Buchauszug Bernhard Fischer-Appelt: „Zukunftslärm. Welche Erzählungen helfen, das Morgen zu gestalten“ 

Buchauszug Bernhard Fischer-Appelt: „Zukunftslärm. Welche Erzählungen helfen, das Morgen zu gestalten“ 

 

Bernhard Fischer-Appelt (Foto: PR)

 

UNSERE ZUKÜNFTE – WAS IST PLAUSIBEL UND WAS NICHT?

Gute Narrative zu entwickeln, funktioniert am besten systematisch. An historischen Beispielen wie den politischen Initiativen John. F. Kennedys können wir fünf zentrale Elemente für die Entwicklung eines überzeugenden Zukunftsnarrativs erkennen. Die dadurch inspirierte Methode kann als Blaupause für die Zukünfte dienen und kann eine Leitschnur sein, für Initiativen und Geschäftsmodelle die Gesellschaft verändern möchten.

 

An kaum einem anderen Ort in den Vereinigten Staaten wird amerikanische Geschichte so lebendig wie in Boston, Massachusetts. Im Tea-Party-Museum an der Congress Street Bridge kann man eine von zwei noch erhaltenen historischen Teekisten aus nächster Nähe betrachten. Die Behältnisse hatten amerikanische Kolonisten einst wütend ins trübe Wasser des Bostoner Hafenbeckens geschleudert, um ihrem Widerstand gegen die britische Kolonialmacht und deren Besteuerung Nachdruck zu verleihen. Kaum weniger historisch bedeutsam ist die Sammlung der Redemanuskripte von Präsident John F. Kennedy, die im John F. Kennedy Library and Museum ein paar Meilen weiter südlich archiviert ist.

 

Wer sie studiert, dem fällt sofort auf, was für ein begabter Redner und kraftvoller Geschichtenerzähler der ehemalige Senator von Massachusetts und spätere Präsident der Vereinigten Staaten gewesen sein muss. Kennedy verstand es, die Zukunft und ihre Möglichkeiten so darzustellen, dass viele Amerikaner sich überzeugen ließen, gemeinsam eine Renaissance des amerikanischen Traums einzuleiten. Der Besuch der JFK Bibliothek war ein nachhaltiges Erlebnis. Ich verließ sie mit der Erkenntnis, dass es einige entscheidende Elemente gibt, die wirksame Erzählungen brauchen, um unsere Herzen und Köpfe wirklich zu erreichen und unser Tun zu verändern.

Schon bei der Lektüre weniger Schlüsselpassagen aus Kennedys Reden wird deutlich, wie er es auf virtuose Weise verstanden hat, Verheißungen der modernen Technologie mit Entwürfen einer amerikanischen Zukunft voller Hoffnung, Heilung und Glück zu verbinden. Seine Worte sind ein mustergültiges Beispiel für wirksame politische Botschaften. Sie brachten nicht nur den zweitjüngsten US-Präsidenten aller Zeiten hinter den Schreibtisch im Oval Office. Viel mehr als das: Ihr vereinigender Impuls hat einen echten Wandel in Amerika eingeleitet, für das die Abschaffung der unmenschlichen Rassentrennung ein gutes Beispiel ist.

 

Kennedys politische Botschaften an eine in ihrem Stolz verletzte Nation

Die wirkmächtige, auf den Wandel ausgerichtete Kommunikation, die Kennedy und sein Team Anfang der 1960er-Jahre starteten, führt uns noch einmal vor Augen, wie gut durchdachte Narrative dazu beitragen können, Gesellschaften zu transformieren – und zwar gerade auch dann, wenn sie in politisch unruhigem Fahrwasser eingesetzt werden. Zu Beginn der 1960er- Jahre befanden sich die USA in einer tiefen Identitätskrise. Der jahrzehntealte Status als globale Supermacht schien durch die Raumfahrterfolge Russlands ins Wanken zu geraten. Sowohl der Start des Sputnik-Satelliten von 1957, aber auch Juri Gagarins Erdumkreisungen von 1961 als erster Mensch im All fügten dem amerikanischen Selbstverständnis schmerzende Wunden zu. Aus heiterem Himmel hatte Amerikas Selbstbild, in allen technischen Belangen unschlagbar zu sein, einen empfindlichen Dämpfer erlitten.

Vielen Amerikanern schien es, dass die sowjetischen Weltraumpioniere auf der Basis eines dirigistischen Gesellschaftsmodells sehr viel schneller technologische Durchbrüche erzielten als die freiheitlich und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften des Westens. Schlimmer noch, das kommunistische Modell schien in immer größeren Teilen der Welt Fuß zu fassen – vor allem in Asien, wo die USA auf der koreanischen Halbinsel gerade einen Rückzugskrieg hinter sich gebracht hatten, der viele Leben und noch mehr Geld gekostet hatte. Die innenpolitischen Probleme stellten sich zu Beginn der 1960er-Jahre nicht weniger dramatisch dar.

In den Jahren vor Kennedy schien Amerika tiefer denn je gespalten zu sein, was den Umgang mit den unterschiedlichen Hautfarben der Nation betraf. Die Frage der Aufhebung der Rassentrennung ließ die USA in Hass, Diskriminierung, Lynchmorden, Bürgerunruhen und Massenprotesten versinken. Und als ob das nicht genug wäre, verschafften sich zu dieser Zeit eine Handvoll sozialistischer Stimmen auf amerikani-schem Boden Gehör. In einer paranoiden Gegenreaktion des Staates brandmarkte der fanatische McCarthyismus sie und viele Unbeteiligte als gefährliche Feinde im eigenen Land und sorgte für einen weiteren tiefen Riss in der öffentlichen Meinung.

Selbst im politischen Betrieb Washingtons herrschte mit der Zeit ein Klima hysterischen Misstrauens und täglicher ideologischer Grabenkämpfe. Insgesamt war es ein prekärer und für die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft fast vollständig erblindeter Zustand des Landes. Erst der Civil Rights Act von 1964, der ein Jahr nach Kennedys Ermordung die Rassentrennung endgültig aufhob, setzte diesem Konflikt zunächst ein Ende, der den damaligen Zeitgenoss:innen wie der Vorabend eines zweiten amerikanischen Bürgerkriegs vorgekommen sein muss.

 

Starke Metaphern können aus Konflikt und Apathie führen

Die unterschiedlichen Lebensumstände der Amerikaner in den frühen 1960er-Jahren im Vergleich zu heute waren sehr viel größer, als es heute rückblickend erscheint. Als Kennedy für das Präsidentenamt kandidierte, hätten sich die US-Bürger:innen aus den großen, agrarisch geprägten Flächenbundesstaaten der USA – ein Gebiet, das bis heute abschätzig als Flyover Country bezeichnet wird – in ihrer politischen Mentalität und Alltagseinstellung kaum stärker von der progressiven Intellektualität ihrer Mitbürger:innen in den städtischen Zentren an den beiden Küsten des Landes unterscheiden können.

Hinzu kam: Die damaligen Kommunikationsformate und -kanäle waren kaum in der Lage, politische Botschaften schnell und überzeugend bis in alle Winkel des riesigen Landes mit fünf Zeitzonen zu verbreiten. Zwar gab es landesweite Fernsehübertragungen, doch waren die, im Vergleich zum heutigen Internet, dessen superschnelles kapillares Netz bis in jeden Haushalt, jede Hand- und Manteltasche reicht, noch ein rudimentäres Mittel der Massenkommunikation. Aus diesem Grund mussten politische Botschaften damals visuell und rhetorisch sehr viel plakativer formuliert sein, um wirklich durchzudringen und etwas zu bewirken.

Um der Orientierungslosigkeit, Verzweiflung und Desillusionierung der damaligen Zeit etwas entgegenzusetzen, beschloss Kennedy, ein kühnes, einfach zu verstehendes Bild der Nation zu entwerfen. Er würde ein markantes Zeichen setzen, das den USA einen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten weisen würde. Es musste etwas sein, das seinen Landsleuten den Anstoß geben würde, über neue Formen von Einheit nachzudenken, um gemeinsam, konstruktiv und im Interesse des einen Landes, in dem sie alle lebten, Schritte in Richtung Zukunft zu gehen. Für den jungen Demokraten Kennedy und seine Redenschreiber ging es darum, eine überwältigende, elektrisierende Metapher zu finden, die den Amerikaner:innen einen Ausweg aus ihrem täglichen Elend und ihren Konflikten zeigen würde.

 

New Frontier bedeutet anzupacken für eine bessere Zukunft

Als charismatischem Talent war Kennedy klar, dass diese Vorstellung nicht selbstherrlich, aufdringlich oder aggressiv sein durfte. Es musste breit gefächert, ermutigend, ja egalitär sein. Die Botschaft sollte ausreichend Flexibilität haben, um die unterschiedlichen Interessen und Anliegen aller Amerikaner:innen aufzunehmen und ihnen gerecht zu werden. US-Bürger:innen aller politischen Schattierungen, Hintergründe und ethnischer Zugehörigkeit sollten mit der Vergangenheit brechen, die Zukunft erobern und dadurch neue Identität gewinnen. Die Botschaft musste als Aufruf verstanden werden, zu handeln, die Gelegenheiten beim Schopf zu packen und nicht passiv auf gewünschte Veränderungen zu warten. »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt«, so Kennedy in seiner berühmten Antrittsrede von 1961. Bereits zuvor, zur Nominierung als demokratischer Präsidentschaftskandidat, hatte Kennedy sein übergreifendes Thema mit New Frontier, die neue Grenze, umrissen. Zu seinem Publikum im Memorial Coliseum in Los Angeles sprach er damals folgende ebenso berühmt gewordene Worte:

»The New Frontier of which I speak is not a set of promises – it is a set of challenges. It sums up not what I intend to offer the American people, but what I intend to ask of them« 21

auf Deutsch:

»Die neue Grenze, von der ich spreche, ist keine Liste von Versprechungen – sie ist eine Reihe von Herausforderungen. Sie fasst nicht zusammen, was ich dem amerikanischen Volk anzubieten gedenke, sondern was ich von ihm verlangen möchte.«

Und so vernahm ein in sich tief gespaltenes Amerika aus dem Munde eines seiner führenden Politiker seit Langem wieder die Botschaft: Es gibt eine Aufgabe für jede/n einzelne/n Bürger:in, und sie anzugehen, wird zu einer besseren Gesellschaft führen und ihre momentanen Verwerfungen und Krisenmerkmale heilen – sobald und solange nur alle an einem Strang ziehen.

 

Amerika entdeckt eine neue Perspektive im All

Kennedy entwickelte seine Idee von der New Frontier mit strategischem Geschick und ausgeprägten Verständnis für schlagkräftige Kommunikation. Denn es handelt sich um einen Begriff, den die meisten Amerikaner:innen unabhängig vom Bildungsgrad bereits aus dem Geschichtsunterricht kannten. Es waren die Siedler:innen, die Pionier:innen des 19. Jahrhunderts, die zunächst in Planwagen und dann später mit der Eisenbahn nach Westen aufbrachen, um sich in einem neuen Gebiet niederzulassen, weit entfernt von den ursprünglichen Orten in Neuengland an der Ostküste des Kontinents – Menschen, die eine neue Grenze suchten und fanden.

Der Aufbruch in die Weiten des mittleren Westens und an die Pazifikküste war für die meisten ein Sprung ins Ungewisse, in finanzieller als auch in emotionaler und sozialer Hinsicht. Schließlich ließen die Siedler:innen gewohnte Gemeinschaftsstrukturen zurück und begaben sich auf eine lange und gefährliche Reise in eine, wie sie erwarteten, bessere Zukunft. Bei der Expansion der Vereinigten Staaten nach Westen malten sich die Siedler:innen ein künftiges Ziel aus, das sie auf der Grundlage des Traums von Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit für sich selbst entworfen hatten. Sie, die eigentlichen Protagonist:innen des amerikanischen Traums, waren entschlossen, ihre Zukunft selbst zu gestalten.

Die endlosen Trecks mit Sack und Pack auf die andere Seite des Kontinents waren gewissermaßen der horizontale Prototyp für das von Kennedy vorangetriebene US-Raumfahrtprogramm, das in die Vertikale strebte, um dort nach neuen Grenzen zu suchen. Knapp ein Jahrhundert nach dem Aufbruch der Trecks in Richtung Westen sollte die NASA tatsächlich ihr erstes Raumfahrtprogramm auf die Beine stellen. Dem Sputnik-Schock trat Amerika mit der Gründung einer eigenen amerikanischen Raumfahrtbehörde entgegen. Und nicht einmal sechs Monate, nachdem ein russischer Satellit zum ersten Mal unseren Planeten umkreist hatte, zogen die USA mit ihrem Gegenstück namens Explorer nach, in kürzester Zeit gefolgt vom ersten Amerikaner im Weltraum, Alan B. Shepard – der allerdings, anders als Juri Gagarin, zunächst nur einen suborbitalen Ausflug in die Schwerelosigkeit und keine Erdumrundung absolvierte. Kennedy ergriff die Gelegenheit, die sich durch die neue emotional besetzte Dynamik der Raumfahrt bot.

Der Wettlauf ins All steckte zwar noch in den Kinderschuhen, er entwickelte sich aber rasch weiter. In verschiedenen Reden stellte der neue US-Präsident eine Zukunft für Amerika in Aussicht, die er eng mit der führenden Zukunftstechnologie seiner Zeit verband – der Raketentechnik. Trägerraketen wie die legendäre Saturn V, die stärkste jemals gebaute ballistische Weltraummaschine, sollten die Planwagen seiner Generation werden. Und sie sollten bemannt sein mit Astronauten, die mit rustikalen Lebenserhaltungssystemen ausgestattet, eine neue Grenze auf dem Mond und vielleicht noch viel weiter draußen finden sollten – und zwar noch »bevor das Jahrzehnt vorbei ist«, wie Kennedy forderte.

 

Bernhard Fischer-Appelt: „Zukunftslärm. Welche Erzählungen helfen, das Morgen zu gestalten“ 20 Euro, 272 Seiten, Redline Verlag. https://www.m-vg.de/redline/shop/article/22324-zukunftslaerm/

 

Der vertikale Siedler:innentraum als plausible Fiktion

Für einen Mann wie Kennedy, der ein feines Gespür für öffentliche Auftritte und griffige Botschaften hatte, war es nicht schwer, den Topos der Raumfahrt als wirkungsvolles Mittel einzusetzen, um so viele Landsleute wie möglich zu mobilisieren. »Wir haben uns entschlossen, in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen und all die anderen Dinge zu tun, nicht weil sie leicht sind, sondern weil sie schwer sind. Denn dieses Ziel wird dazu dienen, das Beste aus unseren Energien und Fähigkeiten zu machen, weil diese Herausforderung eine ist, die wir bereit sind, anzunehmen, eine, die wir nicht aufschieben wollen, und eine, die wir beabsichtigen erfolgreich zu bewältigen.« So lauteten die Worte, die Präsident Kennedy 1962 unter tosendem Beifall auf der Tribüne der Rice University in Houston, Texas, sprach.

In mehr als einer Hinsicht gab Kennedy mit dieser Rede und ihren Bildern dem tief im amerikanischen Bewusstsein verwurzelten Drang, hinter dem Horizont stets nach neuen Grenzen zu suchen, einen kräftigen Schub. Amerikas neue Grenze war nun weit jenseits der Stratosphäre zu finden, irgendwo da draußen, wohin sich Russen und Amerikaner gerade erst zaghaft vorgewagt hatten. Dort, so die Botschaft Kennedys, hatten die Vereinigten Staaten von Amerika etwas

Größeres zu erreichen – einen Menschen auf den Mond zu fliegen und in ferner Zukunft vielleicht sogar ein dauerhaftes Leben im Weltraum zu ermöglichen. Unter ihrem jungen Präsidenten würde sich das Land also nicht nur nach vorne, sondern auch gemeinsam nach oben bewegen. Welch besseren Zukunftsentwurf hätte man der niedergeschlagenen und erschöpften Supermacht zu dieser Zeit anbieten können? Der heute als Moonshot in den Geschichtsbüchern beschriebe erste Mondflug und die damals damit verbundenen Bilder und Vorstellungen beflügelten die Fantasie und die Zielstrebigkeit vieler Amerikaner:innen, wenn nicht sogar der Menschen auf der ganzen Welt. Es war mit Sicherheit also eine überzeugende und mitreißende Zukunft.

Doch, wenn man über Kennedys Zukunftsnarrativ nachdenkt und es heute neu bewertet, wird klar, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielten, um Zugkraft zu entwickeln. Das Vorhaben war zwar im Moment noch technisch nahezu unmöglich, fast unlösbar, fiktional, aber es erschien plausibel. Es schien möglich, es in naher Zukunft umsetzen zu können. Mit dem eigentlichen Vorhaben eng verbunden waren viele Ideen, die von Kennedy gar nicht angesprochen wurden und die sich der US-Amerikaner:innen vorstel-len konnte: ein längeres Leben im Weltall, die Besiedelung anderer Planeten, der Abbau von Rohstoffen im All. Surreales, Unvorstellbares und völlig Abgehobenes, genauso wie vielleicht eines Tages tatsächlich Machbares.

Eine solche Projektionsfläche zu schaffen ist sicher ein großes Erfolgsgeheimnis von Zukünften – aber eben auch eine Ursache für Zukunftslärm. Sich so mit Zukünften beschäftigen zu können, dass man von dem Vielen, was auf der Projektionsfläche gedacht, gezeigt und besprochen wird, das Plausible von reiner Fantasie unterscheiden kann, dazu soll dieses Buch befähigen. Beim Nachdenken über die Zukunft ist man oft versucht, Projektionen im Bereich des Möglichen anzusiedeln. Zukunftsentwürfe, die in der Regel bereits Möglichkeiten und Vorstellungen wiederholen, sind jedoch nicht die Zukünfte, die eine starke Faszination und Anziehungskraft ausüben. Zukünfte, die die Menschen begeistern und mobilisieren, überschreiten in der Gegenwart die Grenze des Machbaren, sind von heute aus gesehen unmöglich.

Bei plausibler Fiktion geht es indes nicht um Prognosen und Vorhersagen alleine: Es geht darum, dass wir es uns erlauben, über die Grenzen des Möglichen hinaus zu denken. Daher ist es sinnvoll, bei der Entwicklung und Konstruktion von Zukünften etwas Unmögliches zu beschreiben, aber nicht etwas völlig Illusorisches. Den Bereich zwischen noch Unmöglichem und dem Plausiblen nennen wir plausible Fiktion. Das Problem des Zukunftslärms besteht darin, dass er die Menschen daran hindern kann, an wünschenswerten Zukünften mitzuwirken. Auf Risiken fixiert zu sein, die mit Zukunftsentwürfen verbunden sind – das verhindert gewagte Zukunftsvorstellungen. Denn bei der Zukunftsgestaltung geht es nicht darum, potenzielle Risiken an die erste Stelle zu setzen. Es geht darum, Entwicklungsmöglichkeiten zu gestalten – später können die Chancen und Risiken eines Zukunftsentwurfes immer noch abgewogen werden.

 

Die Technologie des Kalten Kriegs stützt ein starkes Zukunftsnarrativ

Einen Menschen auf den Mond zu fliegen und ihn sicher wieder zur Erde zurückzubringen, das muss für viele Amerikaner:innen wie eine der kühnsten Vorhersagen geklungen haben, die jemals im grenzenlosen Raum der Zukunftsgeräusche geäußert worden waren. Und doch wurde diese Vorhersage weniger als zehn Jahre später Wirklichkeit. Kennedy hatte also eine fein austarierte Vision gefunden: Anfangs schien sie unvorstellbar, aber vielleicht gerade noch plausibel genug, um die Menschen zu fesseln. Aber dann gewann sie mit dem rasanten Entwicklungstempo der Raumfahrttechnologie Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre zunehmend an Plausibilität.

Wie wir später in diesem Buch sehen werden, ist die Rolle der Technologie bei der Entwicklung von Zukunftsnarrativen entscheidend. Als Kennedy sein Amt antrat, befand er sich mitten im Kalten Krieg. Bei der Schlüsselübergabe für Nummer 1600 Pennsylvania Avenue, der Adresse des Weißen Hauses, standen Arsenale Hunderter russischer und amerikanischer Interkontinentalraketen mit Tausenden von Nuklearsprengköpfen bereit, um im Fall der Fälle die USA, die UdSSR und viele andere Nationen vom Angesicht der Erde zu tilgen. Warum also sollte man dieses apokalyptische Arsenal nicht in eine Chance für eine potenzielle Zukunft verwandeln, indem man damit einen Menschen auf einen 384 000 Kilometer langen Flug zum Mond und wieder zurückschickte? Kennedy erkannte, dass diese Chance eine technische Möglichkeit war, die man sich im politischen Sinn und im Interesse seiner Nation nicht entgehen lassen sollte.

 

Die dystopische Möglichkeit, zu verlieren, stärkt Kennedys Narrativ

Die Formulierung dieser plausiblen Fiktion, zum Mond zu fliegen, fand allerdings auch vor dem Hintergrund einer möglichen Katastrophe statt, die für viele Amerikaner:innen durchaus vorstellbar war. Denn in den Augen vieler Strateg:innen, Beobachter:innen und der Öffentlichkeit des Westens schien der Kommunismus tatsächlich in der Lage zu sein, auf globaler Ebene zu triumphieren. Die Sowjetunion scheint dazu nicht einmal Interkontinentalraketen und Sprengköpfe zu brauchen, dachten viele. Ob in Asien, Afrika, selbst im Hinterhof der USA, in Kuba, der Sozialismus schien überall auf dem Vormarsch.

 

Damals konnten die zugrundeliegenden wirtschaftlichen und demokratischen Unzulänglichkeiten der noch recht jungen sozialistischen Gesellschaftsordnung noch nicht in der Dimension sichtbar werden. Die fundamentalen Konzeptionsfehler diskreditierten dieses System erst 40 Jahre später durch seinen vollständigen gesellschaftlichen Bankrott, der sich im Fall der Berliner Mauer verewigte. In den 1960er-Jahren jedenfalls war der Kommunismus noch eine als real wahrgenommene Bedrohung. Und auch Kennedy konnte sich nicht sicher sein, ob sich der westliche Liberalismus letztlich gegen den Sowjetkollektivismus durchsetzen würde. Der junge US-Präsident vermochte wie jeder andere auch damals das Ergebnis des Kalten Krieges nicht vorherzusagen. Doch gerade deshalb würde die Eroberung einer neuen Grenze im Weltraum zeigen, dass sich die amerikanische Geschichte von Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie gelohnt und weiterentwickelt hatte.

In Kennedys Rhetorik war auch enthalten, dass die USA für ihre Prinzipien und Ideale um jeden Meter kämpfen würden – und auch dass die Nation gute Chancen hätte, in diesem Kampf der gesellschaftlichen Systeme die Oberhand zu behalten. Die Dystopie, den Systemkampf zu verlieren, war wie ein schwarzes Loch, das Amerika und die ganze westliche Welt zu verschlucken drohte. An der Peripherie dieses schwarzen Lochs befand sich jedoch auch ein gewaltiges Maß an Energie, das die USA für ihre eigene Mobilisierung nutzen konnten. Es war diese fiktionale Energie, die Kennedy nutzte, um sein emotional schockstarres, politisch festgefahrenes Land aufzuwecken, um aufzubrechen.

 

Fünf Kräfte für die erfolgreiche Konstruktion von Zukünften

Die Mechanismen der Kennedy-Reden bringen in vielerlei Hinsicht auf den Punkt, was Narrative im heutigen Kommunikationsumfeld so wirkungsvoll macht. Erstens skizzieren sie zugleich eine alte und neue Utopie – einen Menschen auf den Mond zu bringen, mobilisiert weit mehr Vorstellungskraft für das Leben an und hinter dieser neuen Grenze im Weltraum. Raketen funktionieren für Orbitalflüge um die Erde, warum sollten sie also nicht auch für den Start in die Tiefe des Alls genutzt werden? Und sie basieren auf einer Warnung vor einer Katastrophe oder Dystopie – in diesem Fall dem Triumph des Kommunismus im Weltraum. Wenn man also eine Zukunft plant, gilt es sich mit Utopien zu beschäftigen, auch wenn sie von der jeweiligen Gegenwart aus betrachtet etwas absurd und kaum plausibel klingen.

Gleichzeitig kann man sich aber auch darüber klar werden, welche Katastrophen es zu vermeiden gilt und welche Kraft wofür und wogegen zu mobilisieren ist. Utopie und Dystopie können also gleichermaßen ausformuliert werden, um eine überzeugende Zukunft zu entwerfen. Im Allgemeinen funktionieren utopische Entwürfe am besten, wenn sie bei vielen ihre Vorstellungskraft und plausible Fiktion mobilisieren und daraus auch ein Ziel entsteht, auf das alle hinarbeiten können, das aber letztlich, zumindest kurzfristig, noch unerreichbar ist. Solche Utopien sind also so etwas wie der heilige Gral des Möglichen, den alle suchen, den aber niemand berühren darf oder sollte. Dafür muss man weder ein junger Jules Verne sein noch die nächste Suchmaschine nach Google entwickeln.

Es reicht oft schon der Pokalgewinn eines Zweitligisten, zweistelliges Wachstum oder die Mobilisierung besonders vieler Anhänger:innen: Vieles kann sehr utopisch sein. Der große Gegenspieler ist jeweils die Dystopie, ein Worst-Case-Szenario, das es zu vermeiden gilt – der zweite Faktor. Es könnte aber auch etwas sein, das einen auch aus dem Nichts heraus treffen könnte, in Form apokalyptischer Katastrophen wie Monsterhurrikans, Asteroideneinschläge oder die Kernschmelzen in Tschernobyl, Fukushima oder Harrisburg.

Für eine Alltagsdystopie reicht schon eine einfache Pleite, der Abbau von Arbeitsplätzen, der Abstieg in die zweite Liga oder ein sehr verlustreiches Jahr aus. Neben utopischen und dystopischen Elementen entwirft Kennedy jedoch auch überzeugende Perspektiven für die erste Person Singular und Plural – das heißt für das Ich und das Wir in guten Zukünften. Ich, eine Amerikanerin, ein Amerikaner aus New Jersey, Austin oder Portland, werde persönlich etwas davon haben, wenn ich mich aktiv für eine Gesellschaft engagiere, der futuristische Ideen wie die Mondlandung gelingen. Gesellschaften, die solche Vorhaben verfolgen, brauchen Zusammenhalt und Unterstützung. Zumindest auf individueller Ebene wird es eine Belohnung dafür geben: ein Gefühl der Zugehörigkeit, der geteilten Zielsetzung, der Gemeinschaft und des Optimismus, aber auch eine Teilhabe am ideellen und materiellen Wachstum – das ist der dritte Erfolgsfaktor.

Darüber hinaus haben Wir, die ganze amerikanische Nation, etwas zu gewinnen – Ausheilen nationaler Wunden, Aussöhnung sich fremdgewordener Menschen, nationale Sicherheit und globales Prestige, das sich aus einem friedlichen Sieg über das gesellschaftliche System der Sowjetunion ergäbe – der vierte Erfolgsfaktor. Der fünfte schließlich ist der Anschluss der Zukunftsidee an den technologischen Fortschritt und die Nutzung bereits vorhandener, aber noch ausbaubarer Technologien zur Erreichung größerer Ziele in einer vielversprechenden Zukunft. Etwas technologisch Mögliches (Raketen) für etwas technologisch Unmögliches (ins All zu fliegen) zu mobilisieren und darauf eine wirtschaftliche (Satellitentechnologie) und gesellschaftliche Zukunft aufzubauen.

Kennedys politische Botschaft fasst also perfekt zusammen, was ich als die fünf entscheidenden Kräfte für ein erfolgreiches Zukunftsnarrativ betrachte. Die fünf Zukunftskräfte sind ein Modell und systematischer Ansatz zur Aufdeckung und Artikulation des Spannungsfelds und die zugrundeliegenden narrativen Muster von Zukünften. Das Modell wurde mit der Absicht entwickelt, selbst Zukünfte zu konstruieren, es ist jedoch auch anwendbar, um andere dazu anzuregen, sich einer gemeinsamen Zukunft anzuschließen, und darüber hinaus, um die im Zukunftslärm rauschenden Zukunftsprojektionen zu analysieren und zu bewerten. Hier wird das Modell angewandt, um Kennedys Version einer Zukunft für die USA zu analysieren. Das Modell ist ein Werkzeug, das die Entdeckung und Ausarbeitung von Zukunftsentwürfen und deren Kommunikation erleichtert.

Wenn man heute nach führenden Persönlichkeiten sucht, die ihre Kommunikationsstrategien bewusst auf Narrativen aufbauen, stößt man schnell auf Menschen wie Elon Musk, die die Fähigkeit haben, andere zu motivieren und für optimistische Prognosen zu gewinnen. In gewisser Weise recycelt Musk dabei hin und wieder auch alte Narrative, wenn er zum Beispiel die Idee der Mars-Kolonisierung propagiert und gleichzeitig autonomen Verkehr und Elektromobilität vorantreibt. Auch sein Hyperloop-Projekt ist in gewisser Weise recycelt, denn der Röhrentransport als Verkehrsweg ist ein alter Ingenieurstraum, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die zentrale Lehre, die man aus den Beispielen von Kennedy und Musk jedoch ziehen kann, ist, wie wichtig es ist, sich die Souveränität über die Zukunftsträume und die Möglichkeitsräume nicht aus der Hand nehmen zu lassen und dabei das Konzept plausibler Fiktion im Blick zu behalten, egal ob man nun ein Land oder ein Unternehmen führen will. Solche Ideen für die Zukunft zu haben und formulieren zu können ist von unschätzbarem Wert.

Kennedy und Trump – zwei sehr unterschiedliche Ideen von Zukünften

Auch mehr als ein halbes Jahrhundert später, lange nachdem Kennedys Ziel durch das Apollo-Projekt der NASA erreicht worden war, erscheint die Herausforderung, die der 35. amerikanische Präsident angenommen hatte, immer noch beeindruckend futuristisch. Zumal, wenn man sie mit dem eher erdverbundenen Vorschlag des 45. Präsidenten der USA vergleicht, eine 2.000 Meilen lange Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko zu errichten. Auf der einen Seite steht Kennedy, der, wie es echte Staatsmänner und -frauen tun sollten, die ganze Nation einen wollte und eine schillernde Großtat mit globalem Prestigeanspruch vorschlug – technologisch anspruchsvoll und ungeheuer teuer, inmitten eines wirtschaftlichen Abschwungs. Auf der anderen Seite steht Donald Trump, der ein auf seine sektiererische Wählerbasis ausgerichtetes populistisches Projekt des Spaltens mit großer Sichtbarkeit, begrenzten Kosten und wenig neuen technischen Herausforderungen im Kontext einer boomenden Wirtschaft anbot – und das letztlich unhaltbar war.

Eindeutig hatten beide Präsidenten unterschiedliche Vorstellungen von Technologie und Gemeinschaft im Sinn. Auch wird der Unterschied zwischen der Entwicklung einer Saturn-V-Rakete und der Verarbeitung von Millionen Tonnen Stahl und Beton zu einer befestigten Barriere am Ende nebensächlich, wenn das eigentliche Problem darin besteht, eine technologische Kraft für die Zukunft einer ganzen Nation zu mobilisieren. Beide Präsidenten setzten in ihrer Rhetorik eine ähnliche Form des technologischen Futurings ein, das darauf abzielt, Gemeinschaften hinter einer Herausforderung zu versammeln, die eine symbolische, identitätsstiftende Dimension hat. Beide präsentierten ein klares Bild davon, wie die Zukunft aussehen könnte, wer daran beteiligt sein würde – und wer davon ausgeschlossen bliebe. Beide warnten vor den Gefahren der Unentschlossenheit und hoben die potenziellen Gewinne hervor, die durch mutiges Handeln erzielt werden können.

Doch während es bei Kennedys Vision, zum Mond zu fliegen, darum ging, Barrieren zu überwinden und das Unmögliche möglich zu machen, steht Trumps Idee, eine Mauer zu bauen, offensichtlich für eine Vision, bei der es um Einschränkung, Begrenzung und Rückeroberung geht. Und doch argumentierten am Ende beide, dass ihre Projekte einem höheren Zweck dienten: dem Schutz, der Motivation und der Unterstützung der Gemeinschaft durch einen Sieg, der in einem engen Zusammenhang mit der Identität und der Bestimmung der Nation steht – auch wenn die Ziele und technologischen Ausführungen, die mit diesen beiden Zukunftserzählungen verbunden sind, nicht unterschiedlicher sein könnten. Als technologisches Zukunftsprojekt, das sein Kernziel mit relativ wenigen negativen Nebeneffekten erreichte, stützte sich die Mondlandung der 1960er-Jahre auf fünf wesentliche Merkmale: erstens, auf realistische Einschätzung der technischen Möglichkeiten zur Verwirklichung eines gewagten, aber klaren Ziels.

Das war nötig, auch um das erforderliche enorme Budget dafür im Staatshaushalt unterzubringen. Zweitens, auf ein eindringliches Ziel für die Gemeinschaft, das von einer überzeugenden, aber hinreichend unspezifischen Vision einer technologischen Zukunft ausging. Drittens, auf einen Zeitplan mit einem definitiven Endpunkt, an dem der Erfolg oder Misserfolg des technologischen Projekts nüchtern beurteilt werden konnte, der aber in diesem Fall auch hinter den potenziell möglichen zwei Amtsperioden eines amerikanischen Präsidenten lag. Viertens blickte das Projekt auf gemeinsame Interessen, die es ermöglichten, dass die Unterstützung für das technologisches Projekt aus einer Vielzahl unterschiedlicher Motive und Motivationen heraus möglich war. Und fünftens, auf ein Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Motivation durch eine ehrliche Risikobewertung und den Verweis auf nachvollziehbare Präzedenzfälle für ähnliche Erfolge und vergleichbares kooperatives Handeln – ob technologiebezogen oder nicht. Die fokussierte Natur dieses pragmatischen und integrativen Vorgehens macht es zu einem mächtigen Instrument der Zukunftsgestal-tung und zu einem Vorbild, vor allem, wenn es darum geht, Interesse zu wecken für den technologischen Wandel und das enorme dafür erforderliche Kapital einzuwerben.

 

Takeaway –  unsere Zukünfte, Unmögliches plausibel machen

 

Zukünfte…

 

…in der Mehrzahl zu beschreiben, zeigt einen Möglichkeitsraum auf.

…sind in Kennedys Zukunftsnarrativ New Frontier und dem Moonshot vorbildhaft beschrieben.

…lassen sich mit dem Modell von fünf Zukunftskräften gut untersuchen und beschreiben.

…unterscheiden sich von der Gegenwart durch das, was heute noch unmöglich ist.

…werden einfacher entwickelbar, wenn plauwart durch das, was heute noch unmöglich ist.

…werden einfacher entwickelbar, wenn plausible Fiktion und nicht nur Reales mobilisiert wird

 

 

 

 

 

 

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