Warum Gelassen sein so anstrengend ist. Übernahme aus dem „Philosophie Magazin“

Übernahme aus dem „Philosophie Magazin“ 5/20019

Svenja Flaßpöhler (Foto: „Philosophie Magazin“/Johanna Ruebel)

 

Gelassen sein. Warum ist das so anstrengend?

von Svenja Flaßpöhler

Ist es zu kühn zu behaupten, dass gelassene Menschen Größe besitzen? Eine Souveränität, die fast rätselhaft anmutet – und eine Ruhe, die sie aufs Schönste abhebt aus der grellen Masse der Lauten, Schnellen, Hyperaktiven? Vielleicht kennen auch Sie einen solchen Menschen. Bewundern ihn. Fragen sich, worin sein Geheimnis besteht und woher es nur kommt: dieses tiefe Urvertrauen in die Welt, das eine solch befreiende Erhabenheit zeitigt und ein Genießen just in jenen Momenten ermöglicht, in denen Sie in Gedanken Ihre innere To-do-Liste abhaken oder sich zweifelnd fragen, ob eine Entscheidung, die Sie getroffen haben, auch wirklich die richtige war.

 

Nun, schaut man genauer hin, ist die Gelassenheit weitaus weniger metaphysisch, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielmehr beruht sie, folgt man antiken Stoikern wie Seneca oder Marc Aurel, auf einer zentralen und glasklaren Regel. Diese Regel der Stoa lautet: Kümmere dich um das, was du verfügen kannst. Was unverfügbar ist, lass geschehen und nimm hin. Nur so gelangst du zu vollkommener Seelenruhe, zur ataraxia, dem höchsten Ideal der Stoa. Zur Unverfügbarkeit zählt das schlichte Faktum unserer Geburt genauso wie der unwiederbringliche Tod, der uns früher oder später ereilt. Unserer Handlungsmacht entziehen sich ferner: Krankheiten, Zugverspätungen, der Wille der anderen. Wenn Ihr Kind mit einer Grippe aufwacht und Sie Termine absagen müssen: Akzeptieren Sie es. Wenn die Kollegen Ihre neue Spitzenidee nicht mittragen: Was soll’s. Lehnen Sie sich zurück. Genießen Sie die Sonne, die gerade so schön Ihr Gesicht bescheint. Und sammeln Sie erneut Kraft für Dinge, die Sie tatsächlich auf den Weg bringen, die Sie gestalten und bewirken, für die Sie sich stark machen können.

 

So weit, so eindeutig. Sobald man allerdings die Probe aufs Exempel macht, zeigt sich eine Problematik, die innere Unruhe eher erzeugt, anstatt sie zu verhindern. Denn: Zweifelsfrei zu entscheiden, ob sich ein Zustand wirklich meiner Kontrolle entzieht, ist leider gar nicht so einfach. Der Wille der anderen ist unverfügbar? Nun, wenn das stimmen würde, gäbe es keine Politik, keine Überzeugungsarbeit, keine Propaganda.

 

Ja, mehr noch: In unserer technisch hochgerüsteten Moderne wird der Bereich des Unverfügbaren – und damit auch der Anlass, die Fähigkeit zur Gelassenheit zu erproben – immer kleiner. Krankheiten sind in den meisten Fällen heilbar, tödliche lassen sich durch Therapien zumindest hinauszögern. Wo früher schlicht das Schicksal zuschlug, sind heute medizinische Handlungsoptionen gegeben: Das Geschlecht annehmen, mit dem man geboren wurde, auch wenn man sich nicht wohl im eigenen Körper fühlt? Tja und der Tod: Selbst an seiner Abschaffung arbeiten Transhumanisten wie Nick Bostrom. Hat sich der Grundgedanke der Stoa also schlicht erübrigt?

 

Eine Annahme, die sich in der Tat erhärtet, wenn man sich die Folgen der Digitalisierung vergegenwärtigt. Anstatt seelenruhig auf die große Liebe zu warten, frequentiert der vernetzte Single algorithmenbasierte Partnerbörsen: Gelassene Schicksalsergebenheit, möchte man meinen, geht anders. Und wie ließe sich noch entspannt durch eine fremde Stadt schlendern, getragen von der Lust, sich überraschen zu lassen, wenn das Smartphone doch längst weiß, was ich will und mir die besten Optionen ganz in der Nähe anzeigt? Mehr denn je sind wir bestrebt, das, was wir als grundlegend für unser Glück erachten, in „Reichweite“ zu bringen, so formuliert der Soziologe Harmut Rosa. Der Gegenstandsbereich der Gelassenheit – das Unverfügbare – schwindet mehr und mehr dahin.

 

Gegen diese kulturpessimistische Sicht ließe sich nun natürlich ein Einwand formulieren, der auch Ihnen womöglich schon auf der Zunge liegt: Schluss mit der Unverfügbarkeitsromantik. Vielmehr ist es doch gerade die Verfügbarkeit von Welt, die uns Gelassenheit schenkt. Wer will schon darauf verzichten, eine Arztpraxis in Reichweite zu haben und an ein schnelles Netz angeschlossen zu sein – und ja, bitte gerne auch im Urlaub? Was ist nervtötender als Gezanke im Auto, weil das Navi keinen Empfang hat? Wie herrlich ist es dagegen, tiefenentspannt an der Küstenstraße entlang zu fahren, während eine angenehme Stimme uns zum einsam gelegenen Badespot lenkt?

 

Allein, so zutreffend es sein mag, dass Verfügbarkeit beruhigt: Man sollte diese Ruhe nicht mit Gelassenheit verwechseln. Immerhin geraten nachweisbar gerade jene besonders leicht aus der Fassung, die es gewohnt sind, alles in der Hand zu haben. Oder anders gesagt: Was die Reichweitenerweiterung der Moderne erzeugt, ist eine extrem niedrige Toleranzschwelle. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nie zuvor in der Geschichte und nirgendwo sonst auf der Welt leben die Menschen so sicher wie hierzulande. Trotzdem – oder gerade deshalb – werden wir von Angst beherrscht, lassen uns nur allzu leicht und ganz buchstäblich terrorisieren. Je unwahrscheinlicher ein Ereignis ist, desto größer ist sein vorweggenommener Schrecken.

 

Grund genug also, die antike Tugend der Gelassenheit gerade jetzt wieder einzuüben: Wie wäre Gelassenheit zu erlangen in einer Zeit, in der ein jeder sein Leben selbst in die Hand nehmen und verantworten muss? Ja, würde uns gerade ein in diesem Sinn gelassenes Dasein befähigen, da aktiv zu werden, wo es wirklich nötig ist – oder gar in „Panik zu geraten“, wie Greta Thunberg angesichts der drohenden Klimakatastrophe fordert?

 

 

Das „Philosophie Magazin“ ist bis 11. September 2019 am Kiosk erhältlich. https://philomag.de/nr-5-2019/

 

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