Buchauszug Gundolf Wende : „Mehr arbeiten, weniger leiden“

Buchauszug von Gundolf Wende: „Mehr arbeiten, weniger leiden“

 

Gundolf Wende (Foto: PR/Business Village)

 

Die wahre Chance der Digitalisierung: Jenseits der Vermessung der Mitarbeiter

Es war auf einer Konferenz vor wenigen Jahren. Am Morgen des zweiten Konferenztages saß ich zusammen mit zwei weiteren Teilnehmern an einem Tisch im Frühstücksraum des Hotels, in dem wir untergebracht waren. Vor dem ersten Vortrag hatten wir noch ein bisschen Zeit, und so tauschten wir uns über das Konferenzprogramm des vergangenen Tages aus. Die Keynote hatte einer der damaligen Stars der Digitalszene gehalten, an dessen Namen sich heute schon keiner mehr erinnert – und um das, was er vorgetragen hatte, ging es uns nun bei Milchkaffee, Mehrkornbrötchen und frischem Obst vom Buffet.

»Also, in meinem Unternehmen handhaben wir das ganz ähnlich, wie der Digitalguru das gestern erzählt hat«, sagte Frau Fleischer, Geschäftsführerin eines mittelständischen Unternehmens, das elektrische Haushaltsgeräte produzierte. »Bei uns hat jeder einzelne Prozessschritt jedes einzelnen Mitarbeiters eine Nummer und einen Barcode, damit wir alles messen können, was geschieht.«

»Ach, das klingt ja spannend«, warf ich ein und fragte: »Erfahren Ihre Mitarbeiter denn, was Sie da immerzu messen?«

»Ja, klar«, antwortete Frau Fleischer. »Die Ergebnisse dieser elektronischen Messungen veröffentlichen wir in Echtzeit, und zwar so, dass sie jeder sehen kann – auf Monitoren, die überall in der Produktionshalle hängen. So weiß jeder einzelne Mitarbeiter direkt, wie viel er jeden Tag produziert und wie viele Fehler er macht.«

»Das ist ja krass«, entfuhr es da Herrn Weidner, der mit uns zusammen am Frühstückstisch saß. »Dann weiß ja auch gleich der gesamte Betrieb, was los ist – von dem Kollegen an der Produktionsstation nebenan bis zum Manager in der obersten Etage. Mich würde das ehrlich gesagt ziemlich stressen.« Herr Weidner war Führungskraft in einem Konzern und dort verantwortlich für Employer Branding. »Sind Ihnen Ihre Leute noch nicht aufs Dach gestiegen wegen dieser Rundumüberwachung?«

»Nein, bislang noch nicht«, lachte Frau Fleischer und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Und die Gelegenheit hätten sie schon mehr als einmal gehabt. Wir machen nämlich alle vier Wochen persönliche Feedbackgespräche mit sämtlichen Mitarbeitern, in denen es um die erbrachte Leistung geht. Wir sind da extrem transparent.«

»Hört sich ja an wie der real gewordene Digitalisierungsalbtraum«, entgegnete Herr Weidner. »Also, meiner Erfahrung nach führt eine solche permanente digitale Überwachung und Bewertung direkt in den kollektiven Burn-out. So viel Druck und Stress hält doch kein Mensch auf die Dauer aus!«

An dieser Stelle schaltete ich mich erneut in das Gespräch ein: »Diese Art der Mitarbeitervermessung hört sich sicherlich erst einmal heikel an«, begann ich. Herr Weidner nickte heftig mit dem Kopf. »Ich kann mir aber genauso gut vorstellen, dass dies die Menschen motiviert und anspornt.«

»So ist es!«, rief Frau Fleischer entzückt. »Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft! Bereits Kindern macht es Spaß, sich mit den anderen zu messen und immer wieder auch festzustellen, dass sie besser sind als die anderen.« Es entstand eine kleine Pause. »Und außerdem«, setzte Frau Fleischer noch nach, »ist das doch im Vertrieb schon immer üblich, die Verkaufszahlen sämtlicher Teammitglieder zu veröffentlichen. Und Belohnungen zu verteilen, wenn Ziele erreicht wurden. Darüber hat sich noch nie jemand aufgeregt.«

»Ich denke, die Wahrheit liegt hier, wie so oft, jenseits der beiden Pole«, sagte ich. »Digitalisierung, Technik generell, ist weder gut noch schlecht. Sie ist immer das, was wir daraus machen. Grundsätzlich erlaubt sie es uns, mühsame oder monotone Aufgaben abzugeben. Wenn es gut läuft, bekommen wir Menschen dadurch viel Freiraum, um das zu tun, was nur wir gut können und keine Maschine hinkriegt.«

»Und das wäre?« Herr Weidner hörte sich skeptisch an.

»Na ja, unsere Kreativität weiterzuentwickeln, geniale Ideen auszubrüten, Sinn zu stiften für uns und andere, empathisch aufeinander einzugehen – all das«, antwortete ich ihm und schaute kurz auf die Uhr. »Apropos neue Ideen ausbrüten – ich glaube, wir sollten jetzt mal rüber in den Blauen Salon, da geht nämlich gleich unser Programm mit dem Vortrag zum ›Ideenmanagement 4.0‹ weiter. Das passt doch ganz hervorragend!«

 

Wenn Führungskompetenz durch technischen Overkill ersetzt wird

Dieses Gespräch beim Frühstück beschäftigt mich seit damals immer wieder. Und auch wenn ich dort eine ausgleichende, vermittelnde Haltung eingenommen hatte, war und bin ich mir der Gefahren der Digitalisierung sehr bewusst und mitunter auch besorgt darüber. Digitalisierung bedeutet heute an so vielen Stellen nichts anderes als Command and Control – und das ist eigentlich etwas, das wir in der modernen Arbeitswelt begonnen hatten, hinter uns zu lassen. Die Digitalisierung schickt uns nun jedoch mit atemberaubender Geschwindigkeit und jeder Menge Hightech-Ausrüstung zurück in eine Welt der Zeiterfassung, der Fehlerraten, der Kontrolle und des Anprangerns. Die Vermessung der Mitarbeiter – so wie von Henrike Fleischer geschildert – bedeutet deshalb nichts anderes als ein Rückfall: Menschen werden lediglich anhand der Zahlen bewertet, die sie liefern. Ihre Individualität, ihr Gestaltungsfreiraum, ihre Kreativität bleiben auf der Strecke. Und wenn das Team aus der Halle B im selben Zeitraum höhere Stückzahlen erreicht als das Team in der Halle A – was ist dann zwischenmenschlich los im Unternehmen?

 

Meine Erfahrung zeigt: Diese Art von Komplettvermessung der Mitarbeiter wird vor allem dort gern praktiziert, wo die Führungskompetenzen beim Leitungsteam zu wünschen übrig lassen. Es ist meistens der mehr oder weniger hilflose Versuch, schlechte Führung durch zweifelhafte Instrumente zu vertuschen. Solche Führungskräfte sind überzeugt davon, dass ihre Mitarbeiter viel mehr leisten könnten, wenn sie sich nicht so anstellen und sich stattdessen endlich mal mehr reinhängen würden. Also erzeugen sie durch deren digitale Überwachung erst einmal Konkurrenz. Diese soll anspornen und motivieren. Die Frage, welche Veränderung des eigenen Führungsverhaltens dazu beitragen könnte, dass die Mitarbeiter eine höhere Leistung liefern, wird überhaupt nicht mehr gestellt. Digitalisierung ist dann ein bequemer Ersatz für wirkungsvolle Führung.

»Digitalisierung, Technik generell, ist weder gut noch schlecht.
Sie ist immer das, was wir daraus machen. Führungskompetenz wird
oftmals durch technischen Overkill ersetzt.«

Gerade in Produktionsbetrieben lässt sich dies oft beobachten. Hier kommen die Führungskräfte meist aus den eigenen Reihen. Es sind Techniker, die zu Managern aufgestiegen sind. Technisch-fachlich mögen sie hervorragend qualifiziert sein – die nötigen Führungskompetenzen fehlen ihnen jedoch oft. Solche Führungskräfte sollten jährlich mindestens fünf Prozent ihrer technischen Fähigkeiten in Führungsfähigkeiten umwandeln, indem sie sich beispielsweise in den Bereichen Kommunikation, Zielsetzung, Vertrauensaufbau oder individuelle Potenzialentfaltung weiterbilden. Stattdessen beharren sie auf ihren angestammten technischen Aufgabengebieten und jammern, sie hätten für Führungsaufgaben keine Zeit. Oft sind sie nahezu verliebt in die digitale Technik – denn damit lässt sich mangelnde Führungskompetenz scheinbar kompensieren. Für sie ist der technische Overkill ein Segen, erlaubt er doch, Führungsstärke vorzugaukeln, ohne sich selbst weiterentwickeln zu müssen.

Technik bringt jedoch nichts, wenn man sie einsetzt, um eigene Defizite zu verdrängen oder Verantwortung abzugeben. Mitarbeiter sind nicht dumm – sie spüren, welche Absicht sich hinter Neuerungen verbirgt. Sie merken, dass mit den Zahlen auf den Monitoren im Grunde ihr Verhalten kontrolliert werden soll. Dass ihre Individualität und ihre gestalterische Kraft überhaupt nicht gefragt sind. Dieses Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit stürzt Menschen in einen seelischen Konflikt, der sie immer öfter krank macht. Digitalisierung am Menschen vorbei und als Alibi für die eigene Unfähigkeit ist schlicht ein Missbrauch von Technologie. Der Autopilot unterstützt den guten Flugkapitän und macht einen Pilotenschein nicht überflüssig. Das Navi hilft der versierten Autofahrerin, die weiter selbst die Augen aufhält und mitdenkt. Digitale Technologie im Unternehmen hilft guten Führungskräften. Sie kann und darf Führungskompetenzen nicht ersetzen.

Wo digitale Technologie den Menschen wirklich hilft

Szenenwechsel. Denken Sie sich weg von der Produktionshalle, hin zu Herrn Meier, der eines Morgens im Schlafzimmer seines Reihenhauses in Oer-Erkenschwick aufwacht und sich so müde und kaputt fühlt, als hätte er seit mindestens einer Woche nicht mehr geschlafen. Außerdem verspürt er starke Halsschmerzen. Er könnte jetzt aufstehen, sich anziehen und direkt zu seinem Hausarzt in die Praxis gehen, um genauer untersuchen zu lassen, was er da hat. Das ist jedoch möglicherweise gefährlich, denn im Fall einer Virusinfektion könnte er unterwegs Menschen anstecken. Also aktiviert Herr Meier eine App auf seinem Smartphone und scannt damit seine Augen, zuerst das eine, dann das andere. Die App kann an den Rötungen rund um die jeweilige Iris erkennen, ob es sich bei seinen Beschwerden um eine harmlose Erkältung handelt oder ob er sich ein nicht ganz so harmloses Virus eingefangen hat. Bereits drei Minuten nach dem Augen-Scan bekommt er das Ergebnis: Es ist mit siebenundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine Infektion mit SARS-CoV-2.

Die Künstliche Intelligenz (KI), auf der die App basiert, rät ihm, sofort seinen Hausarzt oder den ärztlichen Notdienst zu kontaktieren und das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Diagnose muss noch mittels Abstrich und Laboruntersuchung bestätigt werden, allerdings nicht während der normalen Sprechzeiten des Hausarztes. Herr Meier erledigt alle nötige Kommunikation ebenfalls per Smartphone. Der Hausarzt stellt ihm zunächst einige Fragen. Während der Mittagszeit kommt er zum Hausbesuch und nimmt einen Abstrich von der Nasen- und Rachenschleimhaut. Das Testergebnis liegt wenige Stunden später vor und wird Herrn Meier wiederum per App auf sein Smartphone übermittelt – genauso wie dem Hausarzt sowie dem zuständigen Gesundheitsamt.

Weil die App eine integrierte Geo-Tracking-Funktion hat, informiert sie auch alle Menschen, denen Herr Meier in den letzten Tagen begegnet ist und die er möglicherweise angesteckt haben könnte. Die App analysiert dabei gleich, wie hoch deren Risiko ist, sich ihrerseits bei Herrn Meier angesteckt zu haben, und empfiehlt ihnen entsprechende Maßnahmen. Herr Meier muss nun in Quarantäne. Er macht täglich mit der App einen Augen-Scan, denn die App kann nicht nur den Status seiner Infektion mit dem Virus erkennen, sondern auch seine Temperatur, seinen Blutdruck und seinen Puls bestimmen.

Herr Meier hat nur einen leichten Krankheitsverlauf und erholt sich nach ein paar Tagen zu Hause. Alle seine Daten fließen in die KI ein, wo sie mithelfen, tiefere Erkenntnisse über die von dem Virus verursachten Krankheitsverläufe zu gewinnen. So können Forscher am Ende vielleicht neue Medikamente entwickeln und immer mehr Menschen helfen, die Krankheit schneller zu überwinden. Das alles hat weder etwas mit Überwachung oder Gängelung von Patienten zu tun noch mit Kompensation fehlender Kompetenzen seitens der Ärzte. Es sind großartige und hilfreiche neue Möglichkeiten!

 

 

 

Gundolf Wende: „Mehr arbeiten, weniger leiden“.  Business Village Verlag, 252 Seiten, 29,95 Euro. https://www.businessvillage.de/mehr-arbeiten-weniger-leiden/eb-1136.html

 

 

Digitalisierung schafft am Ende mehr Raum für Kreativität

Sie merken anhand des Beispiels von Herrn Meier: Ich bin alles andere als ein Digitalisierungsfeind. Schließlich bin ich überzeugter Naturwissenschaftler und damit Technik gegenüber prinzipiell sehr aufgeschlossen. Und ich will auch überhaupt nicht in Abrede stellen, dass die Digitalisierung einen immens hohen Nutzen für uns Menschen hat. Mehr noch: Sie ist vielfach ein Segen. Denn jedes Tool, jeder digitalisierte Prozess, jede angewandte künstliche Intelligenz wirkt zwar auf ganz eigene Weise, aber eines haben sie idealerweise alle gemeinsam: Wir Menschen bekommen durch die Technik mehr Optionen, mehr Möglichkeiten.

Unsere Handlungsspielräume erweitern sich. Menschen können Dinge auf Distanz erledigen, wo es Zeit spart oder – wie im Fall von Herrn Meier – sogar Risiken für die Allgemeinheit mindert. Und das ist erst der Anfang. In letzter Konsequenz schenkt digitale Technologie den Freiraum, uns auf unsere ureigenen kreativen Fähigkeiten zu konzentrieren und diese bestmöglich einzusetzen – zum Nutzen eines größeren Ganzen.

Um im Bereich der Medizin zu bleiben: Dort ist es in der Chirurgie mittlerweile Usus, dass sich Experten weltweit vernetzen und gemeinsam Operationen durchführen. Da kann es sein, dass ein OP-Team in San Francisco einen Patienten auf dem OP-Tisch liegen hat, aber die hinzugezogenen Kollegen in Tokio den Roboter programmieren und bedienen, der gleich am Patienten den Eingriff vornehmen wird. Die Menschen diskutieren und entscheiden gemeinsam über Grenzen und Ozeane hinweg – bringen also ihre individuelle kreative und gestalterische Kraft ein –, und die Maschinen setzen um.

Überhaupt ist die Kommunikationstechnologie ein sehr gutes Beispiel für den Segen der Digitalisierung: Wir erleben weltweit in sehr starkem Maße, wie uns Technik ermöglicht, in Verbindung und persönlichen Kontakt zueinander zu treten, gemeinsam Dinge zu bewirken und umzusetzen, obwohl wir räumlich voneinander getrennt sind. In Video-Konferenzen und Messenger-Chats, in Online-Seminaren und auf virtuellen Rundgängen erfahren wir Gemeinsamkeit, Integration, Inklusion. Wer aufgrund äußerer Umstände nicht an einem bestimmten Ort sein kann, ist trotzdem präsent und einbezogen. Er kann von digitalen Bildungsangeboten profitieren und sich dadurch weiterentwickeln.

Menschen in Schwellenländern sind durch digitale Technik an die globale Wertschöpfung angebunden und nicht länger abgehängt – denken Sie nur an die indischen IT-Experten, die via Internet für Unternehmen der westlichen Welt arbeiten. Menschen mit Behinderung, die vielleicht nicht so mobil sind, können ebenfalls von zu Hause aus arbeiten und an Prozessen teilhaben, die ihnen sonst nur unter erschwerten Umständen zugänglich wären. Wir können zu jeder Zeit und von nahezu jedem Ort dieser Welt aus in Kontakt zueinander treten, unsere Ideen teilen und in die Tat umsetzen.

Digitalisierung erlaubt uns in einem Wort, uns auf das Menschliche zu konzentrieren. Sie nimmt uns mühsame oder monotone Arbeit ab und zwingt uns außerdem oft dazu, Prozesse zu überdenken und neu zu organisieren (mehr dazu im nächsten Kapitel). Dadurch entstehen – wenn es gut läuft – Freiräume für unsere eigentlich menschlichen Stärken, wie Co-Kreativität, Empathie, Koordinierungsaufgaben und Sinnstiftung. Solche Freiräume sind eine unabdingbare Voraussetzung für Hochleistung in Unternehmen! Denn nur dort, wo Menschen ihre Kreativität ausleben und empathisch miteinander umgehen – und wo sie das, was sie tun, als sinnvoll empfinden –, arbeiten sie, ohne zu leiden, und leisten demzufolge auch wirklich mehr.

 

Berufe, Branchen, Industrien gehen unter – seit langem der Normalzustand

Ja, aber – ist es nicht auch die Digitalisierung, die unsere Arbeitsplätze vernichtet? Was sollen denn die Heizungsableser machen, wenn der Verbrauch unserer Heizungen automatisch erfasst und direkt in die Datenverarbeitung des Energieversorgers eingespeist wird? Was wird aus den Steuerberatern, wenn Steuererklärungen vollautomatisch von künstlicher Intelligenz erledigt werden? Und womit verdienen Übersetzer ihr Geld, wenn die Übersetzungsprogramme immer besser werden und kein Mensch mehr einen anderen Menschen braucht, um Texte in eine andere Sprache zu übertragen? Der israelische Historiker, Gesellschaftsanalytiker und Politikberater Yuval Harari beschwört in seinem Buch »Homo Deus« düstere Bilder eines neuen Proletariats herauf, einer künftigen »Klasse der Nutzlosen«: Durch die Digitalisierung verlören viele, viele Menschen ihre Arbeitsplätze und es bliebe ihnen nichts anderes übrig, als von Sozialhilfe zu leben, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben und sich – als ihr magerer Anteil an der digitalen Welt – Online-Spielen hinzugeben.

»In letzter Konsequenz schenkt digitale Technologie den Freiraum,
uns auf unsere ureigenen kreativen Fähigkeiten zu konzentrieren und diese bestmöglich einzusetzen – zum Nutzen eines größeren Ganzen.«

Es ist ein Leichtes, sich in solchen »Digitalisierung wird alles ins Elend stürzen«-Szenarien zu verlieren. Sobald wir jedoch den Blick in die Vergangenheit richten, wird klar: Es ist seit dem Beginn der Industrialisierung der Normalzustand, dass Berufe verschwinden und dafür neue entstehen. Laternenanzünder, Posamentierer, Harzer, Türmer – dass es diese Berufe einmal gab und nun nicht mehr, interessiert heute niemanden. Auch die große Panik der 1980er-Jahre, wonach die damals neuartigen PCs und überhaupt die ganze EDV gar nicht sinnvoll seien und bloß für Massenarbeitslosigkeit sorgen würden – vorbei und vergessen. Technologien entwickeln sich weiter, das Alte macht dem Neuem Platz. Das Neue bringt uns Nutzen und Gewinn, zu dessen Gunsten das Alte aufzugeben sich mehr als lohnt.

Wer wollte heute schon noch darauf beharren, dass ein Lithograf seine Arbeit besser oder schneller verrichten würde als eine Offset-Druckmaschine? Dass es auch einen Trend gegen die Digitalisierung gibt – und Menschen beispielsweise wieder mehr Handarbeiten verrichten, Vinyl-Schallplatten hören, Brot selbst backen oder alte Bücher sammeln –, stellt dazu gar keinen Widerspruch dar. Sondern es ist höchstens Ausdruck der Tatsache, dass wir Menschen immer auch ein kulturelles Erbe haben, das wir zumindest teilweise bewahren möchten.

 

Wo etwas zerstört wird, da wächst sofort das Neue

Was technischer Fortschritt für Menschen wirklich bedeuten kann, finde ich genial beschrieben in einer Geschichte, die Hans Rosling (1948–2017) in einem TED-Talk im Jahr 2010 erzählte. Der Schwede Rosling war Professor für Gesundheitswissenschaft und Autor des internationalen Bestsellers »Factfulness«. Er berichtete in dem Vortrag seinem Publikum, wie er als Vierjähriger seine Mutter zum ersten Mal eine Waschmaschine befüllen sah und welch großer Tag das für sie war. Sie und Hans Roslings Vater hatten jahrelang Geld gespart, um sich diese Waschmaschine kaufen zu können.

An dem Tag, an dem sie in Betrieb genommen werden sollte, kam sogar Roslings Großmutter, um diesem denkwürdigen Ereignis beizuwohnen. Sie war noch aufgeregter als Roslings Eltern – hatte sie doch ihr ganzes Leben lang einen immensen Aufwand betreiben müssen, um Wäsche waschen zu können: Holz sammeln, Holz hacken, Feuer machen, Wasser erhitzen, um dann von Hand die Wäsche für sich selbst, ihren Mann und ihre sieben Kinder waschen zu können. Nun sollte sie erleben dürfen, wie Elektrizität diese anstrengende und ermüdende Arbeit verrichten würde, die sie so viel Zeit ihres Lebens gekostet hatte!

Als Hans Roslings Mutter die Wäsche in die Trommel geladen hatte, bestand seine Großmutter darauf, den Knopf drücken zu dürfen, um die Maschine in Gang zu setzen. Nachdem sie das getan hatte, nahm sie sich einen Stuhl, setzte sich direkt vor das gläserne Bullauge und schaute der Wäsche dabei zu, wie sie in der Trommel rotierte. Das ganze Waschprogramm hindurch. Wie hypnotisiert. Für sie war eine Waschmaschine so etwas wie das achte Weltwunder. Hans Rosling führt dann aus, wie viele Frauen auf der ganzen Welt heute immer noch Wäsche für sich und ihre Familien von Hand waschen – eine harte, zeitaufwendige Arbeit, die viele Stunden pro Woche in Anspruch nimmt.

Neben allen Überlegungen zum weltweiten Energieverbrauch, die Rosling daraus ableitet, zitiert er am Ende seines Vortrags einen Satz seiner Mutter, den sie am Tag der ersten Inbetriebnahme der neuen Waschmaschine sagte und der von da an zentrale Bedeutung für ihn haben sollte: »Und jetzt, Hans, da die Waschmaschine die ganze Arbeit alleine erledigt, können wir in die Bücherei gehen!«

Das war in Hans Roslings Augen der »Zauber der Waschmaschine«: Man lade Wäsche hinein und bekomme Bücher heraus. Kinderbücher. Seine Mutter hatte nämlich von da an Zeit gehabt, ihm diese Bücher vorzulesen. Seine Mutter las aber auch Bücher für sich selbst. Sie begann, Englisch zu lernen. Sie verschlang einen Roman nach dem anderen. Hans Roslings Familie liebte diese Waschmaschine. »Danke, Industrialisierung!«, sagten sie. »Danke, Stahlwerk!« – »Danke, Elektrizitätswerk!« – »Und danke, Chemieindustrie! Ihr alle gabt uns die Zeit, Bücher zu lesen und zu lernen!« In Hans Roslings Erinnerung war dies der Moment, in dem seine Karriere als Professor begann.

Das bedeutet es, den Segen einer neuen Technik zu erkennen und ihn wertzuschätzen. Dieser Segen beruht auf der Freiheit, die wir Menschen idealerweise durch sie gewinnen. Durch die technische Entwicklung der Waschmaschine bekam Hans Roslings Familie Zeit – Zeit, sich um die eigene Bildung zu kümmern, sich um einander zu kümmern, den eigenen Leidenschaften nachzugehen, die eigene Kreativität auszuleben, das eigene Leben bewusst zu gestalten. Die Gleichsetzung von technischer Weiterentwicklung und Untergang – sie stimmt natürlich auch. Ob Industrien, Branchen oder Berufe: Es können ganz viele Dinge aussterben, wenn sich die Technologie weiterentwickelt. Aber dort, wo etwas zerstört wird, wächst immer auch das Neue. Das ist bereits in der Natur so: Feuer zerstört zwar das Land, aber aus der Asche wächst neues Leben, das es in dieser Form vorher nicht hätte geben können.

Letztlich ist hier alles eine Frage des Bedeutungsrahmens, heute auch gerne Framing genannt. Die Schreckensszenarien im Hinblick auf Digitalisierung gilt es, durch einen positiven Bedeutungsrahmen zu ersetzen. Das ist nötig, wenn Organisationen zu Hochleistungsorganisation werden wollen und sollen. Dann dürfen Mitarbeiter nicht dem Alten hinterhertrauern, sondern sollten lernen, das Neue zu begrüßen. Die Ablösung des Alten durch das Neue ist ein Prozess, der nie aufhören wird, solange es diese Erde gibt.

Und selbst wenn sie eines Tages zu einem Planeten geworden ist, dessen Oberfläche aus flüssigem Gestein besteht und auf dem keinerlei Leben mehr möglich ist, ist sie immer noch Bestandteil des Universums, das sich weiter verändert und sich irgendwann nur noch aus Elektronen, Positronen und langwelligen Photonen zusammensetzt – bis vielleicht durch einen neuen Urknall als Übergang in ein neues Universum wieder Bedingungen für neues Leben entstehen.

 

Um Hochleistung bringen zu können, braucht es mehr als Technik

Wieder denke ich an das Gespräch am Frühstückstisch des Konferenzhotels zurück. Die Vorstellung von Monitoren in Werkshallen, auf denen permanent die Produktivität der Mitarbeiter zu sehen ist, und zwar für alle und in Echtzeit, hatte auch meine Alarmknöpfe gedrückt – nicht nur die von Herrn Weidner, der damals mit am Frühstückstisch saß. Ja, die Gefahr besteht, dass eine als bloße Vermessung der Mitarbeiter daherkommende Digitalisierung negativen Druck und Stress erzeugt. Eine mögliche Folge ist, dass viele, viele Menschen in eine Art kollektiven Burn-out geraten und dass statt der Produktivität lediglich die Zahl der psychisch erkrankten Menschen im Unternehmen immer weiter ansteigt.

Diese Art der Vermessung kann aber auch Ansporn und Motivation für jeden einzelnen Mitarbeiter sein, die eigene Leistung und Produktivität zu steigern. Sich mit anderen zu messen und festzustellen, dass man besser ist als sie, holt uns Menschen, die wir in einer Leistungsgesellschaft leben, in einem quasi natürlichen Bedürfnis ab. Da stimme ich Frau Fleischer durchaus zu, die dieses Argument bei unserem Frühstück angeführt hat. Wettbewerb kann das Produktivitätslevel einer Gruppe anheben – vorausgesetzt, die Regeln und Messgrößen sind klar und werden eingehalten. Vertriebsorganisationen funktionieren schon lange nach diesem Prinzip. Zu erfassen und unternehmensintern zu veröffentlichen, welcher Verkäufer wie viel verkauft hat, und entsprechende Belohnungen dafür auszugeben, gehört hier zu den üblichen Anreizsystemen.

 

… Hochleistung braucht individuelle Freiheit, Freiraum und Kreativität

Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst empfinden Monitore mit Echtzeitproduktionszahlen nicht immer als schlecht. Frau Fleischer erzählte dies ja in unserem Gespräch. Ich redete damals im Verlauf des Konferenztages noch einmal mit ihr über das Thema. Sie berichtete mir, dass ihre Mitarbeiter an diesem System den direkten Zugang zu objektiven Zahlen sehr schätzten. Vor der Einrichtung des Systems mussten sie immer ihre Vorgesetzten fragen, wenn sie etwas über ihre Produktivität wissen wollten, egal ob nun auf individueller, Abteilungs-, Bereichs- oder Unternehmensebene. Außerdem würdigten sie die Tatsache, dass durch dieses System weniger Manipulation möglich sei. Vorgesetzte könnten so die Belohnung von Mitarbeitern nicht mehr nach Gutdünken vornehmen.

Das System bedeute also einen Gewinn an Autonomie für die Mitarbeiter. Das hört sich doch eigentlich gut an, dachte ich. Gleichzeitig war mir bewusst: Mehr Autonomie reicht definitiv nicht aus, um glücklich zu werden, sprich: Entspannt Hochleistung erbringen zu können. Dafür braucht es schon ein bisschen mehr – nämlich individuelle Freiheit, Freiraum und Kreativität. Also, so ziemlich genau das Gegenteil dessen, wofür die totale Überwachung der Mitarbeiter steht.

 

So kann Digitalisierung sogar Spaß machen!

Die alles entscheidende Frage lautet also: Wie kann Digitalisierung dazu beitragen, dass Menschen mehr individuelle Freiheit und Kreativität leben können? Einige Beispiele dafür habe ich weiter oben schon angesprochen. Lassen Sie uns hier noch ein bisschen in die Tiefe gehen.

»Die alles entscheidende Frage lautet also: Wie kann Digitalisierung dazu beitragen, dass Menschen mehr individuelle Freiheit und Kreativität leben können?«

Ich kenne eine Studienrätin, die seit vielen Jahren an einem Gymnasium Deutsch unterrichtet. Martina, wie ich sie hier nennen möchte, ist mit Leib und Seele Lehrerin, liebt ihren Job und ihre Schüler. Aber sie weiß auch, dass an Schulen wichtige Bereiche des Lebens und der menschlichen Entwicklung zu kurz kommen. Themen wie Lebenssinn, seelische Entwicklung und Spiritualität stehen zu selten auf dem offiziellen Lehrplan – obwohl sie eigentlich für die Entwicklung von Jugendlichen extrem wichtig sind. Martina hat deshalb vor einiger Zeit begonnen, ein speziell auf Schüler zugeschnittenes digitales Angebot zu entwickeln, das diese Lücke füllt. Damit will sie die Jugendlichen ermutigen, sich mit ihrer Spiritualität auseinanderzusetzen und ihre innere Stärke gezielt zu entwickeln.

An dieser Stelle geht es mir gar nicht um die Inhalte ihres Angebots, sondern darum, wie sie ihre Kreativität und ihre Leidenschaft durch die Digitalisierung so kanalisiert, dass sie ihre Zielgruppe tatsächlich erreicht: Mit einem Content-Management-System hat sie eine Website erstellt. Darauf veröffentlicht sie Videos – die sie mit ihrem Smartphone gedreht und mit einer speziellen Software bearbeitet hat. Außerdem hat sie Online-Kurse erstellt, für die es ebenfalls eine eigene Software gibt. Damit hat sie Videos und Skripte in den Online-Kurs eingebettet. Für den Austausch mit ihren Kursteilnehmern wiederum bietet sie auf ihrer Website ein spezielles Forum an, in dem es auch eine Chat-Funktion gibt. Die Bezahlung der Kurse wickelt sie über einen Zahlungsdienstleister ab, der ihr unterschiedliche Schnittstellen für die Integration der Bezahlfunktion auf ihrer Website anbietet.

Alle diese technischen Lösungen nehmen ihr bei der Aufbereitung und beim Verkauf ihrer Inhalte viel Arbeit ab. Sie muss sich nicht erst in die Technik einarbeiten oder gar einen Experten damit beauftragen – sie erledigt das einfach selbst. So hat sie deutlich mehr Zeit, um all ihre kreative Energie in die Entwicklung der Inhalte zu stecken. Und in den direkten Kontakt mit ihrer Zielgruppe, den Jugendlichen. Unter dem Strich heißt das: Digitalisierung schenkt ihr den Freiraum, Dinge zu tun, die ihr Spaß machen und die für andere Menschen Sinn stiften.

 

Technik dient dem Menschen – nicht der Mensch der Technik

Grundsätzlich sollte die Prämisse gelten: Die Technik dient dem Menschen. Nicht der Mensch der Technik. Nehmen wir als Beispiel die Kommunikation. Durch die Digitalisierung – Internet, schnelle Datenleitungen, immer bessere Programme für Videotelefonie, gemeinsam nutzbare Dokumentenspeicher samt Bearbeitung von Dokumenten in Echtzeit und so weiter – entsteht schnell der Anspruch, Kommunikation müsse wie von selbst laufen. Das wird jedoch nur gelingen, wenn in den Unternehmen nicht die Technik an die erste Stelle gesetzt wird, sondern der Mensch. Sprich: Führungskräfte wie Mitarbeiter sollten sich mehr als je zuvor fragen: Was kommuniziere ich wie? Und was davon hat der andere eigentlich wie verstanden? Denn Technik hat ihre Tücken.

Viel Zeit vergeht zum Beispiel in Videokonferenzen damit, dass Teilnehmer technische Fragen klären (»Warum sehe ich von fast allen das Bild und von Annegret nur die Initialen?«), wegen schlechter Internetleitungen aus der Konferenz fliegen oder nur die Hälfte dessen mitbekommen, was die anderen Teilnehmer miteinander besprechen. Dass sie sich ständig neu einwählen müssen und die anderen dann noch einmal wiederholen, was gerade besprochen wurde. Oder dass sie fünfmal nachfragen müssen, weil sie wegen zu langer Latenzzeiten das Gesagte nur bruchstückhaft verstanden haben.

 

Die menschlichen Zwischentöne gehen verloren, das Fühlen fehlt

Jetzt ließe sich sagen: Das sind Kinderkrankheiten, von denen in fünf Jahren keiner mehr sprechen wird. Doch es geht noch um etwas anderes. Der Kontakt zu den Menschen am anderen Ende bleibt oft merkwürdig flach und die so wichtigen menschlichen Zwischentöne (eine Mischung aus Körpersprache, Raumverhalten und energetischen Schwingungen) gehen verloren. Andere Menschen per Videokonferenz zu sehen und zu hören, suggeriert zwar, dass da kein ungesagter Text zwischen den Zeilen hängen bleibt, dem ist aber nicht so. Denn die neben dem Sehen und Hören so wichtige dritte Komponente, das Fühlen, fehlt.

 

Menschen müssen sich begegnen – um zu erspüren, ob es passt

Wer Menschen zu Hochleistung führen will, sollte dafür sorgen, dass die menschliche Komponente trotz aller gut funktionierenden Kommunikationstechnik nicht verloren geht. Dies lässt sich zum einen über intensive Reflexion darüber erzielen, was gesagt wird und wie es gesagt wird – medien- und adressatengerechte Ansprache des Gegenübers ist wichtig. Und zum anderen ist es entscheidend, die (Kommunikations-)Technologie von Zeit zu Zeit auch einfach zur Seite zu schieben und für den direkten Kontakt zwischen Menschen zu sorgen. Ob beispielsweise ein Bewerber wirklich ins bestehende Team passt, lässt sich nicht allein am Bildschirm herausfinden. Dazu müssen sich Menschen einander begegnen.

Dies erlebte auch der portugiesische Software-Designer Luis Abreu, der eines Tages aus heiterem Himmel eine Nachricht von Apple erhielt. Man beobachte seine Arbeit, sei sehr angetan, ob er nicht für Apple arbeiten wolle? Was folgte, veröffentlichte Abreu später in seinem Blog: Zunächst etliche Telefonate, sogenannte Screening Calls, in denen er mit seinen potenziellen Kollegen und Teamleitern sprach. Danach Videotelefonate via FaceTime: In fünf Gesprächen unterhielt sich Abreu mit Personalern, Designern und Fachexperten über seine Vorstellungen von Design und über seine Arbeitsweise. Alles lief perfekt. Es schien so, als stünde einem Arbeitsvertrag mit Apple nichts mehr im Weg. Wochen später wurde Abreu dann ins Apple-Hauptquartier nach Kalifornien eingeladen – komplett auf Konzernkosten natürlich. In einem stundenlangen Gespräch gingen sämtliche Beteiligten weiter in die Tiefe. Sie diskutierten über Arbeitsethik, Konfliktthemen, Apple-Produkte.

Und dann erst, nach dem persönlichen Treffen, kam überraschend doch die Absage. Das, was sich in vielen Telefonaten und stundenlangen Videokonferenzen nicht gezeigt hatte, war im persönlichen Kontakt offensichtlich deutlich geworden: Dass es einfach nicht ganz passte zwischen dem Menschen Luis Abreu und den Menschen in Cupertino.

 

Technik ist nicht gut oder böse, sondern neutral

So entscheidend das Zwischenmenschliche ist, so wichtig bleibt auf der anderen Seite auch, dass eine Business-Organisation bestimmte Dinge misst. Kennzahlen sind die Grundlage für viele strategische und operative Entscheidungen. Doch welche Bedeutung haben Kennzahlen für die Führungskräfte? Hier gibt es ein breites Spektrum. Es macht einen Unterschied, ob eine Führungsperson Kennzahlen dazu benutzt, ihre Mitarbeiter unter Druck zu setzen (»Ich erwarte im kommenden Jahr zwanzig Prozent mehr Stückzahl und eine um fünfzig Prozent niedrigere Fehlerquote.«) oder ob sie Kennzahlen heranzieht, um die Kreativität und den Ideenreichtum der Menschen im Unternehmen zu aktivieren: »Wie schaffen wir es gemeinsam, dass wir höhere Stückzahlen und niedrigere Fehlerquoten erreichen?« Im zweiten Fall lassen sich Kennzahlen sehr gut nutzen, um gemeinschaftliche Aktivitäten zu fördern, Erfolge zu messen und Motivation zu steigern.

Digitalisierung an sich ist nicht gut oder böse. Das sagte ich bereits im Gespräch mit den beiden anderen Konferenzteilnehmern beim Frühstück. Es kommt darauf an, was man im Unternehmen daraus macht. Wer eine Hochleistungsorganisation etablieren möchte, ist schlecht beraten, Technik einzusetzen, um Druck zu erzeugen. Der Erfolg wird – wenn überhaupt – lediglich ein kurzfristiger sein. Es geht hier um einen menschlichen Blick auf die Zahlen. Und darum, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen. Keine Digitalisierung auf dem Rücken der Menschen – aber auch keine Verklärung der guten alten Zeit.

Die Menschen sollten sich im Unternehmen emotional eingebunden fühlen

Wir brauchen hier ein neues Mindset. Digitalisierung ist auch eine Mindset-Aufgabe. Technik sollte weder idealisiert noch verteufelt werden. Eine angemessene Perspektive gelingt am besten, wenn sich die Menschen im Unternehmen emotional eingebunden fühlen, wenn sie in dem, was sie da tun, einen Sinn sehen – und wenn sie erleben, dass technische Möglichkeiten ihnen nicht die Jobs wegnehmen, sondern ihnen helfen, ihre Arbeit leichter und schneller zu erledigen und mehr Freiräume zu bekommen. Oder wenn sie dank der Technik gut erkennen, wo sie mit ihrer Leistung stehen und dann Ideen entwickeln dürfen, wie sie diese steigern können.

Das Problem sind hier leider oft die Medien und ihr gesellschaftlicher Einfluss. Bilder von leeren Produktionshallen plus die dazu passenden Schlagzeilen (»Oxford-Studie: In fünfundzwanzig Jahren werden siebenundvierzig Prozent der Jobs verschwunden sein«) erzeugen eine diffuse Angst und damit das Gegenteil dessen, was Menschen eigentlich in dieser komplexen Welt brauchen: Klare und verlässliche Einordnung. In unserer verrückten Zeit sei doch überhaupt keine dauerhafte Einordnung mehr möglich, mögen Sie da einwenden. Ja, das mag sein. Das ist jedoch noch lange kein Grund, es nicht für den Augenblick zu versuchen – überall in unserer Gesellschaft, in Familien, in Unternehmen, in Vereinen, dort, wo wir jeden Tag anderen Menschen begegnen.

Dort kann man einen Unterschied machen, durch individuelle Sinnstiftung und dadurch, den Wert jedes einzelnen Menschen sichtbar zu machen. Gerade auch am Arbeitsplatz, gerade als Führungskraft. Sicher, die klare und verlässliche Einordnung von großen, komplexen und weltumspannenden Entwicklungen wie der Digitalisierung ist schwierig und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Unternehmen können sie jedoch genauso wahrnehmen und das, was Digitalisierung an Nutzen für ihre Mitarbeiter und damit für die Organisation als Ganzes bringt, mit Leben füllen.

 

 

 

 

 

 

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