Buchauszug Sebastian Pflügler: „Kommunikation für die digitale Ära. Wie wir heute miteinander reden – und was dabei immer noch wichtig ist.“

Buchauszug Sebastian Pflügler: „Kommunikation für die digitale Ära. Wie wir heute miteinander reden – und was dabei immer noch wichtig ist.“

 

Sebastian Pflügler (Foto: PR)

Mehr Spannung, weniger Harmonie

Spannungen durch Social Media und Virtual Reality

 

»Knatter sie doch einer mal richtig durch, damit sie wieder normal wird«, »Drecksfotze« oder »Schlampe«. Das waren nur einige Kommentare, die sich Renate Künast, Bundestagsabgeordnete der Grünen und ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin, auf ihrer Facebook-Seite gefallen lassen musste. Am 9. September 2019 urteilte das Berliner Landgericht: Die Äußerungen seien »haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch Hinnehmbaren« und »zulässige Meinungsäußerungen«. Wow! Was für ein weiterer verbaler Schlag ins Gesicht. Künast ging in Berufung und erklärte: »Der Beschluss des Landgerichts sendet ein katastrophales Zeichen, insbesondere an alle Frauen im Netz, welchen Umgang Frauen sich dort gefallen lassen sollen.« Was Renate Künast passierte, ist kein Einzelfall, sondern mittlerweile trauriger Alltag. So zeigt eine Studie der Landesanstalt für Medien NRW aus dem Jahr 2018, dass nur noch jeder fünfte Befragte noch nie mit Hasskommentaren zu tun hatte. Bei den 14- bis 24-Jährigen haben bereits mehr als die Hälfte der Befragten Hasskommentare gesehen und sehen diese Art der Kommentare mittlerweile als festen Bestandteil von Austauschplattformen. Doch woher kommt dieser Hass in der Debatte, und wie kann es sein, dass wir online Dinge sagen, die wir offline so nie von uns geben würden? Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe:

 

Einerseits kommunizieren wir wesentlich schärfer, wenn wir es medienvermittelt tun. Warum? Weil wir die Konsequenzen unserer Kommunikation nicht sehen und ertragen müssen. Eine Beleidigung ist schnell getippt und abgeschickt. Wir sind jedes Mal nur einen Mausklick von unbedachten Meinungsäußerungen entfernt. Wie es dem Adressaten geht, wenn er diese Worte liest, bleibt für uns nur eine mittelbare, abstrakte Vermutung, die wir meist mit den Worten »So schlimm ist das doch nicht« abtun. Dieselbe Beleidigung jemandem jedoch ins Gesicht zu sagen, während sie an seinem Blick sehen können, wie verletzend das für ihn ist, das würden wahrscheinlich viele Menschen nicht tun oder die Worte ansonsten weiser wählen. Wir vergessen digital häufig, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt. Wie im ersten Kapitel erwähnt, konnte ich das in meinem Forschungsprojekt erleben, bei dem wir die Kommentarspalten von Onlinezeitungen zum Freihandelsabkommen analysierten.

Unsere Hoffnung war, dass in diesen Foren ein demokratischer Diskurs stattfinden konnte, bei dem es durchaus mal hart zur Sache ging, aber im Großen und Ganzen widerstreitende Meinung sachlich miteinander verhandelt wurden. Eben so, wie ein Diskurs in einer Demokratie sein sollte. Das Ergebnis war ernüchternd. Viele Nutzer führten Monologe. Es bestand keinerlei Bezug zu anderen Nutzern. Wenige rangen sich zu kurzen Bewertungen wie »Super« oder »Kann man so sehen« durch, während die absolute Mehrheit sich einfach beleidigte. Schließlich führten wir Interviews mit Nutzern solcher Kommentarspalten durch und auch sie bestätigten: »Was ich dort schreibe, würde ich natürlich so nie sagen. Aber man fühlt sich distanzierter vom anderen und schlägt dadurch einfach mehr über die Stränge.«

Noch weiter befeuert wird das durch die Anonymität. Wir können uns jederzeit hinter erfundenen Pseudonymen verstecken. Anonymität steigert allerdings das kommunikative Aggressionspotenzial. Wenn sie keine Reputationsschäden oder gesetzliche Konsequenzen fürchten müssen, dann verfallen manche Menschen in Extreme. Außerdem handeln wir bei den heutigen digitalen Medien wesentlich stärker aus dem Affekt heraus. Nehmen wir das Beispiel Reklamationen. Während man früher noch aufwendig einen Brief aufsetzen und zur Post bringen oder persönlich in das betreffende Geschäft fahren musste, um sich zu beschweren, können wir heute in Windeseile – und sogar noch öffentlichkeitswirksam – die Pinnwand eines Unternehmens »vollkotzen«. Während früher beim Schreiben des Briefes irgendwann ein Cool-down-Effekt eingesetzt hätte, können wir heute in kürzester Zeit eine Hass-Mail verfassen und haben sie bereits losgeschickt, bevor wir einen kühlen Kopf haben. Schnelligkeit, Anonymität und gefühlte Distanz erschweren das Entstehen von Empathie und das Kommunizieren auf Augenhöhe.

Ein zweiter Grund besteht darin, dass es zu einer zunehmenden Polarisierung im Netz kommt. Und Polarisierung führt immer zu Schärfe im Dialog. Diese Polarisierung hat mit dem sogenannten »Echo-Kammer-Phänomen« zu tun. Wie in einer akustischen Echokammer, in der Geräusche und Aussagen nachhallen, hallt in einer virtuellen Echokammer ein- und dieselbe Meinung nach. Trump-Wähler, die nur unter Trump-Wählern sind und nur Pro-Trump-Inhalte lesen und hören. Veganer, die sich nur noch mit anderen Veganern austauschen. Gemäß dem Motto: »Ich höre vor allem das, was ich eh schon weiß. Und sage das, was ich eh schon immer wusste.«

Nun gibt es Wissenschaftler, die sagen, das Problem sei eher gering, denn im Internet finde man die widersprüchlichsten Meinungen, und generell nutzen Menschen nicht nur Social Media, um Nachrichten und dergleichen zu lesen. Stimmt. Doch jeder, der schon mal in einer deutschen Kantine essen war, weiß: Nur weil es seit Neuestem Fitnesssalat gibt, hören die Menschen noch lange nicht auf Schnitzel zu essen. Und nur weil es im Netz gegensätzliche Meinungen gibt, heißt das noch lange nicht, dass sich die Leute mit diesen auch auseinandersetzen, wie Christopher Bail an der Duke University mit 1600 Teilnehmern nachweisen konnte. Bail konnte zeigen, dass Menschen generell Artikel anklicken, die ihre Meinung stützen. Sind sie mit gegensätzlichen Meinungen konfrontiert, werden diese eher wegrationalisiert, im Sinne von: »Das ist schlecht recherchiert«, »Das sind Fake News«, »Lügenpresse« et cetera. Sie kennen das.

Michael Seemann konnte in seiner Studie »Digitaler Tribalismus und Fake News« sogar zeigen, dass Informationen mit der Wahrheit gleichgesetzt werden, solange das mit der Einstellung der Gruppe zusammenpasst, der man sich zugehörig fühlt. Der Journalist David Roberts hat dieses Phänomen so beschrieben, dass eine Information nicht anhand von Kriterien wie wissenschaftliche Standards der Beweisführung oder gar der Anschlussfähigkeit an das allgemeine Weltverständnis beurteilt wird, sondern einzig und allein danach, ob sie den Werten und Zielen des Stammes entspricht. » ›Gut für unsere Seite‹ und ›wahr‹ beginnen eins zu werden.« Und plötzlich sind Fake News aus der Sicht der Gruppe eben doch gar nicht mehr so fake.

 

Doch warum tun wir das? Wir Menschen möchten gerne ein konsistentes Weltbild haben und kognitive Dissonanz weitestgehend vermeiden. Kognitive Dissonanz ist ein für uns unangenehmer Spannungszustand, der dann entsteht, wenn Einstellungen nicht zusammenpassen oder unsere Einstellung mit unserer Handlung nicht übereinstimmt. Wie der Raucher, der weiß, dass Rauchen schlecht ist, und es trotzdem tut. Entweder kann er nun aufhören zu rauchen, um die Dissonanz aufzulösen, oder er ändert einfach seine Einstellung. Aussagen wie »Meine Oma wurde auch 93 Jahre alt und die hat geraucht wie ein Schlot« sind Beweise für eine solche Einstellungsanpassung zur Vermeidung von kognitiver Dissonanz. Und das Gleiche tun wir häufig mit konträren Informationen im Netz.

Zudem entsteht eine sogenannte Konsensillusion. Je mehr wir uns mit Menschen umgeben, die dieselbe Meinung haben wie wir, desto mehr glauben wir, dass wohl alle in der Gesellschaft so denken. Plötzlich vermuten wir, dass wohl alle für oder gegen Migration sind, dass die meisten Menschen sich nun vegan ernähren oder dass die Mehrheit den Klimawandel für eine Erfindung von Greenpeace hält. Und das ist gefährlich. Denn je mehr dieser Menschen das Gefühl haben, eine große Mehrheit hinter sich zu haben, desto vehementer und auch schärfer werden sie ihre zum Teil extremen Meinungen vertreten.

 

Sebastian Pflügler: „Kommunikation für die digitale Ära. Wie wir heute miteinander reden – und was dabei immer noch wichtig ist.“ 224 Seiten, 19,99 Euro, Redline Verlag https://www.m-vg.de/redline/shop/article/19650-kommunikation-fuer-die-digitale-aera/

 

Dieses Phänomen der zunehmenden Polarisierung wird aus meiner Sicht durch Virtual Reality nochmal extrem zunehmen. Bei Virtual Reality werden die Nutzer über Großbildleinwände, spezielle Räume oder über sogenannte VR-Brillen in eine computergenerierte Umgebung versetzt, die ihnen real erscheint und die mit ihnen interagiert. Tauchen mit Delfinen, ein Fallschirmsprung aus dem Flugzeug oder das Steuern eines Raumschiffes fühlen sich wie die Realität an. Schon heute wird Virtual Reality in der Aus- und Weiterbildung (Flugsimulatoren), bei der Informationsvermittlung (Aufklärung in Bezug auf den Klimawandel), in der Unterhaltung (Bereisen von Fantasy-Welten) oder in der Medizin (Bekämpfung von Angststörungen) genutzt. Das Marktforschungsunternehmen Gartner hatte bereits 2016 in seinem »Hype-Zyklus für zukünftige Technologien« Virtual Reality einen gesellschaftlichen Durchbruch für die nächsten fünf bis zehn Jahre prognostiziert. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass diese Technologie in den nächsten Jahren Einzug in Ihr Wohnzimmer halten wird.

 

Doch warum trägt VR zu einer Erhöhung der Spannungen bei? Das Ziel von VR ist Immersion, das heißt, Sie sollen während der Nutzung vergessen, dass das Ganze gerade nicht real ist und voll in die mediale Darstellung eingesaugt werden. Das Ziel lautet: mittendrin statt nur dabei. Je realistischer diese Darstellung ist, desto eher kommt es zur Immersion. Wir sind vollkommen präsent im Moment und nehmen nichts anderes mehr wahr. Und VR ist unglaublich gut darin, Dinge realistisch darzustellen: Wir können enorm viele Reize erleben, unsere wahren Bewegungen werden eins zu eins in die virtuelle Welt übertragen, wir können weit blicken, alles ist extrem detailgetreu dargestellt, und mit fast allem in dieser Welt können wir interagieren.

 

Ich selbst konnte das am eigenen Leib erleben. Vor vier Jahren bereiste ich die Ost- und Westküste Kanadas. Als ich in Montreal durch die Stadt schlenderte, wurde ich von Studenten gefragt, ob ich an einem Experiment teilnehmen möge. Es ginge um Virtual Reality und wie sie unser Gefühlsleben beeinflusse. Da VR-Brillen 2016 noch ziemlich am Anfang der Entwicklung standen und es im Alltag wenig Berührungspunkte mit dieser Technologie gab, willigte ich begeistert ein. Nachdem ich die VR-Brille aufgesetzt hatte, wurde mir bewusst, worauf ich mich eingelassen hatte. Ich saß mit einer gutaussehenden Frau auf ihrem Sofa. Meinen Blick konnte ich steuern, der Blick meines Avatars wanderte also in dieselbe Richtung, in die auch ich sah.

Was ich allerdings nicht steuern konnte, waren meine Hände, die langsam aber sicher an Körperstellen der Frau wanderten, wo sie aus meiner Sicht nichts zu suchen hatten. Das empfand die virtuelle Frau ebenso, und mir wurde klar: Ich erlebte hier gerade einen sexuellen Übergriff mit mir in der Hauptrolle. Zum Glück endete der Film anschließend, das schockierte Gefühl aber blieb. Das war genau das Ziel der Studenten, denn anschließend sollte ich einen Fragebogen ausfüllen, wie realistisch ich die Szenerie empfunden hatte, wie es mir nun ging et cetera. An diesem Tag wurde mir bewusst, welche enorme Macht dieser Technologie innewohnt und wie stark sie uns sowohl kognitiv als auch emotional beeinflussen kann.

 

Je präsenter wir während einer solchen Darstellung sind, desto intensiver verarbeiten wir auch all diese Informationen und desto stärker können sie uns beeinflussen. Kombiniert man nun beides, das bedeutet, dass wir uns vor allem mit den Inhalten intensiv auseinandersetzen, die unsere Meinung bestätigen, also vor allem VR-Räume suchen werden, in denen Gleichgesinnte sind, und wir die Inhalte am stärksten verarbeiten, bei denen wir besonders präsent und aktiviert sind, was bei VR definitiv der Fall ist, dann kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass VR Polarisierung noch verstärkt.

 

Bereits jetzt ist die amerikanische Gesellschaft so gespalten wie nie. Und auch in Deutschland gab es schon mal gesellschaftlich homogenere Zeiten. So zeigt eine Studie von More in Common, dass es in Deutschland mittlerweile sechs unterschiedliche Gesellschaftsgruppen gibt, die sich vor allem anhand psychosozialer Eigenschaften unterscheiden. »Die Offenen« (16 Prozent) setzen sich für eine freie, tolerante und dogmenfreie Gesellschaft ein. Mit Traditionen und Gruppendenken können sie wenig anfangen. Das Gegenteil sind »die Etablierten« (17 Prozent), die wertkonservativ sind, für die Tradition wichtig ist und am besten alles so bleibt wie bisher. Aus ihrer Sicht läuft es gut. Gesellschaftlicher Frieden und Ruhe sind für diese Gruppe besonders essenziell.

»Die Involvierten« (17 Prozent) bringen sich in die Demokratie ein. Bürgersinn, gesellschaftliches Engagement und ein demokratisches Miteinander sind jene Werte, für die es sich aus ihrer Sicht zu kämpfen lohnt. »Die Pragmatischen« (16 Prozent), die jüngste Gruppe, sieht das etwas anders. Sie haben keinen wirklichen Bezug zur Gesellschaft und gesellschaftliches Engagement ist ihnen fremd. Für sie zählen privater Fortschritt, Erfolg und ihr persönliches Glück.

»Den Enttäuschten« (14 Prozent) ist Gemeinschaft und Gerechtigkeit in der Gesellschaft wichtig. Allerdings sehen sie beides bisher kaum erfüllt. Mit »den Wütenden« (19 Prozent) eint sie die Kritik an der Demokratie, auch wenn sie bei den Wütenden viel schärfer ausfällt. Sie werfen den Eliten und dem politischen System Verrat an der Gesellschaft vor und zeichnen sich durch einen starken Nationalismus aus. Wie man sieht, sind diese Gruppen schon jetzt sehr gegensätzlich und jede einzelne anhand der Gruppengröße durchaus ernst zu nehmen. Wie wird diese Entwicklung erst, wenn Menschen einerseits vor allem nur noch Räume aufsuchen, in denen sie ihre Meinung bestätigt wissen und andererseits uns dieser Zuspruch durch den immensen Realitäts- und Interaktionsgrad mehr denn je beeinflusst? Doch nicht nur durch soziale Medien nehmen die Spannungen zwischen Einzelpersonen und Gesellschaftsteilen zu. Auch in der Arbeitswelt gibt es einen Trend zu mehr Spannungen und weniger Harmonie.

 

Spannungen durch neue Organisationsformen

Um der Digitalisierung und der daraus resultierenden unsicheren, schnelllebigen und komplexen Zeit zu begegnen, bedarf es neuer Organisationsformen, die durch hohe Selbstverantwortung und schnelle Kommunikation die Innovationsfähigkeit von Unternehmen steigern sollen. Wegen dieser Versprechen sind solche neuen Organisationsformen gerade der Trend im Personalbereich. Unter dem Begriff »New Work« werden diese den Mitarbeitern schmackhaft gemacht. Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber reden, wie falsch dieser Begriff häufig verwendet wird und wie viele Change-Maßnahmen unter dieser Flagge schiefgelaufen sind. Stattdessen möchte ich mich exemplarisch auf eine der angesagtesten Organisationsformen konzentrieren und beweisen, wieso diese neuen Formen zu vermehrten Spannungen zwischen Mitarbeitern führen können.

 

Gemeint ist das Konzept Holokratie, im Englischen auch Holacracy genannt. Erfunden wurde das Konzept von Brian Robertson, der das Organisationsprinzip 2007 erstmalig in seinem eigenen Unternehmen Ternary Software anwandte und 2010 das Manifest zur Holokratie verfasste. Holokratie möchte die klassische Top-down-Hierarchie abschaffen. Klassische Führungskräfte, starre Abteilungen, Positionen und Titel sollen in diesem Modell der Vergangenheit angehören und durch Kreise und Rollen ersetzt werden. Kreise umfassen dabei bestimmte Zuständigkeiten und Aufgaben. Die Kreise sind hierarchisch angeordnet und können Unterkreise aufweisen (wie Sie sehen, geht es auch hier nicht ganz ohne Hierarchie). Der Kreis HR kann also beispielsweise die Unterkreise »Personalentwicklung«, »Employer Branding« und »Compensation« aufweisen.

In den einzelnen Kreisen sind bestimmte Rollen mit festen Zuständigkeiten anzutreffen, die von Mitarbeitern eigenverantwortlich übernommen werden. Dabei kann eine Person mehrere Rollen innehaben und so auch mehreren Kreisen angehören, beispielsweise für die Führungskräfteentwicklung im Kreis »Personalentwicklung« zuständig sein und gleichzeitig die Budgetverantwortung für diese Aufgabe im Kreis »Finanzen« innehaben.

 

Soweit die Theorie. Wie kann nun ein solches Modell die Spannungen zwischen Mitarbeitern erhöhen? Eine solche Form der Organisationsgestaltung braucht eine stark ausgeprägte persönliche und kommunikative Reife der Mitarbeiter. Je mehr klassische, äußere Strukturen wegfallen oder durch Strukturen ersetzt werden, die auf die Selbstverantwortung des Einzelnen setzen, desto mehr müssen innere Strukturen beim Mitarbeiter vorhanden sein oder nachreifen. Hier werden die meisten Mitarbeiter aber alleine gelassen, statt durch Weiterbildungsangebote unterstützt zu werden. Wenn dann noch die Führungskraft als Steuerungselement mittels Hierarchie und Positionsmacht beispielsweise zur Moderation von Konflikten wegfällt, desto mehr müssen Mitarbeiter gelernt haben, diese Konflikte selbst zu führen. Das können allerdings die wenigsten in dem Ausmaß, wie es für solche Organisationsformen erforderlich wäre. Denn Persönlichkeitsentwicklung lässt sich nicht durch Strukturentwicklung ersetzen.

Viele Mitarbeiter finden sich in Organisationen wieder, in denen zwischenmenschliche Kompetenzen gefordert werden, die der Einzelne gar nicht besitzt. Da hilft es dann auch nichts, verschiedene Meetingformate durchzuführen, in denen Konflikte angesprochen werden sollen, wenn Mitarbeiter das aus Mangel an Kompetenz nicht tun oder in einer Art und Weise, dass daraus kein konstruktives Potenzial geschöpft werden kann. Um der Digitalisierung zu begegnen, bedarf es zwar neuer Organisationsformen, es bedarf allerdings auch entsprechender zwischenmenschlicher Fähigkeiten aufseiten der Mitarbeiter, damit diese neuen Organisationsprinzipien nicht vom Segen zum Fluch werden. Aus dieser Diskrepanz zwischen inneren und äußeren Strukturen entstehen Spannungen.

 

Spannungen durch neue und unterschiedliche Arbeitsweisen

Neben den neuen Organisationsformen entstehen im Unternehmen auch durch neue und unterschiedliche Arbeitsweisen Spannungen. Hier möchte ich zwei Beispiele herausgreifen, die besonders häufig auftreten. Einerseits das in vielen Unternehmen mittlerweile vorherrschende Spannungsfeld zwischen agiler und planbasierter Arbeitsweise und die immer stärker zunehmende Arbeit in virtuellen oder räumlich getrennten Teams.

 

»Nur die Agilen werden überleben«, titelte Welt Online im Juni 2018. Dass sich diese Ansicht mittlerweile in den meisten Organisationen durchgesetzt hat, erklärt, warum derzeit auch das kleinste Unternehmen die agile Transformation ausruft. Ich möchte weniger darauf eingehen, wie häufig Agilität falsch verstanden und deshalb falsch umgesetzt wird. Vielmehr möchte ich aufzeigen, wie Spannungen in Unternehmen oder auch zwischen Mitarbeitern durch die sukzessive Umstellung auf Agilität entstehen.

 

Agilität beschreibt die Fähigkeit von Organisationen, in der heutigen komplexen, unsicheren, ambivalenten und volatilen Arbeitswelt flexibel, schnell und wirksam auf Veränderungen im Marktumfeld oder auf Kundenwünsche reagieren zu können. Sie versuchen mögliche Zukunftsszenarien vorauszuahnen und testen ihre Produkte in der Rohfassung, sogenannten Prototypen, direkt am Kunden, um sofort umsteuern zu können, wenn sich ein eingeschlagener Weg als Sackgasse erweist.

In der Praxis sieht das so aus, dass in sogenannten Sprints, die zwischen einer bis vier Wochen dauern, ein Entwicklungsteam Anforderungen an ein bestimmtes Produkt oder ein funktionsfähiges Zwischenprodukt direkt am Kunden testet. So kann beispielsweise bei einer App für Kochrezepte durch ein Zwischenprodukt mit nur wenigen Funktionen in einem Sprint getestet werden, ob der Nutzer sich registriert, bevor er das Produkt nutzt oder warum er das nicht tut. Sie sehen, man arbeitet also wesentlich schneller, mit mehr Wiederholungen direkt am Kunden, aber eben auch mit »halbfertigen« Prototypen.

Die planbasierten Abteilungen arbeiten hingegen meist nach einem festen Plan mit definierten Rollen und Prozessen. Sie versuchen ein Standardgeschäft möglichst effizient und stabil sowie mit qualitativer Exzellenz abzubilden. Das ist ebenso eine große Herausforderung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann, da sie oftmals auch das Geld in das Unternehmen bringt. Beides sind also wichtige, aber sehr unterschiedliche Arbeitsweisen.

 

Wie sehr das zu Spannungen zwischen Abteilungen führen kann, die diese unterschiedlichen Arbeitsweisen nutzen, durfte ich als Berater selbst erfahren. Ich sollte ein Unternehmen darin unterstützen, die Kommunikation zwischen den agilen Abteilungen und dem planbasierten Vertrieb und Stabsbereich zu verbessern. Der agile Campus sollte für den Vertrieb und Stabsbereich einen Kommunikationsassistenten bauen, der ihnen im Dialog mit internen und externen Kunden helfen sollte. Während sie mit dem Kunden telefonierten, konnten sie hier Notizen machen und die wichtigsten Infos direkt abspeichern. Ebenso führte dieser Assistent je nach Gesprächsanlass mit gezielten Fragen strukturiert durch das Gespräch. Der agile Campus erstellte nach Absprache mit dem Vertrieb und dem Stabsbereich einen ersten Prototypen, den die beiden Abteilungen nun testen sollten. Diese waren darüber wenig erfreut, denn der Prototyp hatte weniger Funktionen als das bisherige Programm.

Vertrieb und Stabsbereich nahmen die Haltung ein, nicht mit solch unfertigen Produkten arbeiten zu wollen und kritisierten die aus ihrer Sicht unsaubere Arbeit des Campus, während der agile Campus argumentierte, dass das Produkt nur besser werden könne, wenn sie als interne Kunden den Assistenten nutzten und Feedback gaben, wo etwas zu verbessern sei und welche Funktionen es noch brauchte. Die Vorbehalte auf beiden Seiten waren enorm: Das Standardgeschäft fragte sich, ob der agile Campus überhaupt etwas von der Praxis verstand oder ob dort nur unnötig Geld versenkt wurde. Und der agile Campus ärgerte sich über die »Verblendung« des Standardgeschäfts, dessen Vertreter die Chancen und Potenziale der Zukunft nicht erkannten und zu sehr am Alten festhielten.

 

An diesem Beispiel erkennen Sie, welche Spannungen durch diese unterschiedlichen Arbeitsweisen entstehen können und welch unterschiedliche Annahmen beiden Verfahren zugrunde liegen. Dass die meisten Unternehmen agile Einheiten für die Zukunft benötigen, ist unstrittig. Dass aber nicht alle Abteilungen auf Agilität umsatteln müssen, stimmt ebenso. Dennoch sollte Verständnis und auch Wertschätzung auf beiden Seiten für die andersartige

Arbeitsweise vorhanden sein. Man kann nur ein zweites Betriebssystem in Unternehmen einführen, wenn man das erste Betriebssystem wertschätzt, würdigt und schließlich auf den Weg mitnimmt. Dann kann durch den Dialog beider Betriebssysteme Ineffizienz im jeweils anderen Geschäftszweig aufgedeckt werden, und das Arbeitsumfeld verbessert sich für beide. Das erreicht man aber nur durch Kommunikation, durch einen transparenten Dialog zwischen Abteilungen und auch durch die Fähigkeit, bei jedem einzelnen Mitarbeiter Spannungen offen ansprechen zu können. Damit werden die Mitarbeiter aber zu oft alleine gelassen oder der Dialog beginnt zu spät, weil derartige Gesprächskompetenzen früher nicht in dem Maß gebraucht wurden und nun fehlen.

 

Die Fähigkeit Spannungen offen ansprechen zu können ist auch bei der zweiten Arbeitsweise essenziell: dem Arbeiten in virtuellen oder räumlich getrennten Teams. Diese Begriffe gibt es seit den 1990er-Jahren und sie beschreiben Arbeitsgruppen, deren Mitarbeiter an verschiedenen Orten oder zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten. Ein Trend, der durch die Globalisierung und die modernen Kommunikationsmedien heute nicht mehr wegzudenken ist.

So gibt zum Beispiel Microsoft im Rahmen seines Konzeptes »Smart Workspace« den Mitarbeitern jegliche Freiheiten wie, mit wem und wo sie zusammenarbeiten möchten. Und das Unternehmen eXp Realty arbeitet nur noch digital. So können sich die 1500 Mitarbeiter des Konzerns auf einer virtuellen Insel vergnügen und Besprechungen mit Bootstouren kombinieren oder auf einer Terrasse im 30. Stock abhalten. Digital ist das neue Normal. Doch so innovativ diese Konzepte auch sind und so sehr sie uns hoffentlich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, haben sie auch ihre Nachteile.

 

So erzählte mir eine Mitarbeiterin eines großen IT-Konzerns, dass es glatte fünf Wochen dauerte, bis sie ihr gesamtes Team persönlich kennenlernte, da jeder täglich woanders saß und manchmal am gemeinsamen Meetingtermin verhindert war. Und auch die Kommunikation in virtuellen Teams ist wesentlicher fehleranfälliger. Mitglieder virtueller Teams kennen sich, auch wenn häufig ein analoges Kick-off-Meeting zum Kennenlernen stattfindet, weniger und teilen weniger Persönliches miteinander. Dadurch fehlt häufig das Verständnis für den Gesprächspartner und Missverständnisse erhöhen sich, besonders wenn die Teams aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen. Appelle, schnell zu handeln, verstreichen eher, da die emotionale Dringlichkeit per Nachricht schwieriger zu übermitteln ist und generell erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Fehlinterpretationen, wenn Körpersprache und Stimme als Interpretationshilfen wegfallen.

Natürlich kann man skypen, aber trotzdem fehlt der energetische Austausch, die Aura und Schwingung eines Menschen, die nie über Technologie übertragen werden kann. In der Summe erhöht all das die Möglichkeit für Konflikte und Spannungen. Wie werden solche Spannungen gelöst? Meist im direkten, persönlichen Gespräch vor Ort in der Firmenzentrale, wie mir einer meiner Kunden mitteilte: »Die Leute sind viel sensibler, wenn sie jemand direkt vor sich haben und kommunizieren achtsamer. Sitzen sie vor dem Laptop, sind sie emotional distanziert von der Situation und sagen manchmal Dinge, die man nicht für möglich hält. In einem Raum mit der Person sieht man seine Reaktion und bekommt wieder ein wirkliches Gefühl für den Menschen. Die Mitarbeiter sind achtsamer, und nachdem sie den Menschen kennengelernt haben, treten viel seltener Konflikte auf zwischen diesen Personen.« Das analoge Gespräch ist also ein wichtiger Konfliktklärer.

 

Digitaltipps:

• Suchen Sie im Netz oder in virtuellen Räumen bewusst nach gegensätzlichen Meinungen und fragen Sie sich, was an dieser Meinung dran sein könnte und wo derjenige recht haben könnte, auch wenn es nur ein winziger Teil ist. So vermeiden Sie Dogmatismus in Ihren Einstellungen und bleiben flexibler und lockerer im Dialog.

 

• Eignen Sie sich Fähigkeiten an, Konflikte und schwierige Gespräche konstruktiv lösen zu können, da diese im spannungsreichen Arbeitskontext und im Rahmen der neuen Arbeitsformen immer mehr von Ihnen selbst gelöst werden müssen.

 

• Beziehungsaufbau und Beziehungsklärung bei wirklich wichtigen Themen funktionieren am besten analog – auch für virtuelle Teams.

 

 

Mehr äusseres Gehetzsein, weniger innere Ruhe

Kennen Sie das auch? Kaum haben wir die U-Bahn betreten, uns an der Supermarktschlange angestellt oder das Meeting als uninteressant bewertet, schon zücken wir unser Smartphone. Männer im Schnitt bereits nach 21 Sekunden Wartezeit, bei Frauen dauert es mit 57 Sekunden mehr als doppelt so lange. Der zugrunde liegende Mechanismus: FOMO, Fear of missing out, die Angst etwas zu verpassen, die hier unterbewusst eine Rolle spielt. Und wahrscheinlich spielt auch das Unbehagen sich zu langweilen eine Rolle.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich hat man auch früher versucht, sich die Zeit zu vertreiben. Bestimmt kennen Sie diese Schwarz-Weiß-Fotos aus der U-Bahn in New York: lauter Männer mit Anzug und Hut, die riesengroße aufgeschlagene Zeitungen lesen. Auch in früheren Zeiten hatte man also schon wenig Kontakt zu den umstehenden Leuten und es existierte das Ablenkungsmedium Zeitung. Doch durch das Smartphone ist dies noch verstärkt, da es mittels Vibration oder Tongeräusch auch noch aktiv auf sich aufmerksam macht und potenziell ständig neue Informationen bereithält. Während die Zeitung irgendwann mal ausgelesen war, hat man durch das Smartphone das Tor zu ständig neuen Informationen aus aller Welt in der Hosentasche. Und wer ständig neue Impulse erlebt, der langweilt sich nicht. Aus dieser fehlenden Langeweile ergeben sich allerdings zwei Hauptprobleme.

 

Wenn wir unser Gehirn ständig mit neuen Impulsen füttern, dann vergeht die Zeit viel schneller. Wir fühlen uns beschleunigt, getrieben, gehetzt. Das zeigt das Zeitgeber-Zähler-Modell aus der Zeitforschung ganz anschaulich. Nehmen wir an, Sie sitzen beim Arzt und müssen 20 Minuten warten. Einmal haben Sie Ihren Lieblingsroman zur Hand, ein anderes Mal konzentrieren Sie sich lediglich auf sich selbst und die Zeit. Wann kommen Ihnen die 20 Minuten länger vor? Richtig, wenn Sie sich nur auf sich selbst und die Zeit konzentrieren. Sie können sich das vorstellen wie ein Sparschwein. Jedes Mal, wenn Sie an die Zeit denken, fällt eine Ein-Euro-Münze in das Schwein. Je mehr Münzen sich in dem Schwein befinden, desto länger kommt Ihnen die Zeit vor.

Da wir selten an die Zeit denken, wenn wir in unseren Roman oder unser Smartphone versunken sind, nehmen wir die Zeit nicht bewusst wahr und sie kommt uns wesentlich kürzer vor, als sie ist. Sie läuft ohne Bewusstwerdung an uns vorbei. »Schon wieder 20 Uhr, wo ist nur der Tag hin?« ist ein typischer Ausspruch von Menschen, die kaum impulsfreie Zeitfenster haben und sich deshalb auch immer gehetzter fühlen. Langeweile führt also tatsächlich zu einem gefühlt längeren Tag und zu weniger Beschleunigung.

 

Das zweite Problem ist, dass fehlende Langeweile zu fehlender Selbstreflexion und Selbstverbundenheit führt. Wer sich ständig neuen äußeren Reizen aussetzt, macht sich selten Gedanken über sein Innenleben. Wenn wir stattdessen mit nichts anderem in Kontakt stehen, kommen wir mit uns selbst wieder in Kontakt. Wir fangen an, uns wieder selbst zu spüren, uns zu fragen, wie es uns wirklich geht und was uns wirklich gerade beschäftigt. Wir bekommen wieder Zugang zu unserem Bauchgefühl und unserer Intuition. Und die ist für Kommunikation unerlässlich. Denn unser Bauchgefühl sagt uns häufig schon viel früher, wenn etwas nicht stimmig ist in der Kommunikation, wenn uns jemand manipulieren will oder lügt.

Lehrbuchmäßig kann man das bei Donald Trump beobachten. Wenn es einen Skandal um seine Person gibt, feuert er einfach wie wild Tweets in die Welt, die manchmal noch schlimmer als der Skandal selbst sind, und schon haben wir den Ursprung vergessen. Wir verlieren das Gefühl, dass wir mit dem Anfangsskandal verbunden haben, weil diese Informationsflut an Tweets alles mit sich reißt und diesen intuitiven Zugang zum Anfangsgefühl verschüttet. Dieser Zugang zu unserer Intuition, zu unseren Emotionen ist allerdings essenziell. Kommunikation ist der stimmige Ausdruck von Lebendigkeit, von dem, was in uns lebendig ist. Unsere Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse. Wenn wir zu diesen keinen Zugang mehr haben, dann wird Kommunikation fahl, hohl und wirkungslos. Wir brauchen den inneren Zugang und Dialog, um stimmig kommunizieren zu können.

 

Wie sehr Menschen diesen inneren Dialog mittlerweile meiden, konnten Wissenschaftler der Universität Virginia auf bizarre Weise zeigen. Die Studienteilnehmer sollten ihre Handys abgeben und wurden aufgefordert, 15 Minuten lang in einem leeren Raum auf einem Stuhl zu sitzen, zu denken und zu schweigen. Befragt nach ihrer Erfahrung sagten die meisten Teilnehmer, es sei ihnen sehr schwergefallen, die Stille und die eigenen Assoziationen auszuhalten. In einer Fortsetzung des Experiments konnten sich die Testpersonen selbst unangenehme Elektroschocks verpassen. Und die Teilnehmer taten das, was die Forscher nie für möglich gehalten hätten: Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen fügten sich lieber Schmerzen zu, als die Ruhe mit sich selbst auszuhalten. Wann ist diese Aversion gegen die innere Ruhe entstanden? Wann wurde das Ziehen des Smartphones ein automatischer Reflex, sobald uns Reize von außen fehlen?

 

Durch diese dauerhafte Reizüberflutung berauben wir uns auch der Erholung. Früher wurde meist der Nachhauseweg genutzt, um den Arbeitstag zu verarbeiten. Heute wird auf dem Heimweg neuer Content konsumiert, sodass die Reflexion bei vielen Menschen dann einsetzt, wenn sie eigentlich schlafen wollen. Gerade bei Menschen, die Dinge gerne durchdenken, in der Psychologie nennt man dieses Phänomen »need for cognition«, sammelt sich so während des Tages eine Art Gedankenstau an, der schließlich vor dem Schlafengehen durchdacht werden will. Das Gedankenkarussell springt an und die Nacht wird kürzer.

Auch das trägt zu einem Gefühl des Stresses, der Überreizung und letztlich der Erschöpfung bei. Nicht umsonst boomen Achtsamkeitstrainings, Digital Detox Retreats oder Kurse wie Handlettering oder Mandalas malen. Die Stille und das Besinnen auf sich selbst wird im Kollektiv erarbeitet. So als ob Stille und die Besinnung auf sich selbst auch wieder etwas zu tun seien und durch entspannende Reize erzwungen werden müssen.

Einen anderen Weg geht das Prinzip der Muße, gerade eines der Trendthemen der Ratgeberliteratur, aber auch der Wissenschaft. Die Wissenschaft definiert Muße als nicht zweckgebundenen konzentrierten oder schöpferischen Zustand. In diesem Zustand herrscht eine empfundene Zeitlosigkeit, wir tun etwas in Freiheit und Zwanglosigkeit. Im Zustand der Muße gibt es kein Müssen, kein Ziel. Regelmäßige Pausen im Alltag einzulegen, zu dösen, einfach dazusitzen und sich Tagträumen hinzugeben, zu meditieren, zu werkeln, ein Bild zu malen, aber eben ohne bestimmtes Ziel und den Druck, das Bild auch heute unbedingt fertigstellen zu müssen, das ist Muße. Bei Muße geht es nur um einen selbst. Man findet heraus, worauf man Lust hat, und tut das zwanglos.

 

Kognitionswissenschaftler Andrew Smart schreibt in seinem Buch Öfter mal auf Autopilot, dass unser Gehirn Zeiten der Muße braucht, um funktionieren zu können. Chronische Geschäftigkeit zerstört Kreativität, das emotionale Wohlbefinden, Selbstkenntnis und kann sogar das Herz-Kreislauf-System schädigen. Muße hilft bei sich selbst anzukommen, wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, was einem wichtig ist. Ich habe viele Personen im Coaching, die sagen, sie hätten den Zugang zu sich selbst und dadurch zu einer authentischen Kommunikation verloren. Wenn man sich den Alltag dieser Leute ansieht, finden sich wochenlang keine Zeiten für Muße.

Ein gewisser Leerlauf in unserem Alltag und dadurch in unserem Gehirn ist unabdingbar für unsere geistige Stabilität, unsere körperliche Gesundheit und als Prävention gegenüber dem Gefühl ständiger Beschleunigung. Und noch mehr: Der Zustand der Muße ist extrem wichtig für den Zugang zu uns selbst. So zeigen Hirnscans, dass unser Gehirn im Mußezustand äußerst aktiv ist. In diesem sogenannten »Ruhezustand« verknüpft der Geist Vergangenes und Empfindungen mit freien Assoziationen, sodass neue, kreative Ideen für Probleme entstehen können. Dieser Zustand trennt Wesentliches von Unwesentlichem und hilft dadurch, bei sich selbst anzukommen, ruhig zu werden und wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, was einem wichtig ist. Geben wir uns nicht genug Ruhe- und Mußezeiten, so verlieren wir den Kontakt zu uns selbst.

 

Und dieser Verlust zum eigenen Selbst führt zum Verlust des Kontakts mit dem Gegenüber. Wer sich selten mit sich beschäftigt, hat einen schlechteren Zugang zu sich selbst und damit auch zu anderen Menschen. Wer sich selbst nicht spürt, kann auch keine anderen Menschen spüren beziehungsweise das Gefühl des Gegenübers nur kognitiv, aber nicht vollends emotional nachempfinden. Wie sagte schon Erich Fromm: »Bei sich selbst zu Hause sein ist die Voraussetzung, damit man sich mit anderen in Beziehung setzen kann.« Ständige Impulse führen aber eher dazu, dass wir uns irgendwann wie der Fremde im eigenen Haus fühlen. Und hierunter leidet die Empathie. Empathie beschreibt das Einfühlungsvermögen beziehungsweise die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, mit seinen Augen zu sehen, seinen Ohren zu hören und seinem Herz zu spüren. Leider nimmt diese Fähigkeit stetig ab.

So konnte die US-amerikanische Psychologin Sara Konrath in einer vielbeachteten Untersuchung nachweisen, dass bei ihren 14.000 Studienteilnehmern die Empathiefähigkeit in den letzten 30 Jahren stetig abgenommen hatte. Diese Beobachtung nannte sie »Empathie-Paradoxon«, da Empathie zwar einerseits immer wichtiger werde in der Arbeitswelt und man theoretisch durch die virtuelle Vernetzung an wesentlich mehr Menschen seine Empathiefähigkeit trainieren könne, diese aber trotzdem über die Zeit abnahm. Es wäre sicherlich zu einfach, digitalen Technologien die alleinige Schuld daran zu geben. Zunehmende Mobilität und Globalisierung, eine immer stärkere Individualisierung und auch die Abnahme sozialer Institutionen wie Vereine haben sicherlich ihren Teil dazu beigetragen. Jedoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass ein stetiger Blick auf das eigene Smartphone mehr die Medien- und weniger die Sozialkompetenz fördert.

 

Diese Sozialkompetenz wird auch durch einen wachsenden Stresspegel beeinträchtigt. Dieser Pegel steigt nicht nur, weil Technik unser Gefühl der Beschleunigung verstärkt, wie am Anfang des Kapitels gezeigt. Sie treibt den Stresspegel auch deshalb nach oben, weil Technik sich immer schneller verbreitet, immer mehr Zeit in unserem Leben in Anspruch nimmt und neue Erwartungen kultiviert. Es dauerte 14 Jahre, bis der Computer 50 Millionen Nutzer verzeichnen konnte. Beim Mobiltelefon waren es nur noch zwölf Jahre, und Pokemon Go verzeichnete bereits nach 19 Tagen 50 Millionen Nutzer.

Technik findet nicht nur immer schneller den Weg in unser Leben, wir verbringen auch immer mehr Zeit mit ihr, manchmal notgedrungen. Musste ein leitender Angestellter in den 70er-Jahren jährlich etwa 1000 Nachrichten bearbeiten, sind es heute rund 30.000 Botschaften im Jahr und das über die verschiedensten Kanäle. Rund sieben Stunden am Tag verbringen die Deutschen durchschnittlich mit der Nutzung von Medien. Natürlich werden viele davon parallel verwendet, dennoch bleibt immer weniger Zeit für andere Aktivitäten oder medienfreie Entspannung. All das führt zu neuen Verhaltensweisen und auch Erwartungen.

 

Befassen wir uns zunächst mit den Verhaltensweisen. Wie der Zeitforscher Hartmut Rosa herausfand, haben wir hauptsächlich zwei Strategien entwickelt, um mit dem ständigen Zeitmangel zurechtzukommen. Zunächst verdichten wir die Aktivitäten eines Tages, um möglichst viel in kurzer Zeit zu erleben. Wir verbringen im Schnitt pro Freizeitaktivität nur noch zwei Stunden. Wir verkürzen demnach die Zeit einer jeden Aktivität, um mehr Aktivitäten in unseren Tag zu packen. Quantität statt Qualität scheint unsere Devise zu sein. Da in unserer heutigen Multioptionengesellschaft die Anzahl der möglichen durchführbaren Handlungen sehr viel größer ist als die Menge der Handlungen oder Erlebnisse, die wir tatsächlich bewältigen können, versuchen wir, die knapp empfundene Zeit effektiv zu nutzen und daher möglichst viele Handlungen innerhalb einer bestimmten Zeit unterzubringen. Man nutzt den Samstag also nicht nur für einen entspannten Brunch, sondern nach dem Brunch geht es noch zum Tennisspielen, der Besuch der Schwiegereltern wird eingeschoben, und am Abend trifft man sich mit Freunden zum Grillen.

Die zweite Strategie besteht darin, Pausen zu verringern oder gar keine mehr einzulegen. Nicht selten höre ich von Teilnehmern, dass sie kaum mehr Mittagspause machen und meist an ihrem Platz essen, während sie ihren Berg an Mails abarbeiten. Hierunter fällt auch das Beantworten von WhatsApp-Nachrichten in der U-Bahn oder das Anrufen von Freunden während einer Autofahrt. Es gibt kaum mehr Pausen oder Leerlauf. Wie schädlich das ist, zeigt die Forschung zur Genüge.

 

Mit der extrem schnellen Verbreitung von Technik haben sich jedoch auch Erwartungen herausgebildet, die unseren Stresspegel weiter erhöhen. Wissenschaftler der Universität Kalifornien analysierten in Zusammenarbeit mit Yahoo 16 Milliarden E-Mails. Was sich zeigte, war ein Diktat der ständigen Erreichbarkeit. Während die über 50-Jährigen mit 47 Minuten am längsten für eine Antwort brauchten, konnte man bei den 35- bis 49-Jährigen bereits nach 24 Minuten mit einer Antwort rechnen, und bei den 20- bis 35-Jährigen klingelte es bereits nach 16 Minuten im Postfach. Wer per Smartphone seine Mails abruft, antwortet in der Regel doppelt so schnell, wie jemand, der das nur am Laptop tut. Wenn nach ein bis zwei Tagen keine Antwort eingegangen war, dann ging der Sender davon aus, dass er gar keine Antwort mehr erhalten würde.

Diese Zahlen zeigen eine enorme Reaktionsgeschwindigkeit, die wir von unserem Gesprächspartner erwarten. Und in dieser Studie ging es um E-Mails. Jeder, der schon mal einen halben Tag nicht auf WhatsApp-Nachrichten geantwortet hat, weiß, dass hier bereits wenige Minuten nachdem die kleinen »Lese-Häkchen« blau wurden, eine handfeste Diskussion über die fehlende Antwort ausbrechen kann. Nicht umsonst stellen immer mehr Nutzer Statusupdates über die letzte Onlineaktivität oder den Lesestatus einer Nachricht vollkommen ab. Wir wollen wieder mehr Herr unserer Zeit werden und uns nicht vom Antwortdiktat in Rekordzeit treiben lassen.

Doch warum erzähle ich Ihnen das alles und was hat das mit Kommunikation zu tun? Alle diese Entwicklungen steigern unseren Stresslevel rasant und hemmen Faktoren, die für eine gute Kommunikation unerlässlich sind: Geduld und Empathie.

 

Kommunikation benötigt Geduld. Nicht sofort findet unser Gesprächspartner in schwierigen Gesprächen die passenden Worte oder auch den direkten Zugang zu seinen Gefühlen oder Bedürfnissen. Wenn Sie nun gewohnt sind, jegliches Gefühl der Ungeduld und Langweile durch Reize abzutöten, so können Sie auch im Gespräch schnell der Versuchung erliegen, das Gespräch zu schnell voranzutreiben oder selbst Lösungen zu entwickeln, die für den Gegenüber nicht stimmig sind. Statt sich selbst und dem anderen Zeit zu geben, mittels Fragen den Sachverhalt wirklich zu verstehen, kommunizieren wir Annahmen oder Unterstellungen, weil das den Prozess beschleunigt, aber das Ergebnis versaut.

Es wird für uns immer schwieriger, auf reife Lösungen zu warten und diese gedeihen zu lassen. Stattdessen greifen wir zur schnellen Kommunikationslösung, die dann aber oft wenig nachhaltig ist. Doch gerade das geduldige Warten auf den anderen in der Kommunikation, das Aushalten von Stille und das Zugestehen einer längeren Antwortzeit, gibt dem Zwischenmenschlichen Tiefe und zeigt unserem Gesprächspartner, dass wir ihn wirklich verstehen wollen und an einer nachhaltigen, weil durchdachten Lösung interessiert sind. Wenn Sie in Ihrem Smartphone etwas nervt, können Sie es wegwischen. Tun Sie das bitte nie mit dem Anliegen Ihres Gegenübers, nur weil es Ihnen nicht schnell genug vorangeht. Kommunikation ist wie eine gute Frucht: Sie braucht Zeit, um zu ihrer vollen Reife zu gelangen.

 

Zudem braucht Kommunikation natürlich Empathie. Sie können nur dann in Resonanz mit den Gefühlen des anderen gehen, wenn Sie sie nachempfinden können. Und Sie können nur nachempfinden, was Sie selbst schon mal empfunden haben oder wenn Sie dieses Gefühl aktiv erzeugen können. Beides braucht einen guten Zugang zu sich selbst, der immer mal wieder Zeiten der Ruhe und Rückbesinnung erfordert. Wer dauerhaft neben dem Lautsprecher auf einem Rockkonzert steht, wird irgendwann seine eigene Stimme nicht mehr hören. So ist es auch mit dem ständigen Datenstrom von außen. Wer keinen authentischen Zugang zu sich hat, kann keinen ehrlichen Kanal zum Gegenüber aufbauen. Kultivieren Sie also wieder den Zugang zu sich, halten Sie Langeweile geduldig aus, und praktizieren Sie Momente der Muße. Ihre Kommunikation wird es Ihnen danken.

 

 

Digitaltipps:

• Das meiste funktioniert wieder, wenn man es ausschaltet. Das Gleiche gilt für Ihren Kopf!

• Bauen Sie in Ihren hektischen Alltag »Mußeinseln« ein, Phasen des Nichtstuns oder Aktivitäten, die Sie ohne Druck ein Ziel erreichen zu müssen und einfach mit Leichtigkeit ausführen wollen.

• Spüren Sie öfter achtsam in sich hinein. Nur wer mit sich selbst in Kontakt ist, kann auch mit anderen in Kontakt sein. Nur wer mit sich selbst achtsam ist, kommuniziert auch achtsam auf allen Kanälen.

• Schreiben oder sprechen Sie über wichtige Themen nie unter Stress. Stress fördert Gesprächsstörer wie fehlende Geduld oder Empathie, Unterstellungen und Schroffheit ungemein. Wenn Sie unter Strom stehen, Hände weg von digitalen Kommunikationsmedien und besser erst wieder den Mund aufmachen, wenn der Stresspegel gesunken ist.

 

 

 

Blogger-Relevanz-Index 2019

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*