sowie subtiler, handlungsorientierter wie verbaler Methoden, die zum Einsatz kommen, wenn Psychopathen auf ihre Opfer losgehen. Einige der Folterinstrumente haben Sie schon in den Beispielgeschichten kennengelernt.

Manche kennen Sie vielleicht selbst aus leidvoller Erfahrung. Sie reichen von Kontakt- und Informationsverweigerung über die Verbreitung übler Gerüchte, Attacken auf das Ansehen und die Persönlichkeit bis hin zur Androhung von Konsequenzen wie der Kündigung und sogar die Anwendung von Psychoterror bis hin zu angedrohter körperlicher Gewalt. Ja, Sie haben richtig gelesen, auch körperliche Gewalt ist in manchen Unternehmen im Spiel – nicht etwa nur im „Milieu“ oder einem anderen Bereich der Schattenwirtschaft. Auch im Topmanagement von Konzernen kommt es zu veritablen Drohungen und dann leider auch zu deren konsequenter Umsetzung.

So wurde uns von einem Geschäftsführer berichtet, der im Rahmen von Verhandlungen mit dem Betriebsrat verbal extrem ausfällig wurde. Als ein vom Betriebsrat hinzugezogener Sachverständiger die Realisierbarkeit von Planungen des Geschäftsführers anzweifelte, sprang dieser auf und schrie unbeherrscht: „Sie mögen ja für vieles ein Sachverständiger sein, aber hiervon haben Sie überhaupt keine Ahnung! Wenn Sie weitersprechen, gehen wir beide vor die Tür!“

Sich solcherlei Methoden zu bedienen, verleiht Psycho-Chefs die Macht, andere in ihrer Möglichkeit zu beschneiden, sich frei und kritisch zu äußern, wenn nicht gar ganz mundtot zu machen. Ein Blick nach Russland offenbart ein viel diskutiertes, prominentes Beispiel der jüngeren Zeit: Der Umgang mit Alexei Anatoljewitsch Nawalny, russischer Rechtsanwalt und oppositioneller Dissident, ist nur ein Beispiel von vielen. Unter Zuhilfenahme von Drohszenarien disziplinieren, manipulieren, schikanieren und demütigen despotische Chefs ihre Mitarbeiter, um eigene Interessen hemmungslos durchsetzen zu können.

So unterschiedlich die Methoden und Vorgehensweisen auch sind, sie lassen sich vier Kategorien zuordnen:

  1. Einschüchtern, erpressen und terrorisieren   
  2. Isolieren, ausgrenzen und kaltstellen
  3. Täuschen, lügen und betrügen
  4. Benachteiligen, ungerecht behandeln und ausbeuten

Die meisten Handlungen von psychopathischen Chefs sind einer dieser vier Kategorien zuzuordnen oder stellen eine Kombination aus mehreren dar.

So können die Machiavellisten, die andere in ihrem Sinne manipulieren, dies auf verschiedene Weisen tun: Manipulieren kann man, indem man lügt, indem man andere erpresst oder ausgrenzt und dadurch psychischen Druck und Angst aufbaut. Manipulation kann auch bedeuten, dass man andere ungerecht behandelt und ihnen eine Falle stellt, um sie dann öffentlich der Dummheit oder groben Fahrlässigkeit zu beschuldigen.

Die Methoden können simpel sein, in ihrer Wirkung jedoch trotzdem fatal. Ein Beispiel gefällig? Führungskraft A möchte Mitarbeiter B loswerden. Deshalb geht Führungskraft A zu Mitarbeiter C und fragt diesen, was denn Mitarbeiter B konkret im Team leiste – er sehe dies nämlich nicht. Mitarbeiter C fühlt sich überrumpelt und beichtet Mitarbeiter B, zu dem er ein gutes Verhältnis hat, dass Führungskraft A bei ihm vorstellig wurde.

Mitarbeiter B fühlt sich gemobbt und beginnt, wie für Mobbingopfer typisch, an sich zu zweifeln. So macht er erst kleinere und, nachdem er im weiteren Verlauf von Führungskraft A scharf darauf angesprochen wird, zunehmend größere Fehler, weil der psychische Druck ihm zusetzt. Er zweifelt immer mehr an sich und verlässt am Ende das Unternehmen – Führungskraft A hat ihr Ziel erreicht. Das ist das Tückische an den geschickteren unter den Psychopathen: Sie können andere in den Wahnsinn treiben und Existenzen zerstören, ohne sich auf dem Papier etwas zuschulden kommen zu lassen.

 

Einschüchtern, erpressen und terrorisieren

Unter Druck setzen, drohen, quälen, einschüchtern, erpressen, terrorisieren – Psychopathen in Führungspositionen verstehen es, auf vielfältige Weise Angst zu erzeugen, damit die Mitarbeiter nach ihrer Pfeife tanzen. Ihre Opfer haben Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder vor Statusverlust. Sie fürchten sich davor, bloßgestellt und lächerlich gemacht zu werden. Andere ängstigt die Vorstellung, heftig angegangen zu werden, verbal oder sogar mit körperlicher Gewalt oder der Androhung derselben. Was auch immer geeignet sein mag, einen bestimmten Mitarbeiter in die Enge zu treiben: Ein Psychopath hat ein besonders feines Gespür dafür.

Viele der Klienten, die uns in Beratungsgesprächen von ihren Vorgesetzten berichten, haben Angst. Einige von ihnen so sehr, dass sie es vorziehen, freiwillig zu kündigen. Andere müssen sich in psychologische Behandlung geben. Einige schaffen es, ihre Angst zu unterdrücken oder zu überspielen, sodass sie von ihrem Umfeld nicht bemerkt wird – was auf lange Sicht ebenfalls gefährlich werden kann. Ein solcher Fall liegt im folgenden Beispiel vor, das wir im O-Ton wiedergeben. Zur Verfügung gestellt wurde es uns von einer berufserfahrenen, promovierten Geisteswissenschaftlerin in einer halbstaatlichen Institution.

 

„Du weißt, ich sitze am längeren Hebel“

Mich beschäftigt, was ich wohl schreiben könnte über einen Mann, der nach Feierabend durch die Büros geht, um die Papierkörbe seiner Mitarbeiter nach Informationen zu durchsuchen, die er im passenden Moment gegen sie ausspielen könnte. Ein Mann, der Sachverhalte erfindet, Lügen verbreitet, Gerüchte streut. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nichts schreiben werde. Zugegeben, aus Angst. Da gibt es die Redensart: „Man trifft sich immer zweimal im Leben.“ Und deswegen – nein! Solange mich der Mann sozusagen in der Hand hat – nein! Womöglich bekommt er meine Zeilen zu lesen, bringt sie mit mir in Verbindung, und ich bin raus. Egal, welches Beispiel, ich verrate kein einziges.

Man mag denken, meine Zeilen sagen mehr über mich als über meinen Chef aus. Sicher tun sie das auch, Spekulationen erlaubt. Aber auf der anderen Seite sehe ich viele ehemalige Mitarbeiter, die nicht mehr da sind. Die, die ihm nicht nach dem Munde redeten, die eine eigene Meinung vertreten hatten, die seine Intrigen nicht hinnehmen.

Das Perfide an seinem Herrschaftssystem ist: Wer sein Regime duldet, um nicht rauszufliegen, hängt am Fliegenfänger. Man kann das auch Erpressung nennen. „Wenn du mich verrätst, bist du weg vom Fenster. Ich weiß, welche Leichen du im Keller hast. Im Zweifel wird man mir glauben, nicht dir. Du weißt, ich sitze am längeren Hebel.“

Diesen Mann umgibt ein Klima der Angst. Und deswegen gibt es auch kein Gerede, gar nichts. Als würde es den Chef und seine Machtspiele gar nicht geben. Alle sind stumm. Zumindest wenn es um ihn geht. Dagegen lautet ansonsten jeder zweite Satz: „Ist gut, das werde ich mit Herrn X besprechen. Ist gut, ich gebe das dann so weiter. Ist gut, ich werde Herrn X informieren.“ In allen Variationen.

In meiner Position kenne ich andere Abteilungen. Ich kann direkt vergleichen. Die Kollegen dort sind offen! Es sind Kollegen, die sich über ihren Vorgesetzen auch mal „auskotzen“, die laut lästern und die auch hin und wieder – sagen wir es ruhig – Mist erzählen. Aber die sich trauen, alles laut auszusprechen, was sie bewegt. So ist das eben. 

Ich aber bleibe stumm. Punkt!

 

 

Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader: „Mein Chef ist irre – Ihrer auch?“ 368 Seiten, 17,99 Euro, Econ Verlag Mein Chef ist irre – Ihrer auch? – Paperback | ULLSTEIN (ullstein-buchverlage.de)

Am langen Arm verhungert

Eine andere Methode, Druck aufzubauen, hat der Chef im nächsten Beispiel entwickelt. Er hält seinem Mitarbeiter den „Wurstzipfel“ vor die Nase, um ihn anzutreiben. Außerdem ist er unberechenbar, trifft willkürliche Aussagen und Entscheidungen und lässt den Untergebenen nie zur Ruhe kommen. Ein ständiges Spiel mit der Angst. Wie bei einer Katze, die mit der Maus spielt – und doch ist klar, dass es am Ende kein Entrinnen gibt. Die Katze gewinnt immer, die Maus überlebt nie. Klaus berichtet, was er erlebt hat.

Als ich meine zunächst auf zwei Jahre befristete Tätigkeit als Referent im öffentlichen Dienst aufnahm, war mein Vorgesetzter bereits seit zehn Jahren Leiter der Bildungseinrichtung. Schon kurz nachdem ich angefangen hatte, ließ er durchblicken, dass er selbst eigentlich auf eine Versetzung auf eine andere, höhere Position innerhalb des Unternehmens gehofft hatte. Stattdessen war sein bisheriger Stellvertreter versetzt worden. Dessen vakante Stelle hatte ich übernehmen dürfen – rückblickend ein heikles Erbe. Damals erschien mir das als ein großes Glück, ich war gerade mit meiner Promotion fertig, mein Engagement in der Uni endete.

Ich wunderte mich, warum er mir das erzählte, dachte mir aber nichts dabei. Ich war ja glücklich und zufrieden, denn ich hatte einen neuen Job.

Zunächst verlief die Zusammenarbeit zwischen meinem Chef und mir recht gut. Von Anfang an wollte ich durch gute Leistungen und Engagement mein Interesse an meiner Entfristung signalisieren. Und mein Vorgesetzter beurteilte meine Leistungen während der Probezeit auch in jeder Hinsicht positiv.

Doch dann ging es los: Meine engagierte Arbeitsweise missfiel ihm zunehmend. Einmal sagte er: „Du musst keinen Rekord aufstellen, wir arbeiten hier nicht im Akkord. Gib nicht immer 120 Prozent, damit machst du es deinen Kollegen nur schwerer.“ Bei anderer Gelegenheit warf er mir plötzlich vor, für bestimmte Aufgaben zu viel Zeit zu benötigen. „Daran musst du arbeiten, Klaus. So geht das nicht. Denk nur nicht, dass die Entfristung deines Vertrags schon sicher ist.“

Das passte irgendwie alles nicht zusammen.

In einem Mitarbeitergespräch hagelte es dann ausschließlich – teilweise sogar sehr unsachliche – Kritik. Nachdem ich auf eine entsprechende Frage meine Stärken aus eigener Sicht genannt hatte, versuchte mein Vorgesetzter, jede dieser Stärken zu widerlegen. So wurde aus meiner Aussage „Ich bin vielseitig interessiert“ ein „Ja, du bist vielseitig interessiert, aber du solltest dich für noch mehr Themen interessieren“. Außerdem warf mir mein Chef vor, dass er viel Zeit in meine Einarbeitung investiert habe. Dass dies zu seinen Aufgaben als Einrichtungsleiter gehörte, blendete er wohl bewusst aus. Manche Äußerungen meines Vorgesetzten hinsichtlich meiner Arbeitsleistung empfand ich als unfair und demotivierend. Besonders bitter war für mich die Gesamtbeurteilung: „Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich noch unentschlossen, ob ich mich für deine Weiterbeschäftigung aussprechen soll.“ Eine Entscheidung wollte er sechs Monate später treffen. Bis dahin sollte ich zeigen, dass ich es „wert“ bin, weiter beschäftigt zu werden.

Also riss ich mir förmlich den Allerwertesten auf. Doch am Ende hat das alles nichts genutzt. Mein Chef verweigerte mir, ohne mit der Wimper zu zucken, eine unbefristete Festanstellung, und ich stand mit Ablauf meines Arbeitsvertrags wieder auf der Straße. Natürlich habe ich mich tierisch aufgeregt und mir gedacht: Verdammter Mist, jetzt habe ich mich für nichts und wieder nichts ins Zeug gelegt. Alles gegeben und nichts erreicht! Im Nachhinein betrachtet, bin ich wohl gerade an meinem Engagement gescheitert. Der Chef wollte nicht noch einen Stellvertreter, der durch Leistung auffällt und ihm dadurch bei der Beförderung wieder vorgezogen wird. Meine Bemühungen waren also von Anfang an umsonst gewesen: In seinem Machtbereich hatte ich nie eine Karrierechance gehabt. Wie konnte ich nur so naiv sein!

 

Isolieren, ausgrenzen und kaltstellen

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und wer von anderen Menschen ausgegrenzt wird, leidet. Das beginnt schon im Kindergarten und in der Schule. Auf dem Pausenhof stehen die Grüppchen mit den „coolen“ Leuten herum, andere dürfen sich nicht dazustellen. Wer nicht dazugehört, kann sich schnell schrecklich einsam und schmerzlich isoliert fühlen.

Auch im Berufsleben ist der gute Kontakt zu anderen enorm wichtig. Meinungsaustausch und konstruktives Feedback sind notwendige Voraussetzungen, um berufliche Probleme erfolgreich lösen zu können. Small Talk im Büro und Treffen in der Kaffeeküche sind der soziale Kitt, der die Menschen bei der Arbeit zusammenschweißt. Wer daran nicht teilnehmen kann oder darf, wird zum Außenseiter, vereinsamt und ist irgendwann komplett abgeschrieben. Das wissen die psychopathischen Chefs und setzen Ausgrenzung gegen Mitarbeiter gezielt ein, um sie kaltzustellen, in Selbstzweifel zu stürzen und schlussendlich loszuwerden.

Isolation ist ein sehr wirkungsvolles Bestrafungsinstrument: Die so betroffene Zielperson ist auf sich allein gestellt. Ihre Umgebung verhält sich abweisend und unfreundlich bis offen feindlich. Unter solchen Umständen kann kaum jemand seine normale Leistung abrufen. Die Ausgrenzung zerrt an den Nerven. Sie fördert Fehler und Unsicherheit – denn der Betroffene kann sich oftmals nicht wirklich erklären, warum das alles geschieht.

Die Anzeichen für Ausgrenzung sind vielfältig. Typisch sind zum Beispiel die folgenden Indikatoren:

 

  • Der Vorgesetzte ist nicht mehr erreichbar (Begründung: leider kein Termin frei).
  • Eine Strafversetzung in einen Raum weitab von den übrigen – insbesondere von für die Zielperson wichtigen – Kollegen erfolgt.
  • Der Betroffene wird von Arbeitskollegen und Führenden ignoriert und wie Luft behandelt (meist wurden ihnen das indirekt nahegelegt).
  • Die Zielperson wird vom üblichen Informationsfluss ausgeschlossen und hat so Schwierigkeiten, ihre Arbeit normal zu erledigen.
  • Bei der Verteilung von Aufgaben wird das Opfer entweder übergangen oder bekommt gezielt undankbare oder unmögliche Aufgaben zugeteilt.

Wie im Kindergarten kann auch im Berufsleben das Ausgrenzen ganz klein anfangen. Manche Kollegen werden in der Mittagspause demonstrativ nicht mit in die Kantine oder zum Lunch in ein kleines Restaurant in unmittelbarer Nähe mitgenommen, wo dann informelle Kontakte intensiviert und Strippen gezogen werden. So weit, so fast noch normal. Wenn aber Vorgesetzte einige ihrer Mitarbeiter ausgrenzen, dann ist das doch schon etwas anderes und deutlich vernichtender als unter Kollegen. Meistens grenzen Chefs sehr gezielt mit voller Absicht aus. Auch das kann ganz unscheinbar beginnen.

 

Ausgrenzung hat viele Facetten

Ein Abteilungsleiter in der Finanzbranche dreht seine morgendliche Runde und gibt allen Mitarbeitern die Hand, nur einer Kollegin nicht. Warum? Weil sie kein teures Kostüm trägt wie alle anderen, sondern Bluse und Rock von H&M. Das empfindet der Chef als peinlich, und deswegen ignoriert er die Kollegin völlig, als wäre sie gar nicht im Raum. Er nimmt es persönlich, dass in seiner Abteilung (ohne Kundenkontakt!) jemand den unausgesprochenen Dresscode nicht befolgt.

Oft werden solche diskriminierenden Verhaltensweisen verharmlost und als Macken abgetan, nach dem Motto: „Der Chef ist eben ein komischer Typ.“ Wie ernst die Lage wirklich ist, wird erst deutlich, wenn die Ausgrenzung zu einem Dauerzustand wird. Wie bei Maria. Seit einiger Zeit kommt sie in der Projektgruppe nicht mehr zu Wort. Vor allem ihr Kollege Maik unterbricht sie jedes Mal, wenn sie beim Meeting etwas sagen will. Der Projektleiter Hanno unterbindet die Unterbrechungen jedoch nicht, im Gegenteil: Er würgt sie selbst immer häufiger ab oder ignoriert ihre Wortmeldungen. Maria hat mehrfach versucht, die Probleme anzusprechen – vergeblich. Ihre Kollegen haben nur mit den Schultern gezuckt. Chef Hanno verbat sich sogar weitere Kritik. Maria kann sich das alles nicht erklären.

Karl-Heinz macht in seiner Firma eine andere Erfahrung: Sobald er sich den Kollegen nähert, verstummen seit einiger Zeit alle Gespräche. Sein „Guten Morgen!“ findet keinen Widerhall. Wann ist er das letzte Mal gemeinsam mit den anderen zum Mittag gegangen? Das muss schon lange her sein. Und warum hat nie jemand Zeit, wenn Karl-Heinz versucht, ins Gespräch zu kommen? Zu guter Letzt wurde er aus dem Großraumbüro in ein Einzelzimmer versetzt, das eher eine Kammer ohne Fenster ist – gleich neben den Toiletten. Dass er sich das bieten lassen muss, obwohl er schon seit 30 Jahren in der Firma arbeitet und immer loyal war! Was ist da nur los?

Ausgrenzung hat viele Facetten und kommt in der Arbeitswelt leider sehr, sehr häufig vor. Bei Psychopathen kann schon eine Kleinigkeit der Anlass sein, um eine Ausgrenzungskampagne gegen bestimmte Mitarbeiter in Gang zu setzen. Betroffene kommen dann auf eine Art schwarze Liste und werden systematisch kaltgestellt. Da gibt es keine Bereitschaft, sich mit dem Betroffenen auseinanderzusetzen, den Dialog aufzunehmen, eventuelle Missverständnisse zu beseitigen, zu vergeben und zu vergessen, irgendwie neu anzufangen. Im Gegenteil, da wird „nachgetreten“, die Daumenschrauben werden noch fester angezogen. Genau das ist es, was für die Betroffenen oft am schwersten zu verdauen ist – egal, was sie versuchen, sie rennen plötzlich gegen eine Betonwand. Einen solchen Zustand halten die wenigsten Menschen lange aus.

 

Ab ins Verlies

Die Wirtschaftsingenieurin Sabine (Anfang 40) bekam es mit einer besonders gefährlichen Chefin zu tun, die sie mehrfach an ihre Grenzen brachte. Sabine arbeitet seit über zehn Jahren erfolgreich als Trainerin für einen weltweit agierenden Gesundheitskonzern. Ihr Job ist verbunden mit vielen Flugreisen und Auslandsaufenthalten. Die sprachtalentierte, kluge und sozialkompetente Frau bekommt stets positives Feedback von Trainingsteilnehmern und ihrem Chef. Sie ist glücklich, lebt für ihren Beruf, ist Single und widmet sich ihren Aufgaben mit sehr viel Hingabe. Dafür wird sie auch gut bezahlt.

Als ihr Chef jedoch in den Ruhestand geht, ändert sich die Situation – zunächst schleichend, dann immer schneller. Auf einmal wirft die neue Vorgesetzte ihr vermeintliche Fehler vor, ihre Trainings kommen nicht mehr so gut an oder werden angeblich plötzlich nicht mehr gebraucht, sie fällt zunehmend in Ungnade. Irgendwann ist es eindeutig: Die neue Chefin möchte sie loswerden. Sabine bekommt ein passables Abfindungsangebot, will dies aber nicht annehmen. Stattdessen will sie wissen, was man ihr eigentlich vorwirft.

Anfangs gibt es während dieser Entwicklung noch Gesprächskontakte zwischen ihr und ihrer neuen Chefin. Doch dann lehnt diese weitere Auseinandersetzungen ab und teilt ihr ein völlig anderes Aufgabengebiet zu. Sabine wird nicht mehr in die weite Welt geschickt und führt keine internationalen Trainings durch. Dafür bekommt sie ein Arbeitszimmer im Archivkeller zugewiesen. Dort arbeitet sie allein in einem kleinen, von grellen Neonröhren beleuchteten Raum ohne Fenster. Es gibt einen Schreibtisch, aber weder Telefon noch PC. Die neue Aufgabe der erfahrenen, hoch qualifizierten Trainerin: die Akten zu Fortbildungsmaßnahmen der letzten zehn Jahre durchzusehen und neu zu sortieren – und zwar für über 50 Länder, in denen der Konzern tätig ist. Eine Sisyphos-Aufgabe ohne jeglichen Sinn. Sabine hält das vier Wochen durch, dann fällt sie in eine schwere Depression. Klinikaufenthalt und Reha sind die Folge. Nach einem halben Jahr kehrt sie wieder zurück und „darf“ im Archiv unter genau denselben Bedingungen weiterarbeiten.

Schon hier ist niemandem mehr im Umfeld von Sabine verständlich, warum sie sich das antut, und vor allem, warum sie sich nicht angemessen zur Wehr setzt. Aber nein, Sabine hält stoisch einige weitere Monate stand. Dann hat ihre Resilienz ihre Grenzen erreicht: Sie unternimmt einen Suizidversuch.

Nach einem weiteren Klinikaufenthalt und einer längeren Reha-Maßnahme schalten sich ihre engsten Freunde vehementer ein. Sie reden Sabine lange ins Gewissen, sich nicht zur Märtyrerin zu machen, endlich mit ihrem Selbstzerstörungsprogramm aufzuhören und sich einfach einen anderen Job zu suchen. Ohne Erfolg. Sabine zeigt sich stur und beratungsresistent. Trotz guter Prozessaussichten nimmt sie sich nicht einmal einen Anwalt. Quasi freiwillig geht sie erneut zurück in ihr Gefängnis und arbeitet in ihrem isolierten Kellerjob weiter …

Inzwischen sieht Sabine mindestens zehn Jahre älter aus, als sie ist. Sie nimmt permanent Medikamente und weiß schon gar nicht mehr, was sie mehr fürchtet: die nächste gesundheitliche Episode oder weitere Schikanen der Chefin.

Als diese schließlich befördert wird, tritt eines Tages ein neuer Chef in Sabines Verlies. „Was machen Sie eigentlich hier?“, will er als Erstes von ihr wissen. Sabine wird nach mehr als drei unerträglich schweren Jahren tatsächlich aus der Isolationshaft in ihrem Verlies befreit. Sie bekommt ein neues Arbeitsgebiet und wird endlich wieder wie ein Mensch behandelt.

Die Beweggründe ihrer ehemaligen Chefin für das schreckliche Verhalten ihr gegenüber kennt Sabine bis heute nicht. Keiner ihrer Freunde oder anderen Personen in Sabines Umgebung versteht, warum sie sich das alles hat antun lassen. Warum sie das Martyrium stoisch beinahe bis in den Tod ertrug und nichts dagegen wirklich unternommen hat, kann niemand nachvollziehen. Auch wenn sie jetzt wieder in einer besseren Arbeitssituation ist, bleibt es ihrem Umfeld ein Rätsel, wie all das passieren konnte. Und noch etwas bleibt: die Befürchtung, dass Sabine sich auch in Zukunft nicht wehren wird, wenn ihr Unrecht widerfährt.

 

Das fünfte Rad am Wagen

Eine andere Geschichte bekamen wir von einem gestandenen Manager erzählt, der sich selbst nie hatte vorstellen können, einmal so kleingemacht zu werden, wie er es bei seiner Tätigkeit für eine Tochterfirma des Konzerns im Ausland erlebte.

Seit drei Jahren arbeite ich als Entsendeter in einer Tochtergesellschaft meiner Firma in Oslo. Dort verantworte ich das Controlling als Teil des nationalen Managements. Wir sind ein internationales Team, aber die meisten Mitarbeiter sind Norweger, so wie mein Chef Gunnar. Er ist ein eloquenter, schlagfertiger Präsentator, ein Showman, ein exzellenter Unterhalter und Gastgeber bei geschäftlichen Anlässen und dank dieser Qualitäten über alle Hierarchie-Ebenen hinweg sehr beliebt. Als ich neu nach Oslo kam, war er auch zunächst sehr nett und hilfsbereit. Ich dachte echt, ich könnte ihm vertrauen und würde einen fast väterlichen Freund in ihm finden.

Als wir irgendwann ein bisschen enger miteinander waren, kam er plötzlich auf mich zu und bat um ein Vieraugengespräch: „Hör zu, die Ergebnisse waren im letzten Quartal nicht so besonders. Ich weiß das, und du siehst es auch. Aber sei da nicht so streng. Dieser Standort ist wichtig, nicht nur für den Konzern. Es hängen auch Arbeitsplätze und Existenzen davon ab.“ Die Situation war mir unangenehm, denn ich nehme meine Arbeit ernst und bin eigentlich niemand, der an Zahlen herumdreht. Außerdem gefiel mir der moralische Druck nicht, den Gunnar aufbaute – ich empfand das als unprofessionell und unfair. Also spielte ich sein Spiel nicht mit: „Das mag sein, Gunnar. Aber die Zahlen sind nun mal so, wie sie sind. Daran kann und werde ich auch nichts ändern.“

Seitdem prallen wir in beruflichen Fragen immer häufiger aufeinander. Und nicht nur das. In Besprechungen dreht er mir die Worte im Mund herum und bewertet die Sachlage meist anders als ich – sehr oft zudem nicht der Realität entsprechend.

Die Kollegen bekommen die Wandlung in unserer Arbeitsbeziehung natürlich deutlich mit. Unser Verhältnis verschlechtert sich immer weiter. Im Büro hat er kein gutes Wort für mich übrig. Ständig ist er am Sticheln und versucht, mich vor den Kollegen lächerlich zu machen und herabzusetzen. Er tut so, als sei ich „anders“ als alle anderen, irgendwie nicht „richtig“ und unnötig pingelig. Einmal sagte er: „Leute, da ist der Korinthenkacker aus Deutschland wieder. Hört nicht auf den Controller, sonst können wir die Firma gleich dichtmachen.“ Zu allen anderen Kollegen ist er immer noch sehr nett, sucht das Gespräch, tauscht sich aus, scherzt und erzählt aus seinem Privatleben. Dafür nimmt er sich Zeit. Zu mir kommt er dagegen nur, wenn es unbedingt nötig ist. Dann ist er kurz angebunden, sehr unterkühlt und auch schnell wieder weg.

Beim Mittagstisch, den wir in der Regel als Team zusammen im Büro einnehmen, spricht er vornehmlich in der Landessprache – obwohl er weiß, dass ich diese nicht so gut beherrsche. Immer wieder habe ich dabei den Eindruck, dass er Witze auf meine Kosten macht. Die anderen lachen dann und schauen mich ein bisschen komisch, fast schon mitleidig an. Das hat unter anderem dazu geführt, dass ich am gemeinsamen Mittagessen nicht mehr teilnehme und erst später zu Mittag esse.

Auch sonst fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen. Gunnar gibt Weisungen an meine Mitarbeiter aus, ohne mich einzubeziehen. Und er hat eine neue Position im Management geschaffen, die die Ergebnisse des Controllings absegnen und abzeichnen muss. De facto hat er es also geschafft, mich nahezu überflüssig zu machen. Es ist jedes Mal ein zähes Ringen – und meistens kann ich mich dabei nicht durchsetzen. Eigentlich bin ich inzwischen total isoliert – nicht nur menschlich, sondern auch professionell. Inzwischen überlege ich ernsthaft, den Arbeitgeber zu wechseln. Dabei würde mich das doppelt schmerzen, denn Gunnars Masche kann ich ja nicht gutheißen. Aber ich befürchte, wenn ich damit zu lange warte, kommt irgendwann unvermittelt der Tag, an dem ich abgesägt werde. Und diese Demütigung und den triumphierenden Blick von Gunnar möchte ich nicht erleben müssen.

 

Täuschen, lügen und betrügen

Wahrscheinlich hat jeder Mensch schon mehrfach in seinem (Arbeits-)Leben gelogen, um sich Vorteile zu verschaffen – die einen mehr, die anderen weniger. Der eine hat vielleicht bei einer Reisekostenabrechnung, einer Bewirtung oder beim Sammeln von Flugmeilen ein bisschen getrickst, der andere bei einer nervigen, irrelevanten Aufgabe geschummelt. In der Regel bleiben solche kleinen „Notlügen“ und Betrügereien Einzelfälle und wirken sich nicht wirklich gravierend aus. Die meisten Menschen wären wahrscheinlich auch gar nicht in der Lage, dauerhaft mit folgenschweren Lügen und Unwahrheiten zu leben. Sie wissen, wann sie etwas Falsches getan haben, und kämen mit massiven Schuldgefühlen irgendwann gar nicht mehr klar – dafür sorgt bei gesunden Menschen das Gewissen.

Ein ganz anderes Verhältnis zum Lügen und Betrügen haben dagegen Psychopathen. Sie scheren sich nicht um Moralvorstellungen und kennen keine Schuldgefühle. Unwahrheiten und alternative Fakten sind für sie Mittel zum Zweck, frei nach dem Motto: legal, illegal, scheißegal. Lügen wie die Folgenden gehören zum Standardrepertoire von Führungskräften mit Persönlichkeitsstörungen:

  • angebliches Fachwissen und Überlegenheit vortäuschen
  • sich mit fremden Federn schmücken
  • Versprechungen machen, die nie eingehalten werden
  • Gerüchte streuen, um das Ansehen des Opfers zu zerstören
  • mit einem angeblichen „Sachzwang“ operieren, den es nicht gibt
  • Scheinmitbestimmung und Pseudodemokratie praktizieren
  • Heuchelei
  • Irreführung, Täuschung, Desinformation
  • Betrug mit justiziablem, kriminellen Ausmaß

Die folgenden Geschichten erzählen Beispiele für Angriffe auf Angestellte mit einigen dieser waffenscheinträchtigen Formen der Lüge.

 

„Ist der Ruf erst ruiniert …“

So ungeniert wie im Sprichwort lebt es sich in der Arbeitswelt leider eher nicht, wenn einem jemand nach dem Ruf trachtet – insbesondere, wenn es sich dabei um den Vorgesetzten handelt. Im Gegenteil: Angriffe auf die Reputation können das Berufsleben des Betroffenen nachhaltig zerstören. Und das nicht nur am aktuellen Arbeitsplatz: Wer einmal so richtig demontiert wurde, wird damit insbesondere innerhalb seiner Branche wahrscheinlich immer wieder konfrontiert werden. Firmenübergreifende „Insidergespräche“ bei Stammtischen, in Kommentaren in sozialen Medien und jede andere Form von Klatsch und Tratsch sind in fast jeder Branche weitverbreitet.

 

Erst wunderte Katja sich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen in der Bankzentrale sie von einem Tag auf den anderen eigenartig angrinsten. Als sie zum Aufzug ging, tuschelte eine dort bereits wartende Gruppe zunächst auffällig und schwieg dann plötzlich, als sie sich näherte. Solche Phänomene häuften sich eine ganze Weile. Dann kamen auch noch anzügliche Bemerkungen von Kollegen hinzu: „Ich habe gehört, Sie sind eine emanzipierte Frau, die Abwechslung liebt. Ich bin da ganz Ihrer Meinung.“ Nach und nach wurden die Bemerkungen sogar noch konkreter.

Irgendwann war es genug, und Katja stellte einen Kollegen zur Rede. Er antwortete: „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Sache selbst ansprechen. Aber glauben Sie wirklich, es ist wörtlich gemeint, wenn es heißt, wir sollten unsere Kunden umarmen? Das schadet dem Ansehen unseres Hauses. Es ist sicher Ihre Angelegenheit, mit wem Sie privat Umgang pflegen. Aber lassen Sie bitte die Kollegen und vor allem die Kunden aus dem Spiel. Wir sind eine Bank und kein Vergnügungsverein.“

Das saß. Katja erfuhr auf diesem Wege als Letzte, dass Gerüchte über ihr angebliches Sexualverhalten die Runde gemacht hatten. Sie zermarterte sich den Kopf, weil sie sich nicht erklären konnte, wer sie gestreut haben könnte und warum. War es der geplatzte Kredit, den sie einem Kunden gegeben hatte? Wollte man sie deswegen loswerden? Oder hatte ihr Chef selbst ein Auge auf sie geworfen und war enttäuscht, dass sie sich ihm gegenüber stets sachlich und professionell verhielt? Letztlich war es auch egal: In dieser vergifteten Atmosphäre wollte Katja nicht weiterarbeiten. So begann sie, nach einem neuen Job zu suchen.

Doch die ersten Vorstellungsgespräche bei anderen Banken verliefen erfolglos. Zunächst konnte Katja sich nicht erklären, warum. Erst, als bei einem der Job-Interviews eine merkwürdige Bemerkung fiel, dämmerte es Katja: „Ich habe gehört, Sie können gut mit Kunden …“ Offenbar reichte die Macht des Gerüchtestreuers, der ihr am aktuellen Arbeitsplatz den Ruf ruiniert hatte, auch über das Unternehmen hinaus. Erst als Katja sich in einer anderen Stadt bewarb, fand sie endlich eine neue Stelle und konnte wieder in Ruhe arbeiten, ohne sich mit ehrverletzenden Behauptungen herumschlagen zu müssen.

 

Der Phantom-Chef

Einer unserer Klienten arbeitete eine Zeit lang in einem Start-up. Der Gründer und Chef an diesem Arbeitsplatz belog ihn nicht nur, er entpuppte sich am Ende sogar als krimineller Betrüger.

„Wir kommen mit unserem Produkt ganz groß raus. Nicht kleckern, sondern klotzen. Deutschland ist erst der Anfang, wir wollen mehr: in Europa und weltweit verkaufen.“ Mit diesen hochtrabenden Zielen empfing mich mein künftiger Chef, der Gründer einer Online-Lernplattform, zum Vorstellungsgespräch.

Nach erfolgreicher Teilnahme an einem Assessment-Center-Auswahlverfahren erhielt ich das Jobangebot bereits am nächsten Tag. In dem jungen Start-up herrschte Chaos. Das irritierte mich zwar etwas, ich schrieb es aber dem kreativen Anspruch der Plattform zu. Dafür hatten alle, die dort arbeiteten, tolle Jobtitel. Der Gründer war natürlich CEO, seine Assistenz hatte COO (Chief Operating Officer) auf der Visitenkarte stehen. Ich selbst wurde zum Senior Marketing Manager ernannt und sollte vornehmlich vom Homeoffice aus arbeiten.

Mein Chef hatte zwar die Angewohnheit, mich zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten anzurufen. Ging ich nicht ans Telefon, hinterließ er mir lange Voicemails. Aber anfangs gab er sich eher als der lockere, sympathische Kumpeltyp.

Dann schlich sich etwas anderes in unsere Arbeitsbeziehung ein: Immer seltener waren er und seine Assistenz zu erreichen. Es gab auch kaum noch Meetings und auch sonst keine nennenswerten Aktivitäten. Von der Produktentwicklung bekam ich nichts mehr mit, konnte also auch keine Marketingkonzepte entwickeln oder Prototypen bei Kunden testen. Aus dem Kumpel-Chef war ein Phantom-Chef geworden. Und dann kam, was wohl kommen musste: Mein nächstes Gehalt wurde verspätet bezahlt, das darauffolgende gar nicht. Auf meine Nachfrage hin wurde ich beschwichtigt: „Sorry, aber das wird. Wir haben neue Investoren, es dauert nicht mehr lange. Versprochen!“ Als auch das nächste Gehalt ausblieb, wurden meine Anrufe und Mails völlig ignoriert.

Eine Nachricht erhielt ich dann doch noch, kurz vor Ende meiner Probezeit: meine Kündigung. Es hätte „einfach nicht so gut gepasst“. Meine ausstehenden Gehälter musste ich mithilfe eines Anwalts einklagen. Aber wo nichts mehr ist, ist auch nichts zu holen. Leider.

Monate später erhielt ich dann auch noch eine Ladung des Landeskriminalamtes, wo ich als Zeuge zum Geschäftsgebaren meines Ex-Chefs gehört wurde. Es stellte sich heraus, dass er dem LKA aus früheren Aktivitäten bekannt war und dass er sich des Subventionsbetrugs schuldig gemacht hatte.

Eine Arbeitserfahrung, die man kein zweites Mal braucht …  

 

Mit fremden Federn geschmückt

Psychopathen sind stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Einige von ihnen stehen gern im Rampenlicht. Dafür scheuen sie nicht davor zurück, sich mit fremden Federn zu schmücken und ihre Untergebenen hemmungslos auszubeuten.

Sich die Leistungen anderer unter den Nagel zu reißen, ist noch nicht einmal ein Spezialgebiet der Psychopathen; viele Chefs tun das. In etlichen Branchen ist es üblich, dass Mitarbeiter, Assistenten oder Trainees Konzepte erstellen oder Artikel schreiben, und am Ende schauen die Vorgesetzten kurz drüber und veröffentlichen die Papiere unter ihrem Namen. Viele Abteilungsleiter oder noch höhere Führungskräfte schmücken sich auf diese Weise mit fremden Federn, nämlich mit denen ihrer Mitarbeiter. In einer hierarchischen Organisation geht das meist relativ problemlos vonstatten: Ober sticht Unter. Wer unten ist, will sich bei den Oberen ja nicht unbeliebt machen und lässt sich das gefallen. Bei Psychopathen nimmt dieses leider nicht unübliche Phänomen allerdings besondere Ausmaße an.

Auch in Projekten mit freiberuflichen Mitarbeitern ist Machtgehabe an der Tagesordnung. Auf einmal strebt eine Person in einem Team von Gleichberechtigten nach Höherem und reklamiert plötzlich alle Erfolge für sich. Ein Mitarbeiter einer Projektgruppe berichtete uns von so einem „Kollegen“, der für die Kundenakquise zuständig war. Dieser agierte nach außen stets so, als sei er der Boss. Er vermied es bei Kundenkontakten sogar gezielt, zu erwähnen, dass überhaupt noch andere am Projekt beteiligt waren. Und erst recht nicht wollte er die Provision teilen, die durch das erfolgreiche Projekt für alle Beteiligten im Team herausspringen sollte – so war jedenfalls die ursprüngliche Absprache gewesen. Bei einer Team-Konferenz schrie er die anderen Projektmitarbeiter an, dass die Provision doch ganz allein durch ihn und sein Engagement zustande gekommen sei. Deshalb stünde sie ihm nun auch allein zu. Jedes andere Teammitglied könne ja schließlich vom Renommee des Projekts profitieren und dank ihm weitere lukrative Projekte an Land ziehen.

Auch in der Tech-Branche schmücken sich die „Visionäre“ sehr gern mit den Leistungen ihrer Mitarbeiter in den Entwicklungsabteilungen. Doch nirgends ist das Prinzip, sich mit fremden Federn zu schmücken, so etabliert und wird so wenig hinterfragt wie an Hochschulen. In diesem ganz besonderen Hierarchie-Biotop gilt die Aneignung von geistigem Eigentum als schlichtweg normal. Leider muss man auch heute noch konstatieren: Das rücksichtslose Streben nach wissenschaftlichen Meriten und Ansehen in der Scientific Community geht in der Arbeitsrealität oft einher mit gnadenloser Ausbeutung und unzureichender, manchmal gänzlich fehlender Wertschätzung der abhängig Beschäftigten.

„Autorin oder Autor ist nur, wer einen wesentlichen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Veröffentlichung geleistet hat.“ Diese Empfehlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bleibt im Wissenschaftsbetrieb allerdings häufig Wunschdenken. Die Vorgesetzten an den Hochschulen, oft Professoren und andere hoch in der Hierarchie angesiedelte Leiter von Forschungsprojekten, nehmen es in Bezug auf die Autorenschaft ihrer Veröffentlichungen mitunter nicht so genau. Gern und völlig selbstverständlich reklamieren sie die Leistungen von Mitarbeitenden für sich – so wie im folgenden Beispiel.

 

Im Rahmen eines Forschungsprojekts verfassten die promovierte Sozialwissenschaftlerin Daniela und ihre Kolleginnen zahlreiche Artikel, die in Fachzeitschriften erschienen. Für alle Veröffentlichungen reklamierte die Projektleiterin jedoch ihre Autorenschaft. Sie bestand darauf, neben dem jeweiligen Mitarbeitenden als Co-Autorin genannt zu werden – ohne dass sie einen nennenswerten Beitrag zu den jeweiligen Publikationen geleistet hätte. Daniela wunderte sich nur bedingt darüber – sie war eben die Projektleiterin.

Wenn wir ehrlich sind, stellt Daniela rückblickend frustriert fest, ist das Diebstahl und Betrug. Es wird allerdings nicht so wahrgenommen, weil die Mächtigen es als ihr gutes Recht ansehen. Sie glauben, sie nehmen sich, was ihnen „zusteht“. Wahrscheinlich haben sie früher ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie selbst noch wissenschaftliche Mitarbeiter waren und ihre damaligen Professoren sich ebenfalls als Autoren ihrer Arbeiten haben feiern lassen – ein Perpetuum mobile der Ungerechtigkeiten.

Daniela wollte diese dreiste Aneignung von geistigem Eigentum nicht länger hinnehmen. Sie beschloss, ihre Vorgesetzte beim nächsten Fachartikel nicht mehr als Co-Autorin anzugeben – und zog es durch.

Doch dadurch machte sie sich an ihrer Universität keine Freunde. „Meine Chefin hat mich massiv unter Druck gesetzt und mir gedroht, dass ich nicht mehr an Veröffentlichungen mitarbeiten dürfe“, berichtet Daniela. „Als ich mich beim Fachbereichsleiter über sie beschwerte, hörte der mir zwar zu und versicherte mir, sich der Sache anzunehmen. Aber was passierte? Nach Ablauf des Semesters wurde meine Projektmitarbeit nicht verlängert, offiziell aus ‚Budget-Gründen‘. Zum Glück hatte ich mich bereits auf eine Stelle an einer anderen Universität beworben. Ich ahnte schon, wie der Hase läuft. Die Machtverhältnisse waren eindeutig.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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