»Scheiße!« Ich drehe noch einmal den Zündschlüssel um. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Arrgghh …« Doch alles Fluchen hilft nichts. Die Dicke gibt keinen Mucks mehr von sich. Nicht einmal ein kurzes Röcheln, gar nichts.
Nada, niente, nothing, rien – tot!
Ich schaue, ob ich nicht versehentlich an den Motorstoppschalter gekommen bin. Nein, da ist alles okay.
Na prächtig.
Es gibt sie, diese Tage, die einen stutzig machen sollten. Besser, man lässt die nächsten vierundzwanzig Stunden dann einfach an sich vorbeiziehen, ohne ihnen zu große Aufmerksamkeit zu schenken. Sofern das geht. Mich mit Chips und einem Kaltgetränk auf dem heimischen Sofa zu lümmeln, sitzt im Moment allerdings nicht drin.
Dabei versprach es beim ersten Blick aus dem Fenster heute früh, ein wirklich feiner Motorradmorgen zu werden. Und was das Wetter betrifft, so stimmt das nach wie vor. Doch das war es dann auch schon.
Bereits beim Frühstück kündigte sich auf ganz leisen Sohlen ein Unwetter ganz eigener Art an.
Ich blätterte durch meine Aufzeichnungen zum Verlauf der heutigen Strecke und freute mich schon darauf, was alles anstehen würde. Bis nach Reims, in die alte Königsstadt, sollte es gehen, hinein in die Champagne.
Da riss mich die Servicekraft aus meinen Gedanken.
»Monsieur, sind das dort vielleicht Ihre Toasts?«
Die Frage war überaus freundlich formuliert, aber wohl eher rhetorisch gemeint. Eigentlich hätte er auch direkt sagen können: »Pass mal auf, Kumpel, deine Toasts sind inzwischen Zwieback. Wann zum Henker schnappst du sie dir endlich und blockierst den Toaster nicht noch eine weitere Ewigkeit? Die anderen Gäste wissen das sicher zu schätzen. Du Depp!«
»Oh, ja. Vielen Dank.« Die Toasts hatte ich tatsächlich völlig verschwitzt; waren irgendwie aus dem Blickfeld geraten. Vielleicht eine innere Stimme, die mir unterbewusst einzureden versuchte, nach der gestrigen Völlerei zum Abendessen heute doch mal besser auf das ganze Weizenzeug zu verzichten? Ich holte sie mir pflichtschuldig, nicht ohne mir gleich noch ein Glas Wasser zu nehmen.
Wenn ich heute an eines glaube, ist es Murphys Gesetz, diese Lebensweisheit, wonach alles, was schiefgehen kann, definitiv schiefgehen wird. So wie das berühmte Marmeladenbrot, das immer mit der Oberseite auf den Teppich landet, wenn es herunterfällt. Oder dass man beim Füllen eines Wasserglases durch eine kleine Unachtsamkeit ganz locker einen halben Raum überfluten kann. Ja, auch das geht, als ich mir das Malheur so ansehe.
Irgendwie stehe ich heute neben mir. Das denkt sich die Servicekraft wohl ebenfalls. Hat da etwa wer die Augen verdreht?
Aber es sollte ja alles noch besser kommen. Nachdem ich Sack und Pack zusammengerafft und die Dicke wieder beladen hatte, wollte ich mir noch die Zitadelle von Arras ansehen, eine weitläufige Festungsanlage, die etwas ganz Besonderes sein muss. Seit 2008 ist sie nämlich als eine von dreizehn Baustätten Teil des UNESCO-Weltkulturerbes »Festungsanlagen von Vauban«.
Sie geht zurück auf den französischen Baumeister Sébastien Le Prestre de Vauban (1633–1707), einen Typen, von dem ich noch nie zuvor gehört habe. Muss aber ein Tausendsassa gewesen sein, der landauf und landab alle möglichen Bauten in die Landschaft pflanzte, sich nebenbei auch noch mit Wirtschaft, Politik, Religion und Philosophie beschäftigte und locker mehrere tausend Kilometer im Jahr in der Kutsche zurücklegte.
Und nun stehe ich hier inmitten einer seiner Festungsanlagen, die so weitläufig ist, dass man sie sogar mit dem Motorrad befahren kann – oder könnte, wenn das Motorrad denn führe. Denn das tut es jetzt leider nicht mehr. Die Dicke sendet ein unmissverständliches Signal, das heißt, genaugenommen sendet sie überhaupt kein Signal mehr. Sie streikt, als wolle sie mir sagen: Sorry, aber mit uns wird das heute nichts mehr.
Ich krieg den Blues.
Wer Motorrad fährt, weiß: Ein bisschen ähnelt das Verhältnis zum Gefährt einer Beziehung, in der man sich schon länger kennt. Da hat man häufig auch eine Vorstellung davon, warum der Partner oder die Partnerin gerade mal wieder murrt, eingeschnappt ist, bockt oder zickt. Nicht selten ist man ja selbst mit schuld daran. Das jetzige Dilemma habe ich mir sogar komplett selbst zuzuschreiben.
Und alles nur, weil ich ein wenig gierig war.
Die Festungsanlage bietet ein paar schöne Fotomotive. Ist man jedoch allein unterwegs, dann ist es nicht mal eben mit einem Schnappschuss getan, wenn Motorrad und Fahrer mit aufs Bild kommen sollen. Da heißt es dann: Stativ aufbauen, die richtige Einstellung finden und immer wieder hin- und herlaufen, selbst wenn man einen Fernauslöser dabeihat. Das kann sich hinziehen. Offenbar hatte ich nicht nur die Zeit völlig aus den Augen verloren, sondern aus irgendeinem blöden Grunde die Maschine nicht immer komplett ausgestellt. Zudem scheint auch die Sonne heute früh schon recht kräftig. Schönen Gruß an die Batterie. Hätte ich doch bloß ein Glas Marmite mitgenommen. Vielleicht wäre die Batterie von selbst wieder aufgeschreckt, wenn ich sie mit diesem Wunderzeug bestrichen hätte. So rührt sich leider nichts.
Aber ich habe meine Lektion von gestern gelernt, also immer mit der Ruhe. Erst einmal überlegen, was zu tun ist. Gut wäre eine Starthilfe.
Die Zitadelle von Arras stellt zwar eine bedeutende kulturelle Stätte dar, sie ist aber zumindest heute Morgen noch kein Touristenmagnet. Wahrscheinlich hätte mir ohnehin keiner der Besucher direkt helfen können. Was hätte ich schon fragen sollen? »Guten Tag. Gefällt es Ihnen hier? Ja? Wie schön. Sie haben nicht zufälligerweise eine Powerstation zur Hand? Nein? Wie schade. Na, nichts für ungut. Schönen Tag noch.«
Nicht allzu weit von mir entfernt ist jedoch ein voll besetzter Parkplatz. Das ist doch mal ein Ansatz. Vielleicht lässt sich ja jemand ausmachen, der mit einem Überbrückungskabel aushelfen kann.
Ich schiebe das Motorrad in Richtung der Stellplätze und entdecke einen weiteren Lichtblick. Hier hat die Communauté urbaine d’Arras ihren Sitz, ein Gemeindeverband, der den umherstehenden Pkw nach zu urteilen eine Menge Beschäftigte oder Besucher haben muss. Tippe mal auf Ersteres. Sogar ein paar Bikes sind zu sehen. Da sollten doch die Chancen nicht so schlecht stehen, dass jemand Hilfe leisten kann – wo doch die Franzosen angeblich so motorradfreundlich sind.
Am Empfang versuche ich einmal mehr, mein Problem rüberzubringen. Leider spricht die Dame dort auch kein Englisch. Was ich allerdings faszinierend finde: Allein das Bemühen, sich in der Landessprache zu verständigen, macht die andere Seite gleich aufgeschlossener. So auch jetzt, selbst wenn es nicht wirklich fruchtet.
Was mir gestern beim Tanken letztlich doch noch gelang, fällt mir heute etwas schwerer. Was zum Teufel heißt Überbrückungskabel? Erstmals ziehe ich Google Translator zurate, der mir câble de dérivation vorschlägt. Wahrscheinlich werde ich bei meinen nächsten Suchen im Internet Werbeanzeigen für Französischkurse angezeigt bekommen.
Ich hätte in der Schule das Fach Französisch ernster nehmen sollen. Soweit ich mich erinnere, war unsere damalige Lehrerin, ich glaube, sie hieß so wie die Hälfte von Frankreich, nämlich Frank, auch wirklich sehr engagiert. Uns spukten damals allerdings andere Flausen im Kopf herum, worunter insbesondere mein schulisches Engagement zu der Zeit, na ja, sagen wir mal, etwas litt, um es mal freundlich auszudrücken. Irgendwann wurde ich vor die Wahl gestellt, entweder Französisch abzuwählen und noch ein »Befriedigend« einzuheimsen oder dabeizubleiben, dann müsse ich jedoch mit einem »Mangelhaft« im Zeugnis rechnen, was zweifellos realistischer war. Es gibt wirklich kaum etwas, das ich rückblickend bereue, aber Französisch abgewählt zu haben, war eindeutig ein Fehler. Ich hätte dranbleiben müssen. Leider zeigten sich Biss und Durchhaltevermögen erst später. Wie empfehlenswert ist es doch manchmal, die Flinte nicht so schnell ins Korn zu werfen.
André Niedostadek: „Kurvengeflüster. Entlang der Via Francigena von Canterbury nach Rom.“ 252 Seiten, 19,80 Euro, Thurm Verlag https://thurm-verlag.de/kurvengefluester/
Mittlerweile stehen wir hier sogar zu dritt am Empfang, und man bietet mir an, mal per Rundmail bei den Kolleginnen und Kollegen im Haus anzufragen, ob nicht jemand behilflich sein kann. Es ist unglaublich, wie freundlich, bemüht und überaus zuvorkommend man hier ist, Kaffee und Wasser inbegriffen. Allein dafür an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank, sollte irgendwer rein zufällig diese Zeilen lesen und sich überraschenderweise erinnern. Zwischenzeitlich kommt sogar jemand vorbei, dem die Mail wohl auf den Bildschirm geflattert war und der nun wissen möchte, ob sich mein Problem zwischenzeitlich erledigt hat. Hat es leider nicht.
Es hilft wohl nichts: Nun gilt es, Plan P anzugehen, P wie Pannendienst.
Nach ein paar Telefonaten ist der schnell informiert. Jetzt heißt es warten, was ich eigentlich vermeiden wollte, um nicht weitere Zeit zu verlieren. Mindestens eine Stunde würde es wohl dauern, eher etwas länger, so die Info. Die Idee, mich gleich wieder aufmachen zu können, hat sich damit also zerschlagen. Na, dann ist das halt so.
Ich mache es mir derweil draußen im Schatten etwas gemütlich, kann aber nicht so richtig entspannen. Womöglich steht der Pannendienst mit einem Mal doch auf der Matte, sucht herum, findet niemanden und zieht dann unverrichteter Dinge wieder ab.
Überrascht bin ich dann allerdings, als ich gleich zweimal angesprochen werde, ob ich mich hier vielleicht auskenne. Das eine Mal von einem Paketboten, das andere Mal von einer Besucherin, die angesichts der Größe der Anlage offenbar etwas orientierungslos ist. Mir war noch nie aufgefallen, dass in dem Wort »besuchen« auch das Verb »suchen« steckt.
Letztlich vergehen gut zwei Stunden, bis der Pannendienst endlich eintrifft. Mit wenigen Handgriffen und in kürzester Zeit ist die Dicke wieder startklar. Es war – wie schon vermutet – tatsächlich nur die Batterie.
Zuerst fällt mir ein Stein vom Herzen, es kann also weitergehen. Dann beginnt allerdings gleich das Kopfkino. Und was sich dort abspielt, ist keine Komödie à la Louis de Funès: Was, wenn die Batterie doch irgendeinen Schlag wegbekommen hat? Wenn das nicht nur ein einmaliger Ausrutscher war, sondern es abermals passiert und das nächste Mal dann womöglich nicht wie heute in der Stadt, sondern weit draußen irgendwo im Nirgendwo? Wäre es besser, die Batterie zu tauschen? Bisher habe ich zwar ein paar Stunden verloren, aber ein Werkstattbesuch würde meinen Zeitplan völlig über den Haufen werfen.
Was soll’s! Ich entscheide mich, zuversichtlich zu bleiben und es drauf ankommen zu lassen.
Aus Arras heraus geht es Richtung Bapaume, das ich nach etwas mehr als zwanzig Kilometern sogleich wieder hinter mir lasse.
Nicht viel später sehe ich am Straßenrand eine Person entlanglaufen, bepackt mit einem großen Rucksack und einem Pilgerstock in der Hand. Da ist offenbar jemand auf dem Jakobsweg unterwegs, wie das Erkennungszeichen, die Jakobsmuschel am Rucksack, unverkennbar zeigt.
Ich bin hin- und hergerissen, entweder weiterzufahren oder kurz anzuhalten, entscheide mich dann für Letzteres. Die Maschine lasse ich laufen, ich will ja eh gleich weiter.
Alicia, auch das ist wieder nicht ihr richtiger Name, ist – wie schon vermutet – tatsächlich unterwegs nach Santiago de Compostela. Sie kommt aus Belgien. Ich finde es wirklich faszinierend, warum sich jemand auf eine solche Tour begibt, also frage ich direkt danach und bekomme eine überraschend offene Antwort.
»Ich wollte diesen Weg schon immer mal gehen. Meine Mutter habe ich bereits früh verloren, und kürzlich starb mein Vater. Obendrein mache ich gerade eine Scheidung durch. Jetzt ist einfach die Zeit dafür.«
Alicia will es heute noch bis Péronne schaffen. Zwar schmerzten ihre Füße schon, aber sie werde durchhalten, kommt es zuversichtlich aus ihr heraus. Ich glaube ihr das sofort. Ich überschlage kurz: Bis Péronne sind es noch etwa fünf Kilometer; für mich sind es bis nach Reims noch etwa hundertdreißig Kilometer.
Es sind nur ein paar Minuten, die wir uns hier so am Straßenrand unterhalten. Aber es sind doch Augenblicke, die mir zu denken geben. Die Begegnung mit Alicia berührt mich wirklich. Mag sein, dass es auch der Reiseblues ist, der mich nach heute Morgen etwas melancholisch macht. Sollte mich nicht vorher der Schlag treffen, dann werde ich im nächsten Jahr das Alter erreichen, in dem mein Vater mit nicht einmal fünfzig Jahren starb. Im Moment bin ich mir gar nicht mehr ganz sicher, ob das hier wirklich bloß eine einfache Motorradtour ist. Oder womöglich doch erste Anzeichen einer Midlife-Crisis?
Kaum in Péronne angekommen, geht es schon wieder hinaus, was eigentlich schade ist, denn mit seinen Flüssen, Seen und Kanälen hinterlässt der Ort einen reizvollen Eindruck. Die Strecke, die sich jetzt anschließt, ist einfach zu fahren, sodass die nächsten Stationen ebenfalls schnell gemeistert sind. Ein einfaches Cruisen.
Dann zeigt sich plötzlich schon weit sichtbar und wie auf einem Thron gelegen, Laon, eine alte Stadt, die bis in die Zeit der Karolinger zurückreicht.
Wenn es einen Grund gibt, diese Region zu besuchen, dann hat der genau diese vier Buchstaben: L-A-O-N. Der Tafelberg mit der mittelalterlichen Oberstadt und der mächtigen Kathedrale erhebt sich mehr als 100 Meter aus der weitläufigen Ebene; nicht ohne Grund heißt das Massiv »Gekrönter Berg«. Ein beeindruckendes Panorama.
Mit dem Motorrad in die Altstadt hinaufzufahren, erweist sich als überraschendes Kurvenintermezzo. Hinter den mehrere Kilometer langen Festungsmauern verbirgt sich die größte und komplett erhaltene historische Altstadt Frankreichs.
Was überrascht: Fast versprüht die Stadt südländisches Flair. Wer will, kann direkt bis zur Kathedrale Notre-Dame de Laon im Herzen der Altstadt vorfahren.
Ein Plätzchen zum Parken findet sich für Motorräder allemal. Ob das Gotteshaus wirklich zu den schönsten Kirchen Frankreichs zählt, kann ich nicht beurteilen, zumindest nicht, was das Innere betrifft. Von außen betrachtet wirkt sie jedenfalls imposant. Aber mal ehrlich, tun das nicht alle Kathedralen auf ihre Weise? Was macht eine Kathedrale oder irgendein anderes Gebäude eigentlich schön? Und überhaupt: Diese ganzen Superlative von wegen »schönste«, »größte«, »älteste« gehen mir heute auf die Nerven. Und dass die fünf Türme schwerelos zu höheren Gefilden emporstreben, wie einmal in einem Reisebericht dazu zu lesen war. Na gut, von mir aus.
So kurvenreich, wie es hinaufging, geht es wieder hinunter, und ich bin froh, dass es nicht regnet. Nasses Kopfsteinpflaster ist wirklich eine Herausforderung, erst recht bergab. Ich erinnere mich noch an eine Tour nach Schottland vor einigen Jahren, wo es von der Burg Stirling Castle wieder hinunter in die Stadt ging, was zu einer recht eierigen Angelegenheit wurde.
Bevor es wieder aus Laon hinausgeht, entscheide ich mich, etwas Sprit nachzulegen.
Ich finde eine Tankstelle mit Werkstatt – natürlich nur für den Fall der Fälle. Bin doch noch skeptisch wegen der Batterie, was sich allerdings als unbegründet zeigt. Als ich den Zündschlüssel diesmal umdrehe, springt das Motorrad problemlos wieder an. Die Zuversicht steigt.
Von Laon aus geht es weiter nach Bouconville-Vauclair, wobei man den Chemin des Dames streift, einen dreißig Kilometer langen und mehrere Kilometer breiten Bergkamm. Auch dieser Abschnitt lässt sich angenehm fahren und überrascht sogar durch ein paar nette Kehren. Ganz in der Nähe findet sich noch die sogenannte Drachenhöhle, ein gut besuchter touristischer Anlaufpunkt.
Der ehemalige Steinbruch wurde unter anderem als unterirdisches Feldlager genutzt. Heute dokumentiert es als Museum die Historie des Ersten Weltkrieges und das Leid des Soldatenalltags.
Dem kann ich heute allerdings nicht wirklich etwas abgewinnen.
Mir fallen ein paar Zeilen aus dem Song No Man’s Land von Eric Bogle ein. Ein Antikriegslied, von dem es unter dem Titel The Green Fields of France eine sehr hörenswerte Version der britischen Band The Men They Couldn’t Hang gibt. Es ist ein fiktives Gespräch am Grab eines 19-jährigen Soldaten namens William oder Willie MacBride, der 1916 hier fiel.
Ich steige also nicht in die Höhle des Drachen hinab, sondern steuere ein anderes Ziel an: die Ruinen des ehemaligen Klosters Vauclair.
Die Abtei liegt keine zwanzig Kilometer von Laon entfernt etwas abseits der Straße, rings umgeben von Wald. Im Mittelalter war das Kloster eine Zwischenetappe auf der Via Francigena. Vor Langem wurde sie bereits aufgegeben und ist heute völlig verfallen; der Zahn der Zeit hat ganz mächtig daran genagt. Die Überreste lassen nur erahnen, welche bedeutsame Stätte sich hier einmal befunden haben und wie geschäftig es hier zugegangen sein muss.
Gegründet wurde die Abtei im Jahre 1134 von Bernhard von Clairvaux (1090–1153), einem umtriebigen und nicht unumstrittenen Zisterzienserabt, Mystiker und Kreuzungsprediger. Gerade wegen seiner zahlreichen Klostergründungen gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter des Ordens.
Für die Eifelfahrer: Das ehemalige Kloster Himmerod in der Vulkaneifel zwischen Eisenschmitt und Großlittgen im Tal der Salm geht ebenfalls auf ihn zurück. Nach fast 900 Jahren kam dann aber dort 2017 für die Zisterzienser ebenfalls das Aus.
Das Areal hier wirkt seltsam einnehmend. Es ist völlig frei zugänglich. Eintritt wird nicht verlangt; man kann problemlos überall herumspazieren. Jetzt ist es gerade einmal eine gute Handvoll von Besuchern, die hier so durch die Ruinen schlendern.
Das Ganze durchweht heute ein Hauch von mittelalterlichem Spirit.
Was mich genau fasziniert, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht ist es die unglaubliche Ruhe, die über der Ruinenanlage liegt und die nach der heutigen Etappe wirklich guttut. Ganz sicher ist es auch die schon langsam sinkende Nachmittagssonne, die der Szenerie eine besondere Stimmung verleiht.
Ich lasse alles auf mich wirken und die Seele baumeln. Irgendwie mystisch und magisch. Es würde mich nicht überraschen, wenn gleich plötzlich eine Prozession von Mönchen bedächtig aus dem Wald herausgeschritten käme. Oder ein paar Druiden, in der einen Hand vielleicht eine Sichel, in der anderen frisch geschnittene Misteln für den nächsten Zaubertrank.
In unseren bewegten Zeiten, in denen alles immer schneller gehen muss, ist dieser Ort bestens geeignet, um einfach mal abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Wenn man daran denkt, wie viele sich heute mit Stress und Burnout herumplagen. Oder gab es das schon immer?
Dazu gibt es eine nette Anekdote.
Der damalige Papst Eugen III. hatte sich bei besagtem Bernhard – die beiden kannten sich gut – bitter darüber beklagt, dass er vor lauter Arbeit gar nicht mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe. Na, selbst schuld, schreibt Bernhard ihm zurück und rät, mal halblang zu machen: »Es ist viel klüger, du entziehst dich von Zeit zu Zeit deinen Beschäftigungen, als dass sie dich ziehen und dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Wenn du dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für Besinnung vorsiehst, soll ich dich da loben? Darin lob ich dich nicht.« Heute würde man das vielleicht ein Resilienz-Coaching nennen. Und Bernhard setzt noch einen drauf: »Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also daran: Gönne dich dir selbst!«
Und das schreibt jemand, der selbst trotz angeschlagener Gesundheit rastlos umherzog und als Prediger nicht eben versöhnliche Worte fand, wenn er verbissen auf Propagandatour für den Zweiten Kreuzzug unterwegs war, einem Unterfangen, das als völliger Fehlschlag scheiterte.
Charaktere mit dem Format und Charisma eines Bernhards sind wohl nur aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Nach diversen Missernten und kometenhaften Himmelserscheinungen waren die Massen beunruhigt. Es herrschte mal wieder Endzeitstimmung, die Bernhard geschickt für seine Kreuzzugsfantasien auszunutzen wusste.
Als ich mich wieder aufmachen will, bin ich nach wie vor etwas angespannt, was die Dicke betrifft. So ganz traue ich dem Braten noch nicht.
Eine Werkstatt ist diesmal nicht in der Nähe, ganz im Gegenteil bin ich ziemlich weit ab vom Schuss. Aber wie heißt es doch? Aller guten Dinge sind drei, und wieder zündet der Motor problemlos. Na also: Reims kann kommen.
Es geht weiter über Corbeny und Hermonville; inzwischen bin ich in der Champagne gelandet.
Die Route führt zwar nicht entlang der Champagnerstraße, der Route Touristique du Champagne, von der es übrigens nicht nur eine, sondern gleich fünf gibt. Trotzdem kommt man an diesem berühmten Edel-Prickeltrunk nirgendwo vorbei. Selbstredend, dass sich nur das Champagner schimpfen darf, was hier erzeugt wurde, und zwar aus den drei Rebsorten Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonnay. Alles andere wie Cava, Crémant, Prosecco – oder etwas schnöder einfach Sekt – mag vielleicht in einem ähnlichen Verfahren mit aufwendiger Flaschengärung hergestellt werden, aber es ist natürlich nie und nimmer Champagner.
Egal was man von Champagner hält, in puncto Pomp kann ihm jedenfalls keine andere blubbelblasige Alternative das Wasser reichen.
Auf einer einschlägigen Website ist zu lesen, dass Casanova damit die Frauen verführte, Napoleon seine Feldzüge damit begoss und Marilyn Monroe darin badete. Und dass Kenner beim Champagner die Korken nicht knallen lassen, auch wenn man das in ausgelassener Feierlaune wie etwa bei einem Sieg nach einem Motorradrennen gerne mal tut.
Für die Fans der Beschleunigung: Forscher haben herausgefunden, dass ein ungebremster Korken aus einer gut geschüttelten Flasche etwa 40 km/h erreicht. Theoretisch könnte es ein Korken, so die weiteren Berechnungen, sogar auf 100 Stundenkilometer bringen, vorausgesetzt, die Bedingungen stimmen: Druck von 3 bar, keine Reibung und eine sonnengewärmte Sektflasche. Unglaublich, was das Herz manchen Wissenschaftlers so zum Schäumen bringt.
Bei so viel Wirbel um den Champagner ist es überraschend, dass die Champagne selbst gerade in puncto Kurventauglichkeit ein eher unbekanntes Pflaster ist. Völlig zu Unrecht: Wer auf das Cruisen und Entdecken aus ist, findet bei einer Spritztour ein weitläufiges Geflecht an Straßen mit durchaus kurvenvergnüglichen Abwechslungen und Natur pur. Dabei führt die Fahrt nicht nur zwischen Rebstöcken hindurch. Ganz im Gegenteil ist die Landschaft hier viel weniger vom Weinbau geprägt, als man es vielleicht vermuten würde. Tatsächlich macht der Weinbau sogar nur einen vergleichsweise kleinen Teil des Hügellandes aus. Im Übrigen gibt es weitläufige Äcker und Felder, die sogenannten champs, die hier sogar namensgebend waren.
Schließlich erreiche ich Reims, zwar deutlich später als vorgesehen, aber egal. Hauptsache, es hat überhaupt geklappt.
Die Universitätsstadt ist, wenn mal so will, die Wiege Frankreichs. Irgendwann am Ende des fünften oder zu Beginn des sechsten Jahrhunderts – wann genau, darüber streiten die Gelehrten – wurde hier in Reims Clovis I., zu Deutsch Chlodwig I., von Bischof Remigius an den Weihnachtstagen in der Kathedrale von Reims getauft. Dieses Ereignis gilt als das Aufkommen der Dynastie der Franken und damit als die Geburtsstunde Frankreichs. Ist es da ein Wunder, dass in dieser Tradition in den nächsten Jahrhunderten viele Könige ebenfalls hier gekrönt wurden? So mauserte sich Reims zu einer heimlichen Hauptstadt.
Das Hotel liegt diesmal wirklich zentral an einer beliebten Fußgängerzone, zugleich aber etwas versteckt in einem Hinterhof, sodass ich es auf Anhieb gar nicht finde und unfreiwillig zwei Extraschleifen drehen muss. Erster Eindruck: Die Bleibe hat etwas Jugendstilhaftes. Es gibt zwar eine Tiefgarage, die ist aber kostenpflichtig. Ein paar Meter weiter in der Einkaufsmeile stehen jedoch ohnehin schon jede Menge anderer Motorräder; da wird sich die Dicke wohlfühlen. Da ich allerdings keine Ahnung habe, ob es in der Nacht hier ebenfalls so geschäftig zugeht wie im Augenblick oder ob Reims dann eher ein ausgestorbenes Pflaster ist, nehme ich das Gepäck doch besser mit. Dass mich ausgerechnet jetzt am Ende des Tages doch noch wieder das Versagen der Technik einholt, was soll’s: Das Zimmer unter dem Dach ist sicherlich schön, weniger schön ist hingegen, dass der Aufzug nicht funktioniert. Egal, trage ich das ganze Gerödel halt die paar Etagen hinauf.
Inzwischen habe ich den Reiseblues etwas abschütteln können, sodass ich mich zu einem Streifzug durch die Umgebung aufmache. Es ist früher Abend, und draußen auf der Flaniermeile geht es ähnlich rege zu wie in Arras. Die Restaurants und Bistros sind gut besucht. Was aber besonders auffällt: Von überall wird man mit poppigen Sounds beschallt. Nicht, dass hier irgendwelche Musikkneipen wären oder Straßenmusiker in Kelly-Family-Manier für eine launige Atmosphäre sorgen und sich ein paar Euro verdienen wollen (wobei das heute ja oft schon halb professionell ist). Nein, der Radau kommt aus festinstallierten Lautsprechern, die alle paar Meter stehen und Einheitsmusik verordnen. Vorhin noch in der Abgeschiedenheit einer versunkenen mittelalterlichen Welt abgetaucht, bin ich jetzt inmitten einer komplett anderen Welt, in einem Gewühl zwischen Kneipen und Kommerz. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Eine Zeitreise im Zeitraffer.
Ich lasse mich einfach etwas treiben und stehe mit einem Mal mehr zufällig als geplant vor eben jenem Wahrzeichen, mit dem Reims so verbunden ist, der Kathedrale.
Da ich ja auf einer europäischen Kulturroute unterwegs bin, passt die Kathedrale perfekt. Hier fand im Juli 1962 ein historisches Treffen statt und ein Meilenstein der europäischen Idee: Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle trafen sich hier in Reims. Die Begegnung gilt nicht nur als ein Meilenstein in den deutsch-französischen Beziehungen, sondern auch als wichtiger Impuls für die europäische Idee. Zwei Völker, die sich ehemals als Erbfeinde bekriegt hatten, näherten sich einander an. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Versöhnung und Freundschaft.
Ich stehe einfach davor. Wuchtig und zugleich zierlich soll die Kathedrale sein. Wer denkt sich nur solche Vergleiche aus? An eine Besichtigung ist heute nicht mehr zu denken. Die Pforten sind längst geschlossen.
Spannender finde ich ohnehin das Reiterstandbild direkt gegenüber der Kirche. Die Bronzefigur bildet eine junge Frau ab. Lebensgroß sitzt sie hoch zu Ross, in voller Rüstung mit Helm auf dem Kopf und ausgerecktem Schwert in der Hand, den Blick auf die Kathedrale gerichtet, als wolle sie jeden Moment darauf zustürmen. Es ist Frankreichs Nationalheilige Jeanne d’Arc, die »Jungfrau von Orleans«.
Unglaublich, aber wahr: In den letzten Jahren müssen Unbekannte gleich mehrfach die Statur hinaufgekraxelt sein, um das Schwert zu klauen. Man kann sich kaum vorstellen, wie das möglich sein soll, hier in so zentraler Lage und angesichts all der Leute, die sich zumindest jetzt hier aufhalten. Das kann nur eine Nacht-und-Nebel-Aktion gewesen sein.
Noch unglaublicher ist aber die Geschichte der Jeanne d’Arc selbst: Ein schlichtes Bauernmädchen, das weder lesen noch schreiben kann, wird ohne jegliche militärische Erfahrung zu einer erfolgreichen Feldherrin, um dann als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen zu sterben und am Ende als Nationalheilige Frankreichs im kollektiven Bewusstsein weiterzuleben. Was für eine Story.
Doch was ist Wahrheit und was Legende, und wo vermischt sich beides? Nach mehreren hundert Jahren lässt sich das wahrscheinlich gar nicht mehr so leicht trennen.
Kurz zu den Fakten: Jeanne kommt 1412 in der französischen Provinz zur Welt. Schon seit Jahrzehnten wütet ein Bürgerkrieg, der später als Hundertjähriger Krieg (1337 bis 1453) in die Geschichte eingehen wird. Als die französischen Truppen von den Engländern eins auf den Deckel bekommen, schlägt Jeannes Stunde. Und sie hat dabei einen Trumpf im Ärmel: Getragen von einer Prophezeiung, wonach eine Jungfrau Frankreich retten werde, schafft sie es tatsächlich, mit einer Portion Starrsinn königliche Truppen um sich zu sammeln und 1429 die englischen Besatzer aus der strategisch wichtigen Stadt Orléans rauszuwerfen. Eine göttliche Eingebung, so heißt es, habe ihr die Stärke dafür verliehen.
Ihre Mission ist aber noch nicht zu Ende. Noch steht ihr eigentlicher Coup bevor: Nachdem der etwas umnachtete und regierungsunfähige französische König Karl VI. bereits vor einigen Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, hätte eigentlich der Nachwuchs die Thronfolge antreten müssen. Doch die Mutter, die mit den Engländern sympathisierte, wusste das zu verhindern; sie hatte den Thronfolger kurzerhand verstoßen. Jetzt kommt allerdings die resolute Jeanne ins Spiel. Die schnappt sich den Kronprinzen und schleppt ihn hier nach Reims zu einer eilig angesetzten Krönungszeremonie. Dafür wird sogar eigens eine Ersatzkrone besorgt, denn die Königskrone für Karl VII. ist nicht griffbereit. Die Engländer sind nun vollends brüskiert und not amused.
Doch dann verlässt Jeanne das Glück. Bei weiteren Kämpfen muss sie Niederlagen einstecken. Sie wird verwundet, ein Jahr später von Gegenspielern gefangengenommen und schließlich an die Engländer ausgeliefert. Denen gelingt es, die Kirche dafür zu instrumentalisieren, sie als Ketzerin der Inquisition zu überstellen und ihr den Prozess zu machen. Beistand alter Weggefährten erhält sie kaum, auch nicht von Karl VII. Sie wird exkommuniziert und 1431 auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt. Für die Engländer hat die Sache damit ihr Bewenden, nicht aber für die Franzosen: Schon wenige Jahre später wird Jeanne 1456 rehabilitiert und dann 1909 zunächst selig- und 1920 sogar heiliggesprochen.
Während ich hier so sitze und mir das Standbild anschaue, frage ich mich, wie sie wohl gewesen sein mag, diese Jeanne d’Arc. Mir schwebt ein Energiebündel vor mit einem klaren Fokus, etwas ungestüm, vorlaut, respektlos, womöglich sogar ein bisschen rotzig, um sich zwischen all den Soldaten zu behaupten. Eine, die für ihre Ideale einsteht und die ihr Ding durchzieht. Dann dieser Mut, sich all den Dingen zu stellen. Woher nimmt man den? Und wofür würde sie sich heute wohl in die Bresche werfen? Naturschutz, Antiglobalisierung? Sicher wäre sie keine YouTuberin, die Zigtausende von Followerinnen mit irgendwelchen Werbevideos überschüttet. Und man sähe sie wohl ebenso wenig bei einer Sendung wie Promi Shopping Queen. Was auf jeden Fall bleibt: Das Alter ist wahrlich kein Kriterium, um inspirierend zu sein. So manche oder mancher hat heute mit Anfang Dreißig mehr Persönlichkeit als ein vermeintlich gestandener Charakter.
Ich schaue zum Standbild auf, tippe zum Zeichen des Aufbruchs an mein Käppi und mache mich dann wieder auf.
Es geht vorbei an einem kleinen Markt, der jetzt selbst in den Abendstunden geöffnet ist und Produkte aus unterschiedlichen Regionen Frankreichs anbietet. Bei Wildschweinsalami aus Korsika kommt mir unweigerlich die Comicfigur Asterix in den Sinn.
Ich kehre noch in einem Restaurant ein und versuche, mir bei Crêpes und Schokocreme den Abend noch etwas zu versüßen, wobei ich abermals den Tag Revue passieren lasse.
Einerseits bin ich zwar happy, dass letzten Endes doch alles geklappt hat. Andererseits umfängt mich bei all den Gedanken doch noch einmal eine merkwürdige Melancholie. Nein, so recht will keine Champagnerlaune aufkommen. Vielleicht liegt es an den vielfältigen und unterschiedlichen Eindrücken heute. Ich weiß es nicht.
Wieder zurück im Hotel, schleppe ich mich die Treppen hinauf und falle dann nur noch todmüde in die Koje. Ich muss erstmal die eigenen Batterien wieder aufladen.