Buchauszug Rene´ Schumann, Stefan Oswald, Philippe Gillen: „Verhandeln mit System. Spieltheorie und Verhaltensökonomie im Einkauf – die Erfolgsformel für Profis“. Die drei Autoren sind Spezialisten für Verhandlungen und arbeiten bei der Unternehmensberatung Negotiation Advisory Group.

Rene´ Schumann (Foto: PR)
Fallstudie: Erpresserisches Pricing von Lieferanten
Ein großer deutscher Automobilhersteller hatte die Rohbauanlagen für drei große
Baureihen mit einem Vergabevolumen von rund 750 Mio. EUR ausgeschrieben,
verteilt auf sieben Vergabepakete. Sechs Lieferanten, inklusive der hauseigenen
Rohbauanlagenfertigung, nahmen am Vergabeprozess teil. Einige große Lieferanten
boten die Mehrzahl oder sogar alle Vergabepakete an, einige kleinere dagegen
nicht alle Pakete, weil ihre Kapazitäten dafür nicht ausreichten. Jeder Anbieter
hatte ein eigenes technisches Konzept entwickelt, das sich von den anderen
beispielsweise in der Anzahl der verwendeten Roboter und dem erforderlichen
Platzbedarf unterschied. Nach Aussage der Lieferanten hatte die Entwicklung
des technischen Konzepts für ein einziges Vergabepaket bereits mindestens
100.000 EUR an Planungskosten verschlungen. Diese Kosten mussten die
Lieferanten investieren, ohne zu wissen, ob sie letztlich für die zugrunde liegenden
Pakete nominiert würden.
Herstellung von Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Konzepten
Die erste Herausforderung bei der Verhandlung technisch hoch komplexer
Vergabegegenstände besteht in der Herstellung von Vergleichbarkeit. In intensiven
Workshops mit den technischen Fachbereichen wurde jedes Konzept monetär
bewertet. Die Kosten für die notwendigen Roboter wurden berücksichtigt, und für
den Platzbedarf im Werk ein Kostenfaktor je Quadratmeter als Malus abgeleitet.
Auch der erforderliche Personal- und Strombedarf wurde für jedes einzelne Konzept
minutiös in Euro errechnet. Dies fand unmittelbar nach Abgabe der Angebote
im Zuge des RfQ statt. So erhielten die Lieferanten bereits während der
Vorverhandlungen ein detailliertes Feedback sowohl zum technischen Konzept
als auch zum Pricing.
Das Problem: Erpresserisches Pricing von Lieferanten
Die verhandlungstaktische Herausforderung im Projekt bestand im aggressiven
Pricing-Verhalten der größten und technisch führenden Lieferanten. Ihre, unter
gewitzten Vertriebsprofis verbreitete Strategie: Prohibitive Pricing. Dabei bepreisten
sie die von ihnen bevorzugte Paketierung attraktiv, wogegen sie alle anderen
Paketierungsvarianten durch sehr hohe Preise künstlich unattraktiv rechneten. Im
konkreten Fall bedeutete das, dass große Lieferanten für eine Nominierung von
drei bevorzugten Vergabepaketen einen attraktiven Preis anboten, aber für
einzelne Vergabepakete extrem hohe Preise verlangten. Dieses Pricing-Verhalten
war deshalb problematisch, weil die von den Lieferanten angebotenen Bündel von
Vergabepaketen nicht überschneidungsfrei waren. Das heißt, wenn man ein
attraktives Bündelangebot eines Lieferanten mit den Einzelpaketpreisen der
restlichen Lieferanten kombinieren wollte, ergab sich ein relativ schlechter Business
Case, der weit oberhalb der internen Zielsetzung lag.
Obwohl das Einkäuferteam über viel Erfahrung verfügte, konnte es in den
konventionellen Vorverhandlungen die Lieferanten nicht dazu bringen, auch
einzelne Vergabepakete attraktiv anzubieten. Diese begründeten ihr Preisverhalten
mit angeblichen Synergien im Planungs- und Beschaffungsprozess, eine
Argumentation, an der der Einkauf jedoch begründete Zweifel hatte.
Unsere Aufgabe: Entwicklung einer Konterstrategie auf Basis der Spieltheorie
Nach Abschluss der konventionellen Verhandlungen durch das Einkaufsteam wurden
wir hinzugezogen, um ein spieltheoretisch optimiertes Verhandlungsdesign
zu entwickeln als Konterstrategie gegen das Prohibitive Pricing der Lieferanten
und um sie so zu zwingen, auch für einzelne Vergabepakete attraktive Preise
anzubieten.
Die Lösung: ein zweistufiges Design, das an alle Lieferanten kommuniziert
wurde. In Phase eins wurden alle Lieferanten aufgefordert, ihr Angebot für jedes
einzelne Vergabepaket nachzubessern. Sie mussten also für jedes einzelne, von
ihnen angebotene Paket einen gültigen Preis nennen. Dieser war die Basis für
ein Ranking: Für jeden angebotenen Paketpreis wurde die prozentuale Abweichung
vom internen Referenzpreis berechnet und anschließend die (ungewichtete)
durchschnittliche Abweichung vom Referenzpreis für alle angebotenen Pakete
eines Lieferanten ermittelt. So konnte das Preisniveau jedes Lieferanten in einer
einzigen Zahl dargestellt und in ein Ranking überführt werden.

Rene´ Schumann, Stefan Oswald, Philippe Gillen: „Verhandeln mit System: Spieltheorie und Verhaltensökonomie im Einkauf – die Erfolgsformel für Profis“. 135 Seiten, 34,99 Euro, Springer Gabler Verlag. https://www.springer.com/de/book/9783658340544
Das Ranking war entscheidend für Phase zwei. Hier galt eine Logik wie beim
Abfahrtsrennen im Skisport: Der Lieferant mit dem schlechtesten Ranking aus
Phase eins musste in Phase zwei als Erster „nochmal ran“ mit seinem finalen
Angebot, während der Lieferant mit dem besten Ranking in Phase eins als Letzter
anbieten durfte. Es war für Lieferanten in Phase zwei also von großem Vorteil,
spät oder sogar als Letzter Angebote einreichen zu können – ein Anreiz, der sie
schon in Phase eins konzilianter machen sollte. Die Lieferanten erhielten zudem
vor der jeweiligen Angebotsabgabe wertvolle Informationen über ihre Position
im Wettbewerb in Form von Abstandsintervallen zum bis dahin kostenminimalen
Angebot.
Gleichzeitig erhielt jeder Lieferant in Phase zwei die Möglichkeit, auch das
von ihm präferierte Bündel von Vergabepaketen anzubieten. Obwohl das
Einkaufsteam große Zweifel an den von den Lieferanten behaupteten Synergien hatte,
sollte kein Lieferant aus der Verhandlung ausscheiden, ohne zuvor noch das für ihn
optimale Bündel anbieten zu können. Daher konnte in Phase zwei jeder Lieferant
eine beliebige Kombination von Paketen als Bündel anbieten – oder auch
komplett darauf verzichten. Die Lieferanten wurden für jede denkbare Kombination
von Vergabepaketen (z. B. Bündel aus allen sieben Vergabepaketen, alle
denkbaren Bündel aus sechs Vergabepaketen, aus fünf Vergabepaketen etc.) vor
Angebotsabgabe über ihre Abstandsintervalle informiert. Dadurch erhielt jeder
Lieferant wertvolle Signale, welche Bieterstrategie für ihn am vielversprechendsten
war.
Bei diesem Regelwerk hatte der Lieferant mit Rang eins, der in Phase zwei
als Letzter anbieten durfte, eine Art „Last Call“. Das lag daran, dass diesem
Lieferanten – nach finaler Angebotsabgabe aller Wettbewerber – detaillierte
Abstandsintervalle kommuniziert wurden. Wenn er beispielsweise erfuhr, dass bei
Paket eins sein Abstand zum niedrigsten Preisangebot kleiner als drei Prozent
war, so wusste er, dass er das Paket bei einer Preisreduktion von drei Prozent auf
jeden Fall gewinnen wird. Dieser enorme strategische Vorteil in Phase zwei war
ein extrem starker Anreiz, bereits in Phase eins attraktive Preise anzubieten, um
sich für einen möglichst hohen Rang zu qualifizieren.
Das Ergebnis: Hohe Ersparnisse schon in Phase eins
Das Kalkül des Verhandlungsdesigns ging auf. Tatsächlich boten die Lieferanten
bereits in Phase eins starke Preisreduktionen an, die dem Automobilbauer
schon da Ersparnisse von 16 % einbrachten. Obwohl in dieser Phase lediglich
einzelpaketgültige Preisangebote erlaubt waren, unterschritten sie jetzt schon das
Preisniveau der Vorverhandlungen deutlich. Dieses Preisverhalten stand in starkem
Kontrast zu der Argumentation der Lieferanten, dass bei ihrer Nominierung
für mehrere Pakete große Synergien realisiert werden könnten. Offensichtlich war
derWettstreit um ein gutes Ranking in Phase zwei so intensiv, dass die Lieferanten
jegliches Taktieren über Bord warfen.
In Phase zwei ließen sich dann nur noch verhältnismäßig niedrige zusätzliche
Ersparnisse realisieren. Die Lieferanten konnten in der Reihenfolge des Rankings
aus Phase eins einzelne Pakete bzw. Bündel aus Paketen bepreisen. Nicht
wettbewerbsfähige Lieferanten lernten durch das Informationsfeedback, dass sie zu
weit abgeschlagen waren, um sich durch weitere Preissenkungen für das
Geschäft zu qualifizieren. Die Lieferanten, die sich in Phase eins durch sehr starke
Preisnachlässe auf Einzelpakete für ein gutes Ranking qualifiziert hatten, erfuhren,
dass sie bereits wettbewerbsfähig angeboten hatten. Da das Informationsfeedback
durch die Abstandsintervalle noch Unsicherheit mit sich brachte, boten aber selbst
deutlich führende Lieferanten nochmal weitere Preisnachlässe an. Letztlich wurden
in Phase zwei zusätzliche Savings in Höhe von zwei Prozent erzielt.
Fazit
Am Ende des Verhandlungstags war der Einkauf sehr zufrieden. Die Referenzpreise
der internen Kostenkalkulatoren wurden für alle Vergabepakete signifikant
unterschritten und somit die Ziele des Einkaufsteams erreicht. Gleichzeitig zeigte
es eine gewisse Genugtuung, weil das Verhandlungsdesign und der daraus
resultierende Verhandlungsverlauf offengelegt hatten, dass die von den Lieferanten
behaupteten Synergien, die Begründung für ihr Prohibitive Pricing, nichts weiter
als ein Märchen ihres Vertriebs waren.
Aufatmen – die Vergabe ist geschafft, signifikante Savings wurden erzielt, das
Management ist zufrieden mit dem Ergebnis. Aber noch ist der Prozess nicht
abgeschlossen. Jetzt ist der Moment, in dem der Grundstein für erfolgreiche
zukünftige Verhandlungen gelegt werden sollte. Denn die Vergabe hat zahlreiche
Informationen gebracht, die auch in Zukunft nützlich sein werden. Dabei geht
es nicht nur um Preise oder andere Quantitäten, die einer Datenanalyse unterzogen
werden können, auch Informationen zum Vergabedesign spielen eine wichtige
Rolle.
Details der Vergabe
Zuerst gilt es die Parameter der Vergabe zu erfassen, um die Basis für eine
Projektdatenbank zu schaffen: Was wurde beschafft, in welchem Umfang, welche
Zulieferer wurden beispielsweise vom Fachbereich Technik vorgeschlagen, welche
zusätzlich noch vom Einkauf recherchiert? Diese Angaben dienen dazu, später
in der Projektdatenbank einfach und schnell suchen und relevante Projekte schnell
finden zu können, etwa bei der Frage, ob dieser Zulieferer schon mal an einer
Vergabe teilgenommen hat.
Informationen aus der Marktanalyse und Bonus-Malus-Bewertung
Solche Informationen können zukünftige Vergaben enorm erleichtern. Auskunft
über technische Freigaben, finanzielle Reports das Unternehmen oder Angaben
zu Kapazitätsbeschränkungen sind wichtige Informationen, die auf strukturierte
Weise aufbewahrt werden sollten. Das bedeutet nach der Vergabe etwas
Zusatzarbeit, diese Daten so abzulegen, dass sie später nützlich sind. Doch
diese zeitliche Investition lohnt sich spätesten bei der nächsten Vergabe, bei der man
mit den gleichen Zulieferern zu tun hat. Dann muss nicht noch einmal erarbeitet
werden.
Auch wie eine Bonus-Malus-Bewertung zustande gekommen ist, sollte zumindest
in groben Zügen dokumentiert werden. Wir hatten in Abschn. 2.7 das
Beispiel der unterschiedlichen Bremsschläuche, zum einen platzsparende vom
Technologieführer, zum anderen ein Konkurrenzprodukt, das potenziell Reibung
ausgesetzt war und deshalb durch Manschetten verstärkt werden musste. Hier
wurde zusammen mit dem technischen Fachbereich bestimmt, wie viel an
Verstärkung notwendig und wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass die
Manschetten tatsächlich im finalen Design benötigt werden. Gerade der letzte Punkt
könnte wichtig im nächsten Projekt sein, sollte erneut eine solche Wahrscheinlichkeit
benötigt werden. So lassen sich nach und nach Prozesse im Einkauf in
Zusammenarbeit mit den anderen Fachbereichen etablieren, die für
hohe Effizienzgewinne in der Zukunft sorgen können. Aber auch grundsätzliche
Bonus-Malus-Bewertungen der Zulieferer sollten zentral und für alle Einkäufer
verfügbar gespeichert werden. Typische Beispiele dafür sind Lieferperformance,
Zusammenarbeit in der Vergangenheit, Unterstützung bei Planung, persönliche
Ansprechpartner für das eigene Unternehmen etc. Das alles sollte nicht bei jeder
Vergabe von neuem ermittelt werden.
Vergabedesign
Auch die Details des Vergabedesigns sollten auf standardisierte Weise dokumentiert
werden. Wettbewerbsvergabe oder bilaterale Verhandlung? Gab es mehr
als eine RfQ-Runde oder auch eine Vorrunde? Sammelt man diese Daten konsistent,
kann man gut analysieren, welche Verfahren für welche Warengruppen
besonders erfolgreich sind und bei welchen man sich noch verbessern kann.
Eine nachhaltige Dokumentation unterstützt auch die Ausbildung der nächsten
Einkäufer-Generation im Unternehmen, wenn man auch die Schwierigkeiten der
Vergabe und die daraus folgende Begründung für das Vergabedesign festhält.
Wurde beispielsweise eine Vorrunde durchgeführt, weil man während des RfQs
das Gefühl hatte, dass drei von vier Zulieferern den Wettbewerb unterschätzen?
Dann kann man das kurz notieren, und dem nächsten Einkäufer wird schnell klar,
wie das Design zustande kam. In der Einleitung haben wir auf die Erlernbarkeit
unseres „System of Negotiations“ hingewiesen: Je mehr spezifische Informationen
für die im Unternehmen üblichen Vergaben vorhanden sind, umso schneller
finden sich aufstrebende Einkäufer zurecht und können selbst Verantwortung für
Vergabeprojekte übernehmen.
Ergebnis
Selbstverständlich sollte auch das Ergebnis dokumentiert werden. Welche
Einsparungen wurden auf welches Volumen erzielt? Welcher Anteil davon resultierte
aus Vergleichspreisen, also aus den Bonus-Malus-Bewertungen, und welcher Anteil
wurde direkt gespart? In welcher Phase des Prozesses wurden die Savings erreicht
und die Einsparziele eingehalten? Welche Vertragsprämissen konnten erreicht
werden? Welche Informationen hier relevant sind, ist natürlich unterschiedlich je
nach Unternehmen und Warengruppen. Im Zweifelsfall dokumentiert man aber
besser einige Daten zu viel, als dass sie später fehlen und sich niemand im
Unternehmen mehr daran erinnert.
Fazit
Auch die Dokumentation der Vergaben ist eine ernstzunehmende Aufgabe des
Einkaufs. Hier schlummern mögliche Einsparpotenziale, die bei einer zukünftigen
Vergabe übersehen werden könnten. Und man erleichtert sich enorm die Arbeit,
wenn nicht jede Information immer wieder von neuem zusammengetragen werden
muss.
