Buchauszug Ana-Christina Grohnert: „Das verborgene Kapital Wie wir Wertschöpfung neu erfinden müssen.“
Ana-Christina Grohnert war Managing Partner bei der Big-Four-Beratung EY, Vorständin bei der Allianz und ist heute Vorstandsvositzende der Charta der Vielfalt.
Boni – die falschen Anreize für das Management
Ein Wendepunkt in meiner beruflichen Entwicklung war die internationale Finanzkrise, die 2007 ausbrach. Nach einigen Jahren in der Projektfinanzierung mit tollen und spannenden Cross-Border-Transaktionen, aber auch einer hohen Reisebelastung hatte sich mein Leben bereits 1998 und 2000 entscheidend verändert. Ich hatte meinen ersten Sohn und meine Tochter bekommen. Das ließ sich nicht mehr so gut vereinbaren mit den beruflichen Anforderungen, mit tagelangen Reisen und langen Abendterminen. Es war anstrengend, die sprichwörtliche Doppelbelastung. Ich wollte mehr Zeit für die Familie, ich wollte aber auch weiterarbeiten. Und ein wenig hatte ich auch Lust auf einen beruflichen Tapetenwechsel.
Ich musste mich also umschauen und suchte relativ offen nach einer neuen Aufgabe, bei der ich Beruf und Familie besser unter einen Hut bekommen und trotzdem etwas Neues lernen konnte. Und so verschlug es mich 2003 in den Bankensektor, wo ich den Beginn der Krise wenige Jahre später aus der Innenansicht erleben konnte.
Mein Arbeitgeber wurde die damalige DG HYP, die Immobilienbank der genossenschaftlichen Finanzgruppe, oder vereinfacht gesagt, der Volks- und Raiffeisenbanken. Die Bankenwelt kannte ich bis dahin als Geschäftspartner und Gegenüber. Jetzt gehörte ich plötzlich selbst dazu.
Man baute damals gerade eine neue Abteilung auf. Mein neuer Jobtitel lautete Structured Finance Manager. Zusammen mit den Sparkassen bilden die Volks- und Raiffeisenbanken eine Art Rückgrat der dezentralen deutschen Infrastruktur, und das im privaten wie im öffentlichen Bereich. Sowohl der »kleine Häuslebauer« als auch das mittelständische Unternehmen bekommen hier zu einem großen Teil ihre Immobilienkredite. Dazu natürlich auch die Kommunen, wenn sie ihre neue Kläranlage oder einen kleinen Windpark finanzieren wollen. Da waren sie wieder, die Projekte, die ich kannte. Nur diesmal aus einer anderen Perspektive.
Ich mag diese Struktur der Genossenschaftsbanken sehr, gerade weil sie dezentral ist, weil es vor Ort trotz hohem Wettbewerbsdruck in der Finanzbranche und unvermeidlicher Filialschließungen immer noch sehr großen persönlichen Bezug und sehr viel Flexibilität gibt. Und weil hier stärker als in klassischen Geschäftsbanken auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des eigenen Handels geachtet wird, auch geachtet werden muss. Denn gerade bei den Volksbanken ist es ja so, dass sie als Genossenschaften letztendlich ihren Kunden gehören.
Diese idyllische Perspektive darf allerdings den Blick nicht darauf verstellen, dass Bankgeschäft höchste Professionalität erfordert. Denn was vor Ort noch überschaubare und vorstellbare Beträge sind, wächst sich deutschlandweit zu einer enormen Summe aus. Als Sammelbecken für die deutschen Volks- und Raiffeisenbanken verwaltete die DZ-Bank, zu der die DG HYP gehörte, im Jahr 2006 fast 300 Milliarden Euro Kreditvolumen.
Das führte auch dazu, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Leute an unterschiedlichen Stellen mit den gleichen Themen beschäftigten. Meine Aufgabe war es, erst einmal einen Überblick für einen großen Teil des Immobiliengeschäfts zu schaffen und zu sortieren. Und auch, eine Einschätzung zu finden, wie die Bank mit dieser Menge unterschiedlichster Verträge grundsätzlich umgehen wollte. Denn nicht jede Art Geschäft war gleich wichtig für die Zukunftsausrichtung und die Strategie der Bank. Und natürlich gab es auch Kreditverträge, bei denen die Vertragspartner ihre Rückzahlungen nicht mehr so leisten konnten wie einst geplant. Das Risiko, das für beide Seiten in jedem Geschäft steckt. Konnte man für diese Verträge neue Lösungen finden und verhandeln? Was war mit denen, die definitiv nicht mehr bezahlen konnten? Wie konnte man die eigenen Risiken dabei grundsätzlich absichern? Es hat sich gezeigt: Die Problemlagen waren sehr unterschiedlich, und insbesondere für die problematischen Kredite benötigten wir ein hoch spezialisiertes Team, das wusste, wie man mit Risiken umgeht. Hinter dem Wort Risiko verbarg sich für Investoren eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das eingesetzte Geld nicht den erwarteten Ertrag brachte. Also in aller Regel kein totaler Verlust, sondern einfach nur eine geringere Rendite. Finanzmanager sehen das naturgemäß anders, für sie sind auch das Verluste.
Vor der Finanzkrise war es ein ganz übliches und normales Geschäft, solche Verluste als Risiken abzusichern oder zu verkaufen. Der Gedanke war einfach: Man nahm diejenigen Ansprüche aus Verträgen, deren Rendite nicht mehr groß genug war, und veräußerte sie zu einem bestimmten Preis weiter. Bezogen auf das eigentliche Geschäft entstand dadurch ein Verlust, den man in der Bilanz neu bewertet oder wertberichtigt hatte. Dabei waren sogenannte »außerordentliche Erträge« möglich, wenn man die Forderungen schon einmal werteberichtigt hatte und dann trotzdem noch mehr Geld herausholen konnte. Zugleich bekam man mit der Veräußerung der Forderungen neues Geld in die Hand, mit dem man wieder investieren konnte, also zum Beispiel neue Kredite ausgeben, die rentabler und vielleicht auch zukunftsorientierter waren.
Das war zu diesem Zeitpunkt ein ganz normaler Markt, auf dem Banken, Versicherungen und Investoren untereinander handelten. Welche Komplikationen daraus entstehen könnten – und dann auch tatsächlich entstanden –, das konnten sich die meisten gar nicht vorstellen. Bei der DG HYP hatten wir aufgrund der Kundenstruktur der Volksund Raiffeisenbanken in weiten Bereichen ein sehr geringes Risiko. In der privaten Baufinanzierung zum Beispiel ist nicht mit besonderen negativen Überraschungen zu rechnen. Das führte auch dazu, dass viele unserer Finanzprodukte, die wir Investoren anbieten konnten, immer gute Ratings hatten. Dass also die Spezialisten der Ratingagenturen als eine Art Gutachter ihre Dreifach-A-Bewertung gerne an uns vergaben.
Das wiederum machte uns attraktiv für große Kapitalgeber und Investorengesellschaften, zum Beispiel aus den USA. Deren Geschäftsmodell bestand darin, ihren amerikanischen Kunden beispielsweise eine private Rente zu finanzieren. Grob vereinfacht also: Ein amerikanischer Arbeitnehmer, der sich für das Alter absichern wollte, bezahlte an eine Kapitalanlagegesellschaft. Diese wiederum gab einer deutschen Hypothekenbank Geld, damit hier eine Volksbank einem deutschen Bauherrn einen Kredit geben konnte. Der wiederum wollte sich ein Haus bauen,
damit er fürs Alter eine zusätzliche Absicherung hatte.
Die Menschen auf der ganzen Welt haben am Ende doch immer sehr nachvollziehbare und praktische Interessen. Aber im Laufe der Zeit begann sich das eigentlich solide Bankengeschäft in Deutschland und international immer stärker auf die Marktverhältnisse in den USA zu fokussieren. Weil die Wirtschaft brummte, hatten viele Menschen in Amerika in der Zeit vor der Finanzkrise besonders viel Geld in der Tasche. Den Fondsgesellschaften floss dieses Geld fast automatisch zu. Und dieses Geld wollte angelegt werden. Unsere Kreditverträge – obwohl mit einem Risiko behaftet – wurden plötzlich immer mehr wert, die Kaufpreise der Amerikaner immer wilder. Mit der Zeit wunderten wir uns natürlich und fragten uns, wie die das machen.
Aber es gab noch viel größere Merkwürdigkeiten. Auch wer sich überhaupt nicht für solche Finanzangelegenheiten interessiert, der wird zu Zeiten der Krise doch vom US-amerikanischen Subprime-Markt gehört haben. Dort wurden Immobilienkredite an Menschen ausgegeben, von denen man damals schon annehmen konnte, dass sie ihre Raten dauerhaft nicht zahlen konnten, zum Beispiel auch, weil der Arbeitsmarkt in den USA deutlich weniger Sicherheit bietet und damit oft kein langfristig gesichertes Einkommen. Ein Hochrisikogeschäft also.
Die genossenschaftliche Kultur bei der DG HYP hat uns seinerzeit davor bewahrt, mit in den großen Abwärtsstrudel gerissen zu werden. Uns half auch die Rückbesinnung auf die Kunden. War es wirklich unsere Aufgabe, die »ganz großen Räder zu drehen«? Was sollte falsch daran sein, sich als Bank auf den Daseinszweck zu beschränken und ganz normalen Menschen die Bildung von Wohneigentum zu ermöglichen? Die sogenannten »notleidenden Kredite« aus unserem Geschäft gaben wir unseren Spezialistenteams, damit sie direkt mit den Kunden ins Gespräch gingen und ganz im Sinne des genossenschaftlichen Gedankens gemeinsam eine Lösung erarbeiteten.
Aber viele andere verkauften natürlich weiter. Einfach deshalb, weil es funktionierte. Wenn man beispielsweise ein Bündel an Kreditverträgen identifizieren konnte, die man längst abgeschrieben hatte, weil man selbst nicht mehr glaubte, dass diese zurückbezahlt würden, so fand sich trotzdem immer wieder ein Hegefonds-Manager, der das Risiko einfach anders bewertete und glaubte, daraus noch Geld zurückgewinnen zu können.
Als ob jemand für einen alten Blumentopf mit einem Sprung, der keinen Wert mehr hatte, plötzlich noch ein Drittel des Neupreises bezahlen würde. Nach einer ausführlichen Begründung fragt man in einer solchen Situation als Verkäufer natürlich nicht. Die Verkäufer konnten ihr Glück kaum fassen, für sie waren das sogenannte außerordentliche Erträge – Geld, mit dem niemand mehr gerechnet hatte und das der Bilanz der Bank zugutekam.
Entsprechend machten sich natürlich viele Gedanken, wie man noch mehr solcher »Werte« im Portfolio identifizieren und damit »Produkte« erschaffen konnte, denn es gab ja eine Nachfrage. Einer der Dreh- und Angelpunkte der Szene war damals die Messe ExpoReal in München, auf der sich alle tummelten, die Geld eingesammelt hatten und anlegen wollten. Man erlebte aufgekratzte Investoren, mit gigantischen Zahlen wurde nur so um sich geworfen, eine regelrechte Euphorie hatte sich aufgeschaukelt.
Die Verkäufer waren »Queens and Kings of the Market«, wenn sie diese Nachfrage bedienen konnten. Und sie wurden entsprechend umworben. Ich glaubte damals schon auch, ich sei einigermaßen gut in dem, was ich tat. Doch man vergleicht sich dennoch mit anderen und denkt in einem solchen Umfeld irgendwann: »Ich mache etwas falsch.« Mein Gehalt war ganz in Ordnung, aber es war eben ein klassisches Angestelltengehalt. Zugleich erlebt man Hedgefonds-Manager, die mit einer
einzelnen Transaktion über 500 Millionen Euro innerhalb von ein paar
Monaten gleich eine Provision von 5 Millionen Euro erzielen.
Eine innere Stimme sagt einem in solchen Situationen, dass das alles nicht ganz real sein kann. Es musste platzen. Insbesondere, weil es an einer Schlüsselstelle massive Fehlanreize gab: bei den Käufern. Denn wenn sich der Bonus eines Finanzmanagers – grob vereinfacht – nach der Menge an Geld richtet, die er investiert oder besser gesagt ausgibt, und nicht nach der Höhe des Risikos, dann kann dabei nichts Sinnvolles herauskommen. Die US-amerikanischen Käufer, aber auch viele andere haben das System bis an seine Grenzen und noch weit darüber hinaus ausgereizt. Sie kauften einfach alles, solange sie Geld hatten. Sie schufen mit ihrem Geld eine Nachfrage, die wiederum Produkte schuf, die es gar nicht geben kann.
Ich denke etwa an die Masse spanischer Anlegerimmobilien, die zu 100 Prozent kreditfinanziert waren oder sogar noch mehr Kredit bekamen, als das Projekt an Sicherheit oder Gegenwert darstellen konnte. Minusgeschäfte, die manche am Kapitalmarkt noch in Produkte verwandeln haben. Zum Teil bis heute Bauruinen. Die sozialen und ökologischen Folgen treten einem bildlich vor Augen. Aber eine Zeit lang war das so etwas wie eine Lizenz, Geld zu drucken.
Diese Mechanismen der fehlenden oder falschen Bewertung von Risiken lösten in der ganzen Fehlkonstruktion schließlich aus, dass sich auch die Bewertungsmaßstäbe insgesamt verschoben. Fast wie in der Schulklasse: Wenn niemand mehr eine Eins schreibt, ist irgendwann die Zwei die beste Note. In dieser Art Investmentgeschäft gab es irgendwann nicht einmal mehr die Vier für »ausreichend«, sondern nur noch »mangelhaft« und »ungenügend«.
Rückblickend reibt man sich heute noch die Augen, was alles veranstaltet wurde. In den USA wurden beispielsweise massenhaft völlig aussichtlose Kredite vergeben, den Leuten geradezu aufgeschwatzt, zum Beispiel für Studiengebühren. Alles nur, um Kredite im Portfolio zu haben, die man verkaufen konnte. Man wusste also schon bei Abschluss, dass diese Kredite nie zurückgezahlt werden würden. Man schuf ein
Produkt, dass allen nur schaden konnte. Absurd.
Zum zehnten Jahrestag im Jahr 2017 veröffentlichte die Financial Times eine Aufstellung der Verurteilungen und Strafen im Zusammenhang mit der Finanzkrise. Die US-Behörden hatten in dieser Zeit Bußgelder und Wiedergutmachungen in Höhe von 150 Milliarden US-Dollar angeordnet. Insgesamt 324 Bänker, Immobilienfinanzierer, Makler und Projektentwickler wurden in den USA verurteilt. Allerdings stellte das Blatt auch verwundert fest, dass kein einziger Vorstand der Wall Street darunter war. Der höchstrangige Verurteilte war Lee Farkas, der Vorstand eines Immobilienfinanzierers in Florida.
Man sollte meinen, die Anleger in diesen Märkten hätten es früher merken müssen. Aber auch hier habe ich zahlreiche Leute bis hin zu Vorständen von Investmentfirmen erlebt, die sich immer noch mit ihren Bewertungen wohlfühlten, als die Krise längst schon am Hochkochen war: »Ich habe nur AAA-Bewertungen, mir kann nichts passieren.« Der Stempel einer Ratingagentur ersetzte das Wissen, die Erfahrung und die eigene Vorsicht.
Man fragt sich, ob nicht die vermeintlich erfolgreichen Investmentbanker tatsächlich einen besseren Gesamtüberblick über die Entwicklungen hatten. Doch wenn es so gewesen wäre, dann hätten sich sicher viele vor Ausbruch der Krise einen neuen Job gesucht. Nein, ganz im Gegenteil: Sie glaubten vielmehr, es würde immer so weitergehen. Ich denke, viele professionelle Anleger hätten die Fehlentwicklungen
früher bemerken können, wenn sie intensiv mit Kreditanalysten zusammengearbeitet hätten, um sich selbst ein realistisches Bild von den Risiken zu machen. Viele Kreditanalysten haben mir später gleichlautende Einschätzungen gegeben: »Bei uns wären diese Bewertungen nicht durchgegangen, wir hätten diese Anlage nicht als sicher eingestuft.«
Zu einem frühen Zeitpunkt der Krise gab es ein paar Juristen bei uns, die eine Analyse über Probleme im US-amerikanischen ImmobilienFinanzierungsmarkt auf der Ebene der Abteilungsleiter verschickten. Aber zu diesem Zeitpunkt waren diese Märkte für die meisten von uns in Deutschland noch weit entfernt, erst später wurde deutlich, wie sehr sich hier schon ein von der Realwirtschaft entkoppeltes globales Finanzsystem entwickelt hatte.
Erst als es richtig brannte, fragte ich mich: Wie kann es sein, dass im Unternehmen dieses wichtige Wissen nicht an der richtigen Stelle in einem Team gebündelt war, obwohl es vorhanden war? Wie kommt es, dass vorhandenes Wissen ignoriert, belächelt und nicht ernst genommen wird? Wie kann es sein, dass Leute nicht miteinander reden? Ich dachte: Das muss auch anders gehen.
Doch vor der Frage, wie es auch anders gehen könnte, standen damals in der Branche eine Reihe von Aspekten, die mit einer schlechten Führungskultur, Machtpolitik und Eigeninteressen zu tun haben. Allen voran die Motivation, persönlich schnell viel Geld zu machen. Denn nicht nur die Käufer wurden mit Boni überhäuft, auch Vorstände und Führungskräfte in den Banken wurden an den Volumina und den außerordentlichen Erträgen gemessen, die sie bewegten.
Nachhaltigkeit war damals in der Branche ein Fremdwort, und die Risikoüberlegungen endeten quasi pünktlich zum Stichtag 31.12. mit dem Geschäftsjahr. Wer in einer Bank einen Vorstandsvertrag hatte, der noch ein oder zwei Jahre lief, dem waren 20 Prozent in der Gegenwart wichtiger als ein stabiles Geschäft in fünf Jahren, an dem er nicht mehr beteiligt sein würde. Zumal auch die Aufsichtsräte Vertragsverlängerungen von den kurzfristigen Ergebnissen abhängig machten. Denn ihnen saßen wiederum die Aktionäre und Investoren im Nacken.
In vielen Banken herrschte zudem eine hierarchische Kultur, die Widerspruch nicht zulassen wollte. Man durfte kein Spielverderber sein. Vorstände umgeben sich ohnehin gerne mit loyalen Leuten, die funktionieren und nicht zu viele Fragen stellen und zu viele Probleme machen. Entsprechend schwach sind Fähigkeit und Wille ausgeprägt, kritische Aspekte systematisch zu untersuchen. Man schiebt sie lieber beiseite. Oder jemand anderem in die Schuhe.
Zahlreiche Banken, wie etwa Lehmann Brothers oder die Dresdner Bank, verschwanden in der Folge von der Bildfläche. Die Hypo Real Estate musste gar verstaatlicht werden, die Risiken wurden in eine »Bad Bank« ausgelagert. Ich persönlich war in einer eher komfortableren Situation. Da die Volksbanken von ihrem Auftrag her damals schon nachhaltiger aufgestellt waren, sind die schlimmsten Exzesse an mir und meinem Arbeitgeber vorbeigegangen.
Dazu kam, dass ich gerade zum Ausbruch der Krise ohnehin eine neue Aufgabe übernommen hatte. Man hatte mich gefragt, ob ich nicht in das Beratungsgeschäft wechseln wolle. Natürlich wollte ich, schon allein deshalb, weil mich der neuerliche Perspektivwechsel reizte. Und so übernahm ich als Partnerin bei Ernst & Young (heute EY) die Aufgabe, Banken und Finanzunternehmen dabei zu helfen, inmitten des ganzen Schlamassels wieder etwas Übersichtlichkeit zu schaffen.
Was sich aber aus dieser Zeit tief eingeprägt hat bei mir, ist die Abneigung gegen den Egoismus, der diese weltweite Krise ausgelöst hat. Das Verlangen nach dem schnellen Geld und der außergewöhnlichen Rendite, nach immer mehr, im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Rücksicht auf Verluste.
Was mich besorgt macht: Nicht alle Lehren aus der Krise wurden beherzigt. Natürlich hat man das Thema der Boni aufgearbeitet und dabei gesehen, welche fatale Wirkung allein schon dieser eine Mechanismus auslösen kann. Dennoch sind wir bei den Vergütungssystemen noch nicht so weit, dass wirkliche Nachhaltigkeit der entscheidende Faktor ist. Man hat versucht, aus der Falle der Kurzfristigkeit etwas herauszukommen, indem man zum Beispiel Midterm-Boni eingeführt hat. Der
sogenannte »Leistungsanreiz« sollte nicht mehr auf ein Jahr, sondern auf eine längere Zeitspanne, wie zum Beispiel zwei oder drei Jahre bezogen sein. Aber mit dieser Maßnahme ist man auf halbem Wege stehen geblieben. Denn natürlich sind auch zwei oder drei Jahre schnell vergangen.
Ein Fall macht das ganz besonders deutlich. Im Krisenjahr 2007 trat bei der Volkswagen AG Martin Winterkorn sein Amt als Vorstandsvorsitzender an. Er eilte von Rekordergebnis zu Rekordergebnis, und auch seine Boni erreichten Rekordwerte. Acht Jahre später musste er infolge des Manipulationsskandals zurücktreten, heute steht er in Deutschland und den USA unter Anklage. Was er für das Unternehmen, die Kunden, die Beschäftigten und die Investoren tatsächlich geleistet hat – wer will das überhaupt noch sinnvoll beurteilen können?
Der individuelle Bonus, der in vielen Unternehmen auch heute noch und nicht nur in der Vorstandsetage ein Gehaltsbestandteil ist – er ist überholt. In Lehrbüchern wird er gepriesen als »sinnvolle und vielseitig einsetzbare Methode der Personalpolitik«, mit der man angeblich »besondere Leistungen« oder ganz allgemein den »Unternehmenserfolg« honorieren könne. Aber gerade der individuelle Bonus beruht oft auf völlig untauglichen Kennzahlen, er setzt falsche Anreize, und er setzt überdies
auch ein falsches Signal. Das Beratungsunternehmen Fehr Advice formuliert in seiner »Pay for Perfomace-Studie« noch höflich: »Es konnte keine systematische Verbindung zwischen der Vergütung des Top-Managements und der Management-Performance aufgezeigt werden.«
Buchauszug Ana-Christina Grohnert: „Das verborgene Kapital Wie wir Wertschöpfung neu erfinden müssen.“ Campus Verlag, 264 Seiten. 27.95 Euro. https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/business/management-unternehmensfuehrung/das_verborgene_kapital-16588.html
Gläser und Dr. Suzanne van Gils kommen in einer gemeinsamen Studie
zu dem Schluss, dass durch individualisierte Bonussysteme »ein aggressiver Wettbewerb zwischen den Kollegen das Arbeitsklima vergiftet«. Ich sehe das genauso. Gegenüber den Beschäftigten erzeugt die individuelle »Belohnung« eine unnötige Vergleichsdimension, die nie wirklich gerecht sein kann.
Die Berechnungssysteme und die Nachweisführung sind künstlich verkompliziert. Die konkrete Bewertung von Leistung erfolgt zu oft nur nach Gusto der Vorgesetzten.
Die erste wichtige Veränderung an diesem System wäre es, Boni nur noch an Teams zu geben, für gemeinschaftlich erbrachte Leistungen. Das Individuum ist wichtig. Aber nicht als Einzelkämpfer im Eigeninteresse und somit im Wettbewerb gegen die anderen, wer mehr vom Kuchen abbekommt, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die den Kuchen so groß macht, dass alle etwas davon haben. Der nächste Schritt ist übrigens, dass Teams ihren Beitrag auch selbst definieren und messen.
Kosten, Kosten, Kosten
Nicht erst, wenn Unternehmen Probleme bekommen, meist schon viel früher verfallen sie in ein gleichermaßen weitverbreitetes wie unreflektiertes Verhaltensmuster: Kostenoptimierung. Es ist ein Euphemismus, der sich schon an der sprachlichen Verrenkung zeigt. Denn Kosten sind dann optimiert, wenn sie sich verringern, also weniger werden. Die Kosten sind im Laufe der Zeit zu einer regelrechten Obsession in fast allen Unternehmen im Management und sogar in Teilen des Unternehmertums geworden. In der betriebswirtschaftlichen Grundausbildung, die ich wie viele Hunderttausende auch durchlaufen habe, ist eine bestimmte Sichtweise auf Kostenmanagement fester Bestandteil.
So gut ich als Zahlenmensch diesen Ansatz fachlich beherrsche, so sehr hat mich die bedingungslose einseitige Fixierung auf Kosten schon immer irritiert und gestört. Wir schauen auf eine Zahl oder ein Bündel von Zahlen, die angeblich Aussagekraft haben. Haben sie aber nicht. Denn Kosten sind keine Kennzahl für irgendetwas, solange sie nicht einem Ergebnis gegenüberstehen und im Kontext betrachtet werden.
Ein einfaches Beispiel aus der Käuferperspektive: Was darf eine Tasse Kaffee kosten? Die hartleibigen Kostenkürzer würden sagen: So wenig wie möglich. Das klingt nur im ersten Moment vernünftig, ist aber tatsächlich nicht hilfreich. Bei den meisten Leuten würde die Antwort vermutlich lauten: Kommt drauf an – auf die Sorte, auf die Qualität, auf die Zubereitungsart, auf Zeit und Ort, auf vieles mehr. Was darf ein Kaffee am Domplatz in Erfurt kosten, was im Hotel Baur en Ville in Zürich, was an der Tankstelle in Portugal? Die Zahl allein hat keine Aussagekraft, wenn wir nicht auf das ganze Paket schauen, das wir dafür bekommen.
Mit dem Faktor Kosten im Unternehmen verhält es sich ganz genauso. Sie sind der interne Preis, zu dem wir in einem mehr oder weniger komplexen Prozess ein bestimmtes Ergebnis herstellen. In dem Moment, wo wir diese Zahl verändern, verändern wir sowohl den Prozess als auch selbst nicht oder nicht mehr profitiert. Der Zusammenhalt im Unternehmen wird auf die Probe gestellt.
Denken wir auch diesen Punkt wieder aus der Kundenperspektive: Was habe ich davon, wenn ein Süßwarenhersteller sich einfallen lässt, kandierte Chia-Bällchen zu entwickeln, und dafür die Menge oder Qualität meiner Milchschnitte verschlechtert?
Oder aus der Lieferantenperspektive: Man drückt mich im Preis der Produkte, die ich zuliefere, obwohl ich zuverlässig und qualitativ hochklassig bin. Gleichzeitig investiert man in Produktlinien, in denen ich nicht zum Zuge komme.
Ja, und auch aus der Sicht nachhaltiger Investoren muss man diese Fragen stellen: Was macht ihr Manager mit dem Unternehmen, in das ich mein Geld stecke? Habt ihr wirklich einen langfristigen Blick auf die Dinge, oder wollt ihr für den Moment mit Zahlen glänzen? Könnt ihr Situationen richtig einschätzen und Entwicklungen gut abschätzen, oder fahrt ihr auf Sicht? Dreht ihr hektisch und planlos am Steuer, sodass sich das Schiff nur im Kreis dreht oder gar ins Schlingern gerät? Kann ich mit euch nachhaltig erfolgreich sein?
Ich bin für Effizienz und Effektivität, aber im Rahmen einer nachhaltigen Kostenkultur. Diese beinhaltet ein Grundverständnis vom balancierten Umgang mit allen Ressourcen, bei dem sowohl Verschwendung als auch Verschleiß thematisiert werden. Eine Kostenkultur, die von der Transparenz zu Kosten und Ergebnissen lebt. Und in der auch Risiken abgebildet sind, die als Kosten von morgen jede kleinteilige Kürzung heute in den Schatten stellen können.
Wissen entwertet
Zum nachhaltigen Erfolg eines Unternehmens gehören selbstverständlich ein nachhaltiges Wissensmanagement und lebenslanges Lernen. Doch das Lernen selbst hat in Deutschland nur vordergründig einen guten Ruf. Das fängt schon in der Schule an. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung: Man lernt am leichtesten das, was einem Spaß macht. Und vielleicht auch, was nützlich ist. Doch was, wenn man keinen Spaß an einem Thema hat und den kurzfristigen Nutzen nicht sieht? Sich für das Lernen als solches, für Techniken und Methoden zu begeistern, fällt uns schwer. Nun bin ich keine Expertin für schulische Bildung und verfüge über wenig mehr als die Alltagserfahrung einer dreifachen Mutter und eigene Erinnerungen an meine Schulzeit.
Ich glaube, was mich immer am meisten gestört hat, war die begrenzte Flexibilität in Bildungseinrichtungen. Ich habe das System als starr empfunden. Man konnte sich von dem vielen vorhandenen Wissen der Lehrer und Lehrerinnen nichts aussuchen, sondern musste nach Plänen – Stundenplan und Lehrplan – ein Pensum an Materie bewältigen, für das man anschließend auch noch Noten bekam.
Man musste Dinge auf Vorrat lernen. »Das kannst du jetzt noch nicht verstehen, aber später wirst du es mal brauchen«, diesen Satz hört man heute noch. Das stimmt für manche Dinge, für manche auch nicht. Aber es war mir schon im Schulalter nicht
plausibel, dass es für alle Lehrinhalte gleichermaßen zutreffen kann.
Eines der Dinge, die mir insgesamt nicht gefallen haben, waren Prüfungen. Ich selbst hatte an Testsituationen durchaus Freude. Für mich war das immer wie eine Art sportlicher Wettbewerb.
Aber vielen ging es nicht so, und das hat man gespürt. Schon wenn ich an das erste Jahr in der Grundschule denke. Das erste Zeugnis mit Abschlussnoten nach einem Jahr muss für viele Kinder meiner Generation ein Schock gewesen sein. Man versteht das System ja nicht, aber man wird von Erwachsenen bewertet, ein Wert wird festgestellt. Man kann das nur als Wertung der eigenen Persönlichkeit begreifen, die am Ende in »bessere und schlechtere Menschen« unterteilt.
Im Laufe der Schulkarriere lernt man dann irgendwann, der Verplanung und Bewertung mit einem gewissen Maß an Disziplin zu begegnen, um den Anforderungen zu entsprechen. Die preußische Lehranstalt lässt grüßen. Wenn am Ende aber nichts bleibt außer der Disziplin als Selbstzweck, dann ist nichts gewonnen. Disziplin ist in dieser Hinsicht die große Schwester der Effizienz. Und gemeinsam können sie viel Schaden anrichten, wenn sie nicht wissen, wofür sie eigentlich eingesetzt werden wollen.
Hochschulen
Entsprechend geht es mir auch mit den Hochschulen. Schon das Wort irritiert: So etwas wie eine Schule, nur noch anstrengender? Auch hier gibt es wieder Pläne, Punkte und Scores. Und sehr viele ausgetretene Pfade. Aber wo bleibt die Freiheit? Wo bleiben das Entdecken und Erfinden? Für kurze Zeit hatte ich mal einen Lehrauftrag. Es hat mir am Anfang Spaß gemacht, weil es eine neue Erfahrung war. Aber auf Dauer wäre ich dort unzufrieden geworden. Und ich kann mir gut vorstellen, dass viele Lehrende an Hochschulen genauso unzufrieden mit den Begrenzungen des Systems sind, wie ich es war.
Während meines Studiums hat mich vermutlich gerettet, dass ich fast grenzenlos neugierig bin und ein ungewöhnliches Interesse an Komplexität habe. Ich will Dinge verstehen, die im ersten Moment komplett unverständlich erscheinen. Motiviert gehalten haben mich auch gelegentlich Gastvorlesungen von inspirierenden Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Ottmar Issing, der damals Chefvolkswirt der Bundesbank war und später auch im Direktorium der Europäischen Zentralbank saß.
Man bekam einen Eindruck von der Welt, man konnte sich mit Menschen auseinandersetzen, die Wissen und Erfahrung in den unterschiedlichsten Bereichen hatten. Trotzdem war ich selbst auch froh, als ich die Hochschule erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Für mich hat zum Lernen auch immer das Ausprobieren gehört, und das kam mir einfach zu kurz. Ich hatte zudem schon damals das Gefühl, dass Lernen in der Klassenzimmeratmosphäre und nach Regeln des 19. Jahrhunderts für mich nicht passend war. Heute, im dritten Jahrtausend, dem Zeitalter der Digitalisierung, passt es für mich noch weniger.
Im Berufsleben hatte mich das Hochschulthema einige Jahre später dann nochmals von einer anderen Seite eingeholt, und zwar als »Abnehmerin« der Absolventinnen und Absolventen. In meine Zeit als Personalchefin bei EY fiel die Umsetzung des sogenannten Bologna-Prozesses, der Vereinheitlichung von Hochschulabschlüssen auf das System von Bachelor und Master. Dabei ging es um grundsätzlich gute Ziele, nämlich die Förderung von Mobilität, von internationaler Wettbewerbsfähigkeit und
von Beschäftigungsfähigkeit von Menschen. Auch die Unternehmensseite war für diesen Prozess, schließlich kamen die Absolventen schneller an den Markt und wurden dann in Zeiten des Fachkräftemangels auch sofort von den Unternehmen aufgesogen.
Doch es gab auch einen problematischen Aspekt. Denn plötzlich kamen Leute von der Hochschule, die überwiegend nicht mehr dasselbe Ausbildungsniveau hatten wie ihre Vorgänger. Wie sollten sie auch, bei verkürzter Studiendauer? Für eine
Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft, die im Wesentlichen aus Experten und Expertinnen besteht, war dieses Problem sicher nochmals schwerwiegender als für andere Unternehmen. Denn das Know-how in Themen wie Steuerrecht oder Accounting war erkennbar reduziert, und wir mussten das, was vorher an den Hochschulen gelehrt wurde, nun in eigene Schulungen gleich zu Beginn des Berufseinstiegs packen. Man kam dann von der Schule, wollte in die Praxis und hatte erst mal wieder Schule im Unternehmen. Das war keine ganz glückliche Situation.
Andererseits sind sehr viele beruflich relevante Fähigkeiten rein »technische Skills«, die man ohnehin nur in der Praxis lernt. Das können bestimmte Dinge sein, die in jedem Unternehmen anders sind und deshalb in einer akademischen Ausbildung gar keinen Platz haben, wie zum Beispiel Buchhaltungssoftware oder das Wissen, wie man Kundengespräche führt. Das lernt man nicht an der Uni, das geht gar nicht rein theoretisch, und als Planspiel funktioniert es ohne eigene Erfahrung auch nicht.
Einen häufiger angeführten Kritikpunkt an der Bologna-Reform kann ich nicht wirklich beurteilen: Haben junge Menschen weniger Zeit, sich selbst zu finden, zu reflektieren und auch mal nichts zu tun?
Unabhängig von dieser Einschätzung bleibt ein wesentlicher Punkt offen: Wie schaffen wir es, junge Menschen mit erstem Basiswissen aufzunehmen und weiterzuentwickeln? Wie schaffen wir es in den Unternehmen generell, das Lernen als festen Bestandteil zu verankern und das viel zitierte lebenslange Lernen bis ins hohe Alter zu verwirklichen?
Lernen im Unternehmen Die unangenehme Wahrheit ist: Mit dem Einstieg ins Berufsleben ist für viele Menschen das systematische und kontinuierliche Lernen – bei all seinen Mängeln – erst einmal ganz vorbei. Die Kurzfristigkeit des »Daily Business« sucht immer nach dem schnellen Nutzen. Wissen hingegen ist etwas, das sich meist erst mit der Zeit werthaltig aufbaut.
Eine meiner ersten Beobachtungen der betrieblichen Weiterbildung waren Englischkurse für Sekretärinnen. Das war in den 1990er-Jahren modern. Da gab es tatsächlich Menschen, die jedes Jahr einen Englischkurs besuchten. Jedes Jahr den gleichen. Gebracht hat das nichts, weil die Praxis gefehlt hat und auch keine echte Weiterentwicklung vorgesehen war. Die Leute haben das selten gebraucht, es war mehr so eine der typischen Managementfantasien, dass man sich als internationales Unternehmen fühlen wollte. Wenn dann doch mal das Telefon klingelte und Mr. Smith
dran war, dann musste die eine Kollegin gesucht werden, die gut genug Englisch konnte, um Auskunft zu geben.
Schon damals wäre die Frage angebracht gewesen: Müssen wirklich alle Englisch können? Wir arbeiten ja auch mit Menschen in anderen Ländern, die kein Englisch können. Und es funktioniert auch. Das Absurdeste sind für mich Meetings, in denen
nur Deutsche zusammensitzen und man dann aber trotzdem Englisch sprechen muss, weil es der Unternehmenspolitik entspricht.
Incentive und Machtoption
Aber der erwähnte Englischkurs damals in den 1990ern war auch mehr ein Incentive, ein Anreiz, ein Privileg. Es wurde die Illusion geweckt, man sei es wert oder habe es verdient, von der Firma weitergebildet zu werden. Es wurde ein Gefühl geweckt: »Die Firma investiert in mich, sie gibt Geld für mich aus, ich bin wichtig.« Was für ein fatales Paradoxon, dass man sich für Weiterbildung erst einmal grundsätzlich qualifizieren müsste. Was für eine Irreführung der Menschen, sie würden ihren
Marktwert steigern.
Weiterbildung als Incentive führt zudem zu einer falschen Nachfrage. Ein Kurs kann beliebt sein, weil er Status verspricht, weil er vielleicht gar nicht wirklich herausfordernd ist, sondern eher eine gesellige Angelegenheit. Mit dieser Degradierung zum Incentive wird Weiterbildung, wird Wissen entwertet.
Insbesondere dann, wenn es auch noch nach Gutsherrenart zugeteilt wird. Die Arbeitskultur zu Beginn meines Berufslebens war noch stärker geprägt von »Wissen ist Macht«, als dies heute der Fall ist. Da gab es die, die halt häufiger beim Chef saßen, um die Infos abzugreifen. Oder andere, die so taten, als ob sie Infos hätten. Wo sind die Leute, die lieber im Team arbeiten, und wo sind die, die Informationen zum eigenen Vorteil nutzen – das alles musste man unterscheiden lernen. Wissensvorsprung war Karriereoption. Man selber arbeitete ständig daran, aus den Informationshäppchen, die man in den Gängen aufschnappte oder mit Vertrauten austauschte, ein gutes Bild der Lage zu bekommen. Aber wie viel Zeit wurde so in Unternehmen darauf verwendet, Informationen zu verstecken, statt Wissen zu verbreiten? Das hält sich in manchen Unternehmen bis heute.
Begrenzter Nutzen
Weiterbildung ist häufig Bestandteil der berüchtigten Jahresgespräche zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitenden. Da redet man über Ziele, verschiebt die Leistungserwartung ein wenig nach oben und ergänzt pflichtschuldig um die Frage: »Was wollen Sie denn noch Neues dazulernen?« Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen das, man sagt dann halt irgendwas Allgemeines, damit man den Eindruck erweckt hat, man sei auch lernwillig und lernbereit.
Viele haben gerade deshalb keine Lust auf Weiterbildung, weil sie selbst den Nutzen nicht sehen beziehungsweise sogar Nachteile erleben. Denn Lernen bedeutet in Unternehmen tatsächlich oft Zusatzaufwand. Ich habe Abteilungsleiter in den Ohren, die fragen: »Wann sollen meine Leute das denn noch machen?« Kein Wunder, dass Lernen als Belastung verstanden wird. Das liegt auch daran, dass wir im Effizienzwahn den Arbeitsprozess in vielen Bereichen absolut »rein« gestaltet, ja geradezu mit Menschen automatisiert haben. Nichts soll die Arbeit stören, auch nicht das Lernen. Wir haben das Lernen praktisch von der Arbeit entkoppelt, für die es doch eigentlich nützlich sein sollte.
Diese Praxisentkoppelung gilt auch für viele Lernformate, die wir gewohnheitsmäßig durchexerzieren. Weil wir die Arbeit nicht stören wollen, schicken wir die Leute für ein Wochenende in ein Tagungshotel im Bayerischen Wald oder in den Harz. Da sitzen sie dann zweieinhalb Tage alle aufeinander und bekommen in guter alter Klassenzimmer- Logik alles aufgetischt, was man sich an Lernstoff ausgedacht hat. Langeweile prägt den Tag – dafür wird zum Ausgleich abends gebechert. Als ich noch keine Kinder hatte, fand ich das die ersten drei Male amüsant.
Aber es erschöpft sich schnell. Und mittlerweile haben immer mehr, vor allem junge Menschen an ihren Wochenenden etwas Besseres zu tun. Auch hier denken wir in den Unternehmen zu wenig darüber nach, was wir mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anstellen und wie wir ihnen die Zeit stehlen.
Das ist schade, denn gerade im Bereich der Weiterbildung habe ich einige der cleversten und am meisten motivierten Menschen erlebt, die sich wirklich verantwortlich fühlen für Wissensvermittlung. Aber auch sie haben mit den Strukturen des eigenen Unternehmens zu kämpfen, denn klassische Weiterbildungsprogramme sind auf ihre Art oft nichts anderes als Lehrpläne in Unternehmen. Sie haben dazu noch eine Historie. Da gibt es Kurse, die macht man schon immer. Und Ergänzungskurse. Die Wissenden wollen ihr eigenes Wissen dann noch zum Thema für alle machen, unabhängig davon, wer es wissen müsste. Wir lernen andererseits als Organisation nichts substanziell Neues, sondern nur Dinge, die wir ohnehin schon an einer Stelle wissen.
Die vermeintliche Vermehrung von Wissen wächst sich immer weiter aus, man formuliert neue Angebote, es kommt ständig etwas dazu. Da kommt es dann vor, dass zum Beispiel ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Coaches und Trainer weiterbeschäftigt werden. Ich frage mich immer: Wenn das Wissen für die Firma wichtig ist, warum hat man denjenigen oder diejenige dann nicht behalten?
Und wenn es nicht der Fall ist: Was will er oder sie uns dann noch erzählen? Ist das Wissen überhaupt noch relevant oder zeitgemäß? Dass Weiterbildungsprogramme auch einmal bereinigt werden um Inhalte, die nicht mehr passen, habe ich selten erlebt. Und so sehen wir auch hier wieder ein Paradoxon. Es entsteht ein Überangebot auf dem Papier, das zugleich einer Unterdeckung der tatsächlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse gegenübersteht. Wir haben Programme nach dem Prinzip »one size fits
all« geschaffen. Jeder und jede darf sich etwas von der Stange aussuchen.
Und dann behaupten wir auf dieser Basis, es würde individuell passen.
Falsche Ziele Umgekehrt können wir als Unternehmen den Leuten auch nicht genau
sagen, was sie eigentlich brauchen. Es ist unklar, wohin die Reise geht
und was sie dafür an Kompetenzen erwerben könnten. Wer braucht was
und im Hinblick auf welche Unternehmensziele? Diese Frage verschwindet hinter 150 Kursen. Weiterbildung wird zudem nicht konsequent im
Gesamtkontext der Strategie und Zielsetzungen gesehen, sondern ist darauf ausgerichtet, den Ist-Zustand zu optimieren oder Rückstände zu
beheben. Es bringt niemanden weiter. Von den Beschäftigten kann man
in so einem Umfeld auch nicht erwarten, dass sie selbst die Idee mitbringen, was sie noch lernen wollen. Und so türmen sich in den Weiterbildungskatalogen die Standardangebote als Ladenhüter auf.
Eines der überflüssigsten Angebote habe ich bislang in fast jedem Weiterbildungsprogramm gefunden: »Umgang mit schwierigen Menschen«. Es ist nicht
totzukriegen. Aber auch nicht ernst zu nehmen. Die zugehörigen Flyer wurden meist denjenigen Kollegen heimlich auf den Schreibtisch gelegt, die man selbst für schwierig hielt. Das hilft aber auch niemandem weiter.
Für mich als Zahlenmensch ist eine Frage derzeit in Unternehmen nicht zu beantworten: Was bringt uns die Weiterbildung eigentlich? Ich will sie nicht, in bester Controlling-Manier, einfach abschaffen oder einsparen. Aber ich würde sie gerne an einer Wirkung messen. Diese müsste zwangsläufig mit Produktivität zu tun haben, ergänzt vielleicht um die Aspekte der Arbeitszufriedenheit und der Potenzialentfaltung. Stattdessen messen wir – wenn überhaupt – schlicht solche Nebenaspekte wie die Zahl der Teilnehmenden oder die aufgewendeten Stunden pro Jahr. Wir fragen dann, ob die Reisekosten angemessen waren, ob es nicht ein billigeres Hotel oder einen günstigeren Trainer gibt.
Manchmal denken wir noch an die eingesetzte Arbeitszeit. Und wir machen vielleicht noch Teilnehmer-Feedback. Aber das ist auch schwierig, weil es gerne mal zum Schönheits- oder Beliebtheitswettbewerb wird und nicht zwangsläufig etwas über Qualität aussagt. Von einem Trainer habe ich einmal eine schöne Geschichte gehört. Ein sehr beliebter Trainer, kompetenter Fachexperte und lustiger und lebensfroher Mann, der auch wegen seiner Fliege markant war und im Gedächtnis blieb. Er bekam immer sehr gute Bewertungen von zwei Dritteln der Teilnehmenden, von einem Drittel aber nur ein »gut«.
Irgendwann hat er mal bei einer erfahrenen und gut vernetzten Kollegin nachgefragt, was die Teilnehmenden als Kritikpunkt anmerken würden. Er erfuhr, dass er von einem Teil der Leute als arrogant wahrgenommen wurde. »Der mit seiner Fliege« würde als Bemerkung häufiger fallen. Von dem Tag an hat er die Fliege weggelassen, und schlagartig verwandelten sich die nur guten Bewertungen auch in sehr gute. Alles in allem veranstalten wir ein riesiges Spektakel mit der Weiterbildung, wir geben Geld aus und investieren Zeit und können doch nicht sagen, wie gut sie funktioniert und was sie bringt. Die schlichte Aussage »zu teuer« ist jedoch aus der Luft gegriffen, wenn wir den Kosten kein Ergebnis entgegenstellen können.
Eine gängige Metapher der Weiterbildungsleute gibt ein fiktives Gespräch zwischen zwei Managern wieder. »Was, wenn wir in die Weiterbildung unserer Leute investieren und diese uns dann verlassen?«, fragt der eine. »Was, wenn wir nichts in Weiterbildung investieren und die Leute bleiben?«, antwortet die andere.
So schön und richtig diese Metapher ist, sie ist auch unvollständig. Sie gibt nämlich keine Antwort auf die Frage, wie Weiterbildung gelingt. Ich will dazu später ein paar
Ideen vorstellen. Einen Kernaspekt will ich vorweg dennoch anreißen: Sind wir überhaupt motiviert für Weiterbildung? Wir als Beschäftigte, aber auch wir als Unternehmen? Nehmen wir Lernen als das ernst, was es sein kann und will, nämlich die stetige Verbesserung unserer Fähigkeiten? Oder haben wir vergessen, warum wir überhaupt lernen wollen? Haben wir gute Gründe zu lernen, haben wir Interesse und Neugier, haben wir die Freiheit, zu lernen?
Mein Ansatz ist sehr einfach: Wir müssen die Übereinstimmung von Unternehmenszielen und persönlichen Zielen finden und diskutieren: Was hat das Unternehmen, was habe ich davon? Dann macht auch Lernen im Unternehmen wieder Spaß.