Buchauszug Hajo Schumacher: „Männerspagat. Wie wir mit Offenheit, Respekt und Leidenschaft die alten Rollen überwinden“

Buchauszug aus Hajo Schumachers „Männerspagat: Wie wir mit Offenheit, Respekt und Leidenschaft die alten Rollen überwinden.“ 

 

Hajo Schumacher (Foto: Anatol Kotte)

 

 

 

Willkommen im Dämonen-Zoo

Geht ja gut los. Ich fühle mich wie vor einer Selbsterfahrungsgruppe, eher noch wie bei einem Verhör: ich und meine Männlichkeit. Meine Männlichkeit und ich. Ich muss Verlegenheiten unterdrücken. Ich höre Frauenlachen. Warum kommt mir der
Begriff »Männlichkeit« so albern vor? Weil ich vermutlich gar nicht weiß, was das ist.
Welche Tugend ist typisch maskulin? Ist Mut männlich? Fürsorge weiblich? Was ist mit Treue, Ehrlichkeit, Ausdauer? Und ihren hässlichen Geschwistern wie Misstrauen, Neid,
Kälte, Feigheit? Ich zucke immer zusammen, sobald Frauen ein Wert zugemessen wird, den ich auch gern auf mich bezogen hätte. Soziale Intelligenz? Wieso ist das jetzt weiblich? Ich kann auch telefonieren. Und warum ist Klarheit männlich? Ich bin nie klar, jedenfalls nicht oft.

 

Nächste Frage: Woher stammt mein Konzept von Männlichkeit, das darüber entscheidet, welche Tugend ich für maskulin halte? Klar, von meinem Vater, meinem großen Bruder, aus Schule und Sportverein, aus Film und Fernsehen, von Willy Brandt und Jürgen Hingsen, aus der abendländischen Kultur und vielen Jahrhunderten Patriarchat.

 

Aber wie definiere ich meine männliche Identität? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht so genau. Eine identitätsstiftende Rolle ist sicher die Vaterschaft, auch wenn der Staat manche Versorgeraspekte übernommen hat. Der aggressive Typus ist
jedenfalls nicht gefragt, der ruppige Holzfäller oder, in seiner domestizierten Form, der Handwerker, der in der Werbung attraktiver ist als in der Realität. Männlichkeit, so definiert es der britische Transvestit und Künstler Grayson Perry, sei ein »Konstrukt konditionierter Emotionen für Menschen mit Penis«.

 

Und dieses Konstrukt erlebt seit einiger Zeit massive, auch widersprüchliche Veränderungen. Kraft, Härte, Wille sind aktuell als identitätsstiftende Eigenschaften verpönt. »Weichei« ist das klassische Etikett für Männer, die Schwäche zeigen.

 

Womöglich befinden wir Männer uns in einer paradoxen Lage: Je mehr wir versuchen, über Definitionen unsere Identität neu zu bestimmen, desto zuverlässiger tappen wir in die alten Fallen. Wenn wir uns nicht länger als Nullmeridian begreifen, an dem sich alle anderen Geschlechter definieren, dann erscheinen womöglich neue Spielfelder. Statt Krieger ein sanfterer Kämpfer mit neuen, sozialverträglichen Zielen, statt Machthaber besser ein verantwortungsvoller Entscheider mit mehr Rücksicht und Weitblick.

 

Die schmerzhafte Nachricht: Eine neue Identität beinhaltet zwingend das Ende des patriarchalischen Denkens. Wir Männer sind in unserer Wahrnehmung nicht länger
die Größten, sondern einige unter vielen. Die gute Nachricht: Diese Veränderung ist möglich, war vielleicht nie einfacher als jetzt. Männlichkeit ist kein Marmor. Der Soziologe würde eher von einem sozialen und damit fluiden Konstrukt sprechen, vereinbart im permanenten öffentlichen Gespräch der Multiminoritätengesellschaft, Modernisierungen ebenso wenig ausgeschlossen wie Widersprüche oder Rückfälle.

 

Ich mag mich nicht in den epischen Streit zwischen Gender-Forschern und Konservativen einmischen, ob und wie viel unveränderliche Natur im Spiel mit diesem sozialen Konstrukt wirkt. Zum Testosteron kommen wir noch, schon jetzt i verraten: Man kann mit dem Männerhormon einiges erklären, aber nichts rechtfertigen. Zumal die Forschung ständig neue Eigenschaften findet. Ähnlich verhält es sich mit dem Gen-Apparat. Die vermeintlich seit 100 000 Jahren weitgehend  unveränderte DNA erweist sich als Dauerbaustelle, immer in Bewegung, nie fertig.

 

Jüngste epigenetische Studien weisen darauf hin, dass sich Traumata, Sucht, Stress, Angst relativ schnell im genetischen Code abbilden, aber auch wieder verschwinden können. Die DNA scheint über ein Gedächtnis zu verfügen. Nicht entweder Umwelt oder Natur prägen Mensch und Mann, sondern sowohl Umwelt als auch Natur, in einem dauernden Wechselspiel. Ein Baby trägt offenbar schon die seelischen Verletzungen seiner Vorfahren in sich, die in seinem Leben verstärkt oder geheilt werden können. Die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs sind gerade mal ein, zwei, drei Generationen, der Dreißigjährige Krieg etwa fünfzehn Generationen alt. Bilden sich die Gräuel tatsächlich im Erbgut ab und werden weitergegeben, dann trägt nahezu jeder von uns noch Reste von Kriegstraumata in sich, überlagert von zahllosen weiteren Schichten aus Vergangenheit und Gegenwart.

 

Spannende Einblicke in die Unterwelt geben die sogenannten Trigger, gleichsam Piekser, die das Unterbewusstsein im Inneren anregen und uns Dinge fühlen, sagen, tun lassen, ohne dass wir genau wissen, warum. Warum zum Beispiel ist es mir unangenehm, wenn meine Söhne weinen?

 

Ich weiß es nicht. Jeden Tränentropfen beziehe ich auf mich. Heulen empfinde ich als manifestierte Schwäche und Vorwurf zugleich, da kann ich noch so mitfühlend drumherumreden. Weint meine Frau, stehe ich hilflos daneben und fühle mich schlecht. Bestraft. Schuld. Weinen ist unfair.

 

Männer dürfen das nur in Ausnahmefällen, wenn sie ein Endspiel verloren haben oder den Job, wie Gerhard Schröder, der sich beim finalen Zapfenstreich die Augenwinkel
wischte. Sinatras My Way ist ein sicherer Weg zur Emotion.

 

Wie das Weinen, so ist mir das ganze Männlichkeitsgegründel unheimlich. Gefühle nehme ich wahr, aber ungern lange. Wovor habe ich Angst? Wie mächtig sind Schuld und Scham, und woher stammen sie? Warum hat es so lange gedauert, bis ich mir erlaubt habe, meine Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern? Und woher rührt diese Panik, Erwartungen nicht erfüllen zu können? Schuld, Scham, Versagensangst – der dunkle Seelen-Dreiklang des Mannes, den wir tapfer zu ignorieren versuchen. Doch immer wieder stimulieren Trigger diese Reizpunkte. Manchmal genügt ein
Satzanfang wie »Deine Mutter …«.

 

Trigger sind mächtig. Sie lösen Reaktionen aus, meist unbewusst. Das Bild einer Spinne genügt, um bei Arachnophobikern einen Panikschub zu verursachen. Der Geruch von Kohlrouladen in einem fremden Treppenhaus kann Ekel oder spontane Glücksgefühle hervorrufen. Trigger sind immer gut als Filmgags. Im Jux-Klassiker Tote tragen keine Karos dreht Steve Martin durch, sobald er das Wort »Putzfrau«
hört.

 

Wer seine Trigger verdrängt, gibt ihnen Steuerungsmacht. Wer seine Trigger kennenlernen will, kommt nicht umhin, seine düsteren Seiten anzuschauen und zu erforschen, woher manch unerklärlicher Wutausbruch, manches reflexartige
Eingeschnapptsein stammt. Um den liebevoll-bestimmten Umgang mit Triggern kümmern wir uns im letzten Teil. Ich habe meinen Triggern viel zu lange freien Lauf gelassen, weil ich sie ignoriert habe. Vor dem Blick nach innen habe ich mich immer gefürchtet. Mein Zuhause war das Außen. Dann rumorte es lauter. Ich stellte fest, dass sich da in mir nicht nur tektonische Platten verschieben, sondern auch
merkwürdige Wesen unterwegs sind, gute und böse. Das, was ich für ein solides Ich gehalten habe, war kein Fels, sondern ein Knäuel von Dämonen, das den guten Jungen in mir – ja, den gibt es – permanent hin- und herzerrt. Dämonen sind Viecher, die mir unentwegt meine Glaubenssätze in die Ohren brüllen: Du musst alles planen! Ich bin zu langsam. Du musst zu allem eine Meinung haben! Ich kann das nicht!

 

Denk an deine Altersvorsorge! Dein Vater hätte dir das nicht verziehen! Die Dämonenjagd ist Kerngeschäft jedes Therapeuten, spätestens in der Burn-out-Klinik. Die einfache Frage lautet: Welcher Satz, etwa aus der Kindheit, treibt uns unterbewusst
über alle Grenzen von Vernunft und Gesundheit?

 

Meine Dämonen tragen die Fratzen von Menschen oder Typen, die einst einen Glaubenssatz predigten, der bis heute in mir nachklingt: Jungen weinen nicht! Du musst ein guter Versorger sein! Du darfst kein Spießer werden! Du musst erfolgreich sein! Du darfst als Liebhaber nicht versagen! Du musst fleißig sein! Du darfst nicht stöhnen! Du musst topfit sein! Du darfst keine Schwäche zeigen!
Die Dämonen steigen auf aus den Nebelschichten der Seelenlandschaft, mal ganz sanft, mal unerwartet heftig, manche wispern nur ganz kurz, andere röhren dauerhaft. Zwei Grundmodelle sind erkennbar: Von links kommen die Verbots-Dämonen (»Du darfst nicht«), von rechts die Befehls-Dämonen (»Du musst«). Dazwischen liegt mein Spielraum. Der soll jetzt größer werden.

 

Jeder Mensch hat seine persönliche Kollektion von Glaubenssätzen und damit seinen individuellen Dämonen-Zoo, der ein ganz eigenes Stressprogramm schafft. Denn Glaubenssätze sind Vorschriften, Verbote, Panikmache. Sie erzeugen immer Spannung zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit. Glaubenssätze zwingen zu Spagaten, immer wieder, manchmal gleichzeitig. In der Männerseele ist dauernd Turnfest. Das tut auf Dauer weh.

 

Lange Jahre habe ich die Dämonenmacht nicht wahrhaben wollen, ihre Kommandos, das meckernde Lachen. Bin ich ein freier Mann, unabhängig wie in der Bierwerbung?
Ausgeglichen wie in der Reklame für Balance-Duschgel? Bullshit. Ich bin Sklave widersprechender Energien, von »Ich will« bis »Du musst«. Stabile Mitte? Innere Ruhe? Eher ist es ein hektisches Hin- und Herrennen auf einer Wippe, nur ein hohes Tempo hält mühsam das Gleichgewicht. Entspannt ist das nicht.

 

Was nach außen ruhig erscheint, ist eine innere Hochgeschwindigkeitsschlacht
zwischen aggressiven Dämonen und heroischen Abwehrmanövern. Männermythos gegen Männeralltag, Verehren gegen Verachten, asketisch gegen dauerbreit,
Schweigen gegen Grölen. Immer ist es zu viel oder zu wenig. Ich weiß das eine, tue das andere. Männer können keine Mitte. Ich bin stolz auf diesen Satz, denn er klingt
so schön heroisch: Männer können keine Mitte. Womit wir bei einem zentralen Merkmal jedes Mannes wären – seinem Heldenfimmel. Und der gebiert solche fundamentalen Glaubenssätze.

 

Hajo Schumacher: „Männerspagat: Wie wir mit Offenheit, Respekt und Leidenschaft die alten Rollen überwinden“ Eichborn Verlag, 256 Seiten,20,– Euro 

 

 

Der Superman-Spagat

Zwischen Heldenfimmel und Alltag

Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es eine umzäunte Brache mit Bäumen und Sträuchern. Natürlich wussten wir Jungs, wo der Zaun ein Loch hatte. Inspiriert von meinen ersten Tarzanfilmen hatte ich ein Stück dünne, glatte Wäscheleine an einen
Ast geknotet. Ich wollte auch an der Liane schwingen. Leider rutschte ich ab.

 

Heldentum ist oft schmerzhaft. Als Kind fieberte ich mit Robin Hood und Sir Francis Drake, mit Winnetou, Old Shatterhand und natürlich Tarzan. Von Lianen in Tümpel springen, fechten, für die Schwachen, gegen die Widerlinge, echte Freundschaft und immer irgendwo ein schmachtendes Fräulein – so wollte ich leben. Die Realität,
eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung für einen Vierpersonen-Haushalt in einem Eisenbahner-Mietshaus, peitschte die Fantasie nur zu bunteren Blüten. Jeder Stock wurde zum Schwert, mein rotes Fahrrad (Rixe, 24er) zum Pferd, die Nachbarjungs zu Schergen des Sheriffs von Nottingham. Wie viele unschuldige Äste habe ich mit Paketschnur in einen edlen Bogen verwandeln wollen?

 

Eine Weile habe ich den Tarzanruf zu imitieren versucht, bin damit aber ebenso kläglich gescheitert wie später mit meinem geheimen Zigarrentraining. Mit einer lässig in der
Backentasche getragenen Mohrrübe versuchte ich, wie Clint Eastwood zu reden und hin und wieder auszuspucken. Es sah leider nicht cool, sondern sehr albern aus, wie ich auf mein Karohemd sabberte. Meine Bewunderung für Django wuchs ins Unendliche. Anbeten und Scheitern – Männer können keine Mitte, wie wir wissen.
Mein Heldenfimmel war mir peinlich, weil ich natürlich davon ausging, dass ich als Einziger diese Macke hatte. Ich konnte ja nicht wissen, dass viele Jungen diese Phase erleben.

Seit der Steinzeit gilt: Die Trends wechseln, der Berufswunsch jedes Jungen bleibt – Held. Jerry Siegel war siebzehn, als sein Vater erschossen wurde, in seinem Laden, bei einem Überfall. Ein Jahr später, Hitler hatte in Deutschland soeben die Macht übernommen, schrieb der unauffällige Highschool-Knabe Jerry die erste
Superman-Geschichte, von einem Helden, der schneller flog als die Zeit und deswegen in Zukunft und Vergangenheit wirken konnte, immer im einsamen Kampf gegen die Mächte des Bösen.

 

Der traumatisierte Knabe hatte ein männliches Mega-Ich erfunden, einen kompensatorischen Helden, der während des Zweiten Weltkriegs seine ersten großen Erfolge sammelte, weil er die Geschichte von Söhnen und Vätern, von
Heldenwelt und Tretmühle so nachvollziehbar illustriert und für unseren Alltag übersetzt hatte. Dank Superman wuchsen selbst unsere Väter zu Helden. Sie glichen zwar eher Clark Kent, dem langweiligen Schreibtischmann. Aber wir Kinder konnten uns einbilden, dass Papi sich heimlich verwandelte, wenn er im »Büro« war, in seiner »Firma«, im »Job«, im »Laden«, auf der »Baustelle« – allesamt Chiffren für Dschungel und Prärie, Stätten der Gefahr, des Kampfes, wo Leistung, Durchhalten, Überleben gefragt
war. Dieses Pendeln zwischen der tristen Welt des Clark Kent und dem aufregenden Reich Supermans, das spielte ich mit Stöcken, Wäscheleinen, Fahrrad nach. Unklar war nur, mit welcher Superheldenfähigkeit ich ausgestattet war. Kraft, Köpfchen, Charme, Witz, Ausdauer, Perfektion? Das würde sich herausstellen.

 

Der Heros, das Meta-Narrativ der Männlichkeit, ist so mächtig, dass er sogar scheinbar Unmännliches maskulin aufladen kann, universell, in allen Schichten und Kulturen. Der Marlboro-Mann etwa, Archetyp des einsamen Cowboys, brachte Männern weltweit das Rauchen von Filterzigaretten bei, was lange Zeit als weich und weiblich galt. Echte Kerle rauchten bis dahin filterlos. David Beckham fügte dem globalen Männerbild den Aspekt des Metrosexuellen hinzu, wonach es okay ist, wenn Kerle tütenweise Klamotten, Parfüm und Lifestyle-Schnickschnack shoppen. Der männliche Heldenfimmel spielt immer mit, selbst beim scheinbar harmlosen Kick im Park. Noch zehn Minuten bis zum Abpfiff, 2:2, es geht um nichts. Plötzlich vertrete ich mir in einem Hasenloch den Knöchel. Der Fuß schwillt umgehend an. Ich humple. Mein Fuß fleht: »Hör sofort auf!« Mein Kopf entgegnet: »Stell dich nicht so an, Schwachmat. Die paar Minuten wirst du ja wohl durchhalten. Die anderen denken doch, dass ich keine Puste mehr habe.«

 

Kurzer Check, ob Lebensbedrohliches vorliegt, Bruch oder Bänderriss. Fühlt sich grenzwertig an. Weiterhumpeln. Ein Mitspieler fragt, ob alles okay sei. »Geht schon«,
presse ich hervor und winke brucewillishaft ab. Ich möchte den Eindruck erwecken, dass ich alles gebe für die Mannschaft, alles. Mit Härte lässt sich mangelnde Begabung bestens ausgleichen. Einer für alle, alle für einen. Jetzt nur nicht das entscheidende Gegentor kassieren. Die anderen werden nichts sagen, aber ich weiß, was sie denken. Exakt das, was ich auch denken würde, falls jemand anders plötzlich humpelt: Weichei! Anti-Held! Es geht nicht um die Mannschaft, sondern um mein Selbstwertgefühl.

 

Knöchel? Welcher Knöchel?

Ich spüre nichts.

In meiner persönlichen Rangliste »Helden aus der Realität « liegt Boris Becker unangefochten auf Platz eins, kein Clooney, kein Einstein. Er ist der Prototyp des deutschen Babyboomer-Helden, mit siebzehn aus seinem Leimener
Durchschnittsleben herauskatapultiert, um fortan als Projektionsfläche für Männlichkeiten aller Art zu dienen. Der schmerzhafte Becker-Hecht, die riesigen glänzenden Pokale, die Frauen, die Wäschekammer, Trennungen, Peinlichkeiten,
Pleiten. Zugleich das Comeback als Trainer. Die Einsamkeit. Die Brutalität des Boulevards, die Bosheit von uns allen. Das wissende Schweigen. Die disziplinierte Coolness.

 

Was ihn im Sport erfolgreich gemacht hatte, die Finten, das Grenzentesten, Kaltblütigkeit und Risikolust, die Gewalt gegen sich selbst, waren im richtigen Leben nicht zu gebrauchen. Da waren Rücksicht, Kooperation, Vorsicht und weniger Ego gefragt, Eigenschaften, die einen Wimbledon-Sieg todsicher verhindern. Und da ist sie wieder, die Dualität zwischen Held und Welt, Kernkonflikt des Mannseins. Auf Platz zwei meiner Heldenliste – ich habe nie Anspruch auf Originalität erhoben – steht Dieter Hoeneß beim Pokalfinale von Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg 1982. Früh im Spiel ein Zusammenprall, Platzwunde, Blut auf dem Trikot, in der Pause mit zwei Stichen genäht, ohne Betäubung. Weitermachen. Die Münchner liegen 0:2 zurück.
»Da konnte ich doch nicht rausgehen«, sagte Hoeneß. Warum nicht? Das 4:2 macht er schließlich selbst, mit dem Kopf, der in einem blutdurchweichten Turban steckt.
Rang drei gehört natürlich Bastian Schweinsteiger, WMFinale 2014, der epische Cut unterm Auge.

 

Was hätte da alles passieren können. Das ist Helden doch egal. Und ich bin noch keiner Frau begegnet, die sagte, dass der Junge lieber hätte aufhören und sich schonen sollen. Mangels militärischer Idole haben wir uns auf den Sport als gesellschaftliche Heldenakademie geeinigt, wo die großen Epen von Sieg und
Niederlage immer neu geschrieben werden. Botschaft: Was uns nicht umbringt, macht uns härter.

 

Wir Männer lachen. Und meinen es todernst. Vieles von dem, was ich jeden Tag an Aufgaben bewältige, ordne ich in ein Heldenraster ein: Mit vier Einkaufstüten auf dem letzten Treppenabsatz, Plastik schneidet in Finger, Beine brennen, die letzten Stufen – das ist Die Harder. Die letzten Kilometer beim Marathon. Nachts am Steuer auf dem Weg in die Alpen, wenn die Familie schläft – der Alltag wird oft erträglich, weil
er sich unterbewusst mythologisch aufladen lässt.

 

Woher stammt diese unheimliche, universelle Macht der Heldenstory? Joseph Campbell hat schon vor siebzig Jahren eine aufregende Antwort gegeben. Campbell war Mythologe in New York, beeinflusst von dem Schweizer Psychiater C. G.Jung und dessen vier männlichen Archetypen: König, Magier, Verführer, Krieger. Campbell war ebenso fasziniert von Thomas Mann und James Joyce wie von den Sagen der amerikanischen Ureinwohner. Einem breiten Publikum wurde der Forscher erst im Jahre seines Todes bekannt. 1987 wurde die Interview-Reihe The Power of Myth gesendet, aufgezeichnet auf der Skywalker-Ranch des Star-Wars-Regisseurs
George Lucas.

 

Campbell hat Hollywood und das Kopfkino der Menschen in aller Welt womöglich stärker beeinflusst als der Gigant Lucas, Steven Spielberg oder sonst einer der Filmzauberer. Der Mythologe Campbell hat, basierend auf Joyces Gedanken vom Monomythos, den Begriff der »Heldenreise« geprägt, eine universale Dramaturgie, die immer und überall auf der Welt funktioniert. Der Dramaturg Christoph Vogler hat die Heldenreise für Hollywood übersetzt und ein Art Universalanleitung für erfolgreiche Drehbücher vorgelegt, ob Frodo, Harry Potter oder Luke Skywalker.

 

Campbell war ein ungewöhnlicher Wissenschaftler, weil er die schwer zu fassende Welt der Mythologie mit der pragmatischen Klarheit einer Forschungsfrage zusammenbrachte. Über Jahre hinweg hatte Campbell Sagen und Epen in einer globalen Metastudie gesammelt und verglichen, ob Bibel und Dreamtime der australischen Aborigines, Ilias und Wagners Ring, die Sagen der Indianer oder
die Märchen der Gebrüder Grimm. Das faszinierende Ergebnis: Alle Storys folgten einem ähnlichen Muster, ganz gleich, wo, wann und in welcher Kultur sie entstanden.

 

Die Partnerschaft von Sonne und Mond etwa findet sich in allen Teilen der Welt.
Der kühne Campbell ging noch ein paar mutige Schritte weiter: Aus den Einzelgeschichten kompilierte er eine Urstory, die vermutlich als globale kulturelle DNA in allen von uns wohnt – die sogenannte »Heldenreise«, die faszinierenderweise
für Siegfried und Obama, für Kapitalismus und Sozialismus, für Jesus und Asterix, für Ghetto und Villa, für Jim Knopf und Odysseus, für Eingeborene und Metropoliten,
für Männer und Frauen gleichermaßen funktioniert. Campbells Heldenreise hat 17 Schritte:

• Der Ruf des Abenteuers.
• Weigerung: Der Held zaudert.
• Übernatürliche Hilfe: Mentoren treten auf.
• Das Überschreiten der ersten Schwelle: Die Reise beginnt.
• Der Bauch des Walfischs: Die Probleme werden gewaltig. Dem Helden wird das Ausmaß der Aufgabe bewusst.
• Der Weg der Prüfungen: Eine Reihe von Problemen ist zu bewältigen, zum Beispiel als Kampf mit eigenen Widerständen oder Abschied von Illusionen.
• Die Begegnung mit der Göttin: Dem Helden wird die Macht des anderen Geschlechts klar.
• Die Frau als Versuchung: Held oder Lebemann?
• Versöhnung mit dem Vater: Dem Helden wird sein Erbe, seine Pflicht bewusst.
• Apotheose: Dem Helden wird seine edle Herkunft bewusst.
• Die endgültige Segnung: Ein Schatz wird erobert, der die  Alltagswelt des Helden rettet.
• Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert.
• Die magische Flucht: Der Held wird zur Rückkehr gezwungen, oft als Rettung vor negativen Kräften.
• Rettung von außen: Eine gute Tat oder ein empathischer Gedanke des Hinwegs wird zur Rettung auf dem Rückweg.
• Rückkehr über die Schwelle: Der Held trifft daheim auf Unverständnis und muss das Eroberte in den Alltag integrieren.
• Herr der zwei Welten: Der Held vereint Neues und Alltagswissen und integriert damit seine innere mit der Außenwelt.
• Freiheit zum Leben: Der Held hat Wachstum und Freiheit gebracht und lässt die Welt daran teilhaben.

 

Warum, fragt die Feministin des 21. Jahrhunderts zu Recht, sind die meisten dieser Erzählungen eigentlich männlich besetzt? Eine mögliche Erklärung lautet, dass die Heldenreise auf dem archaischen Motiv der Initiation aufbaut, jener Transformation vom Jungen zum Mann, vom Kind zum Krieger, zum Jäger, zum vollwertigen Sammesmitglied. Heldsein beinhaltet oft das Abgrenzen zum Weiblich-Mütterlichen, das Verlassen des Nestes.

 

Während die Frau ihr Erwachsenwerden biologisch eindeutig durch Menstruation, Empfängnis, Schwangerschaft, Gebären erleben kann, fehlen dem Jungen derlei physisch und psychisch intensive Erlebnisse. Um den Knaben zum Mann zu machen, wird die Transformation zum Erwachsenen in vielen Kulturen in kunstvollen Ritualen nachgespielt.

Diese Initiationsriten bringen oft reale Entbehrungen, Prüfungen und Schmerzen mit sich – ein Angsttunnel, der dem Knaben klarmacht: Mannsein ist vor allem Panik-
und Schmerz-Management. Bei den Samburu in Ostafrika werden Jungen ohne Betäubung beschnitten. Wer zuckt, schreit, weint, wird nicht in die Gemeinschaft der »Männer« aufgenommen. Gefühlsverleugnung ist überall auf der Welt ein Merkmal des Männlichen. Und immer wieder beliebtes Motiv in Literatur und Film.

 

Dem jungen Mann wird beigebracht, dass er seine Emotionen und Bedürfnisse besiegen kann, wenn er nur die Zähne zusammenbeißt. Die Selbstkontrolle ist kein Selbstzweck, sondern eine Priorisierungsübung: Der Krieger ist in der Lage, den altruistischen Dienst an der Gemeinschaft über sein Ego zu stellen. In zahlreichen Männergruppen wird das Motiv der Initiation nachgeholt, gerade so, als ob es ein Bedürfnis gibt, diesen mythologischen Schritt, egal in welchem Alter, nachzuholen. Gehört eine wie auch immer geartete Initiation unabdingbar zu einer gesunden, erwachsenen Männlichkeit? Auf die Initiation als rituelle Kontrolle ttosteronbegünstigter
Ausraster gehe ich in Kapitel 3 näher ein.

 

Die Heldenreise ist eine universelle Erzählung, die in Frauen wie Männern vermutlich gleichermaßen angelegt ist. Als Symbol des Erwachsenwerdens spricht sie aber womöglich vorwiegend die männliche Seele an: Der Mann als labiler Akteur in Grenzbereichen der Weltrettung, die Frau als staunende, zweifelnde, amüsierte Rezensentin.

 

Kühne Vermutung: Ist diese jahrtausendealte kollektive Sage von der Heldenreise womöglich so mächtig, dass sie sich in unsere DNA geschlichen hat? Hat der Mann den Heroen- Fimmel in den Genen? Was zunächst bizarr klingt, wird, mit aller Vorsicht, von aktuellen Forschungsarbeiten aus der Epigenetik gestützt. Stress, Traumata, vererbte Denkmuster, etwa eine Heldenerzählung, können sich im Blut, im Hirn, in der DNA abbilden, wie Peter Spork in seinem Bestseller Gesundheit ist kein Zufall: Wie das Leben unsere Gene prägt – Die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik ausführlich erklärt.

 

Fragen über Fragen: Ist die Heldenreise ein geheimes Programm, dem Männer weltweit folgen? Ist diese Metaerzählung vom Heldenmann modernisierbar, trivialisierbar, adaptierbar für eine Zukunft, die mehrdimensionalere Helden braucht als Superman oder Uwe Seeler? Und wie toxisch ist der männliche Heldenfimmel, der sich auf Lebensqualität und -erwartung nicht immer positiv auswirkt? In jeder Heldenfigur ist das Tragische eingebaut. Eines Tages kommt der Tag des Falls. Der Held versagt. Sein Mythos stirbt.

 

Diese Dualität von Idolisieren und Entzaubern haben viele Männer in der eigenen Familie erlebt, bei Vätern und Brüdern oder bei medialen Figuren: Superschauspieler Helmut Berger, dem alles egal war. Supermusiker Michael Jackson, der den Kopf verlor. Tarzan Johnny Weissmüller, der mit den Nerven runter war. Old Shatterhand Lex Barker, der einen Herzanfall erlitt und in einer Pfütze endete. Schließlich Superman Christopher Reeve, der seit einem Sturz vom Pferd einen Rollstuhl brauchte. Scott F. Fitzgerald sagt: »Zeig mir einen Helden, und ich schreibe dir eine Tragödie.«

 

Nichts ist grausamer, als den eigenen Heldenvater zu erleben, wenn er besoffen heimkommt, sich den Frust von der Seele brüllt, still weint oder einfach nur den undenkbaren Satz sagt: »Ich kann nicht mehr.« Der Heranwachsende spürt, dass mit den üblichen maskulinen Parolen – »Wird schon!«, »Kopf hoch!«, »Geht vorbei!« – nichts auszurichten ist.

 

Mein Vater kam nie betrunken nach Hause, gleichwohl erlebte ich eine dramatische Entzauberung – seinen überraschenden Tod. Krebs. Er war kein Premium-Held. Aber Sterben, einfach so, das war auch für mittlere Helden undenkbar. Ich bin sicher, dass er sich noch auf den allerletzten Metern heftige Vorwürfe gemacht hat, weil er glaubte, versagt zu haben, als Versorger, als Vater, als Ehemann, als Vorbild, als Kämpfer.
Eiserne Männerregel: Den Entzauberungsmoment nie ansprechen, sondern tief vergraben, auch wenn exakt aus diesem Loch schon bald der nächste Dämon kriechen wird.

 

Aber der Erhalt der Legende geht vor. Schließlich ist da die Hoffnung aufs Comeback. Hat bei Rocky und dem Terminator ja auch geklappt. Im Heldenfimmel offenbart sich ein überaus schmerzhafter Männerspagat, der unauflösliche Konflikt zwischen den
übermäßigen Erwartungen, mindestens die Welt zu retten, und den Schattenseiten wie Schwäche, Angst, Scham, Einsamkeit. Breaking Bad und Magnolia, Schicksale wie der aussichtslose Kampf von »The Greatest« Muhammad Ali gegen Parkinson oder die inneren Konflikte des Tatort-Kommissars Faber offenbaren das ewige Dilemma, vom Motiv des Alleinseins zusätzlich dramatisiert.

 

Gibt es einen heroischeren Alltagssatz als: »Das kriege ich allein hin«? Und wie oft ist’s gelogen? Wer will schon wirklich lange allein sein? Spontane Panik. Kennt nicht jeder diese Figur des leicht teigigen Mannes Mitte dreißig, Hoodie, Zopf, der lange, technische Vorträge halten, Inhaltsangaben zu jeder TV-Serie liefern kann und allein wohnt? Leise höhnen die Dämonen: Bald lebst du auch so. Das Drama des einsamen
Kämpfers, gescheitert am Erwartungsdruck, wird uns noch in zahllosen Spielarten begegnen. Männer mögen das Thema nicht. Es gilt der Imperativ des kategorischen Verdrängens. Lieber ein paar Witze machen. Rasch das Thema wechseln. Und Respekt für Gunther Sachs äußern, der die Cojones hatte, sich einen Pistolenlauf an den Kopf zu halten. Schwäche zeigen, das bringt doch nichts. In der Schule habe ich den ersten Selbstmord eines Jungen erlebt, in der Uni den zweiten, im Freundeskreis unlängst den dritten.

 

Einen Beitrag leistet womöglich dieser kollektive Männerfimmel vom stillen Dulden. »Nur ein Kratzer«, sagt jeder angeschossene Mann, auch wenn er sich soeben einen Steckschuss in die Herzkammer eingefangen hat. Schweigen unter Folter, eiserne Knasthärte, den bewusstlosen Kameraden auf der Schulter durch die Sahara schleppen – und niemals aufgeben. Wird schon. Der Mythos vom Durchhalter begünstigt die Selbstvernachlässigung. Wer um letzte Dinge kämpft, hat keine Bedürfnisse. Frauen gehen zum Arzt, Männer sterben.Was ist das Leben schon gegen den Lohn des Helden, ewigen Ruhm? Wir erzählen uns die Geschichten des Polarforschers
Ernest Shackleton, wie er seine Mannschaft durchbrachte, nachdem das Schiff im Packeis verloren war. 500 See- und Eistage hatten die Männer schließlich hinter sich, in
denen der selbstlose Kapitän Shackleton seine Handschuhe verliehen hatte, was ihn ein paar Finger kostete. Oder Admiral Nelson, der sich in der ruhmreichen Seeschlacht bei Trafalgar den gegnerischen Scharfschützen derart ungeschützt darbot, als wollte er mit dem Tod ewigen Ruhm erlangen: gefallen im Sieg gegen Napoleon, in jenem Gefecht, dessen Strategie er ausklügelte und das das britische Jahrhundert
begründete. Geschichte wird mit dem Blut von Helden geschrieben.

 

Das Idealisieren von Tod und Leid ist zentrale Säule des Heldenfimmels. Sich bei der Tour de France zu Tode radeln wie Tom Simpson? Im Himalaya erfrieren? Aus dem Weltraum zurück auf die Erde springen? »Der Mann behandelt seinen Körper wie eine Flachzange«, sagt Ralf Bönt, Autor von Das entehrte Geschlecht. Wir wiederholen bis heute Evergreens wie »Schmerz ist, wenn Schwäche den Körper verlässt« und
bewundern Marathonläufer, Extrembergsteiger, Weltumsegler, Start-up-Millionäre und Das-schaffe-ich-schon-Rackerer.

 

Wer wagt, auf seinen meuternden Körper zu hören, ist ein Weichei. Fünfmal mehr Jungen als Mädchen sterben an Diabetes, weil das Prüfen als uncool gilt. Leben Männer auch deswegen etwa fünf Jahre kürzer als Frauen? Warum verschwindet in Kibbuz und Kloster der Unterschied der Lebenserwartungen?
Draußen wispern die Dämonen: Doomsday! Abrechnung! Genug ist genug! »Es kommt der Tag, da will die Säge sägen« – völlig hohl, aber urmännlich, dieses Motto aus Jede
Menge Kohle, dem Ruhrpott-Epos von 1981. Die Säge will sägen – was genau wollen uns diese Worte sagen? Muss getan werden, was getan werden muss? Ein Mann, ein Wort? Heldentexte legitimieren jeden Unsinn, Sägen, Foltern, Vernichten. Einer muss es ja tun. Die Mission. Alternativlos. Kann uns Normmännern natürlich nicht passieren, oder?

 

Schon mal eine Grillwurst mit den Fingern vom Rost geangelt, während die Partnerin die Zange reichte? Klar. Bierflasche mit ungewöhnlichen Methoden geöffnet? Logisch. Trotz unklaren Wetters losgewandert in die Berge, unvernünftig schnell nachts über die Landstraße gebrettert? Eben.

 

Das „British Medical Journal“ fragt, warum vor allem Männer völlig irrsinnige Risiken eingehen, auf Autobahnmittelstreifen balancieren oder an steilen Klippen turnen. Ist es die Sucht nach Anerkennung oder Prahlerei mit der Furchtlosigkeit? Auch. Aber zentrale Triebfeder ist am Ende womöglich der Heldenfimmel, der am einfachsten als Gegenteil von Vernunft zu erklären ist. Unter Wissenschaftlern kursiert eine scherzhafte Erklärung, die Male Idiot Theory (MIT), wie der legendäre Darwin Award ist sie Menschen gewidmet, die auf absolut hirnrissige Art ums Leben kommen. Überwiegend
Männer natürlich.

 

Es gilt das Paradox: Vieles von dem, was den Mann zum Mann macht, bringt ihn auch um. »Mannsein«, so Walter Hollstein, »ist hochriskant.« Ob die Akteure im Darknet,
ob Terroristen, Hardcore-Gamer, Hooligans, Soldaten, G20-Steineschmeißer, Sportheroen – überwiegend Männergeschichten. Und sie werden immer und überall weitererzählt. »Mädchen sind verletzlich, Jungs sind stark«, ergab
2017 eine Studie der Johns Hopkins University, erhoben in fünfzehn Ländern, in mehreren afrikanischen Nationen, in China, Indien, USA, Ägypten, Schottland und Belgien. Die Legende vom harten Kerl werde in allen Kulturen und sozialen Schichten wiederholt, von Geschwistern und Eltern, Mitschülern und Lehrern, Trainern und Geistlichen, sagt Studienleiter Robert Blum. Normabweichler wiederum würden bestraft. Männer verstehen oft erst im Sterben, dass sie womöglich den falschen Heldenstorys hinterhergelaufen sind.

 

Die Heldenerzählung, der Kampf bis zum Letzten, all diese archaischen Motive haben in der »postheroischen Gesellschaft «, wie der Historiker Herfried Münkler sie nennt,
ihren Glanz verloren. Der Philosoph Christoph Türcke betont die Vorbildfunktion des Heroen, beobachtet aber gleichzeitig, wie der Heldenkult von kriminellen Männerbünden gekapert und missbraucht wird. Es ist Irrsinn, mit einem Flugzeug in ein Hochhaus zu fliegen, aber: Die Tat erfordert eine gehörige Portion Mut. Sich mit einer Knarre in eine Menschenmenge zu stellen, um sich zu ballern und ganz sicher zu wissen, dass man diesen Ort nicht lebend verlassen wird, ist zu verachten, aber gewiss
nicht als »feige« zu bezeichnen.

 

Islamisten und andere Attentäter fordern die moderne Gesellschaft an einer empfindlichen Stelle heraus. Wer würde sich opfern für die Idee von Pluralität und Freiheit? Heldentum, das bedeutet nichts anderes als Opferbereitschaft. »Herakles
« heißt: »Der von Hera zum Opfer Berufene«. Insofern wird die Frage direkt an uns Männer gestellt. Und negativ beantwortet: Frühe Tode, auf welchem Schlachtfeld auch immer, werden nicht mehr so gern gesehen.
Welche Heldenerzählungen taugen dem modernen Mann als Vorbild? Das mutige Eingreifen in der S-Bahn? Den Jahresurlaub für ein Aufforstungsprojekt im Regenwald drangeben? Der Familie zuliebe einen hochdotierten Job sausen lassen? Hier entstehen die alltagstauglichen Heldenerzählungen der Zukunft.

 

Schön, wenn wir unseren Kindern Programmieren und Querflöte beibiegen. Was ist mit dem Lernen am Modell, den Vorbildern außerhalb des YouTube-Kosmos? Wo sind die,
die für eine Überzeugung einstehen, die Zivilcourage zeigen, die Einbußen oder Nachteile in Kauf nehmen, um der guten Sache zu dienen? Nicht Götzen zum hirnlosen Anbeten, sondern Bewahrer des Guten. Da bieten wir unseren Söhnen bestenfalls die Idole der Computerspielwelt an. Oder Fußballer, die mit der Volljährigkeit schon Millionäre sind. Und was macht der Heldenpapa? Guckt Sportschau. Den dürfen wir
jetzt nicht stören.

 

An dieser Stelle eine kleine Aufgabe: An einem der nächsten Wochenenden, wenn wieder verschärfter Hobbydienst ansteht, einfach die vielen wichtigen Verpflichtungen
sein lassen, sogar den Fußball. Stattdessen nichts weiter als auf einem Stück Papier die drei größten Ängste notieren und dazu jeweils den einen Satz, der mit der Angst immer und immer wieder durch den Kopf schießt. Mein langjähriger Favorit: »Ich habe Angst, meine Familie nicht ernähren zu können.«

 

Und sonst? Nichts weiter. Nur die drei Ängste, ganz in Ruhe. Und sacken lassen, vielleicht eine Runde spazieren gehen und hinterher spüren, was los ist. Wenn es stimmt, dass die Schatten umso mächtiger sind, je unbekannter und verdrängter
sie wirken dürfen, dann könnte diese kleine Übung einen guten Schritt Richtung Erleichterung bedeuten.

 

Der Sehnsuchts-Spagat Zwischen Pflicht und ungelebtem Leben Wenn ich mir den Tod vorstelle, drängen große Bilder in meinen Kopf: der einsame Kampf in den letzten Stunden … ein Geheimcode, der mit dem letzten Atemzug verraten wird … ein Holzboot mit der Leiche gleitet auf den See. Männer sterben nicht einfach so, sondern dramatisch: durch eine Kugel aus dem Hinterhalt, im heroischen Kampf, immer zu früh. Und sofort kommt die Frage auf: Ob ich wohl einen stolzen Abgang hinlege?
Immer, wenn ein Freund stirbt, dann stelle ich mir vor, ich sei auch gerade gestorben. Interessante Fragen, die da hochkommen: Was werden meine Nächsten auf der Trauerfeier über mich sagen? »Er war ein echter Kerl, ein ganzer Mann, mutig,
entschlossen, ein Kämpfer für das Gute und Wahre«? Bestimmt nicht. Sagt jemand die Wahrheit, vom Schisser und Anpasser? Von einem Mann, der nie so ganz richtig Mann
war, sondern viel zu oft ein Erwartungserfüllungsdienstleister?

 

Bitte nicht. Neulich habe ich tatsächlich fantasiert, ob es Rabatt für die Todesanzeige gibt, weil ich doch so lange bei der Tageszeitung gearbeitet habe. Geld, Kosten, Ausgaben – das ewige Thema des Versorgers. Männlich? Ich habe Angst, dass die ganze, brutale Wahrheit ans Licht gezerrt wird über einen überforderten Egomanen, der Antworten zu haben vorgibt, obgleich er nicht mal die richtigen Fragen stellt. Einer, der sich vom Schiss um den eigenen Job, die Kinder und die Beziehung zerfressen lässt. Ich will ein Pferd und die Prärie. Wo ist der Kerl von früher geblieben? War er je da?

 

Wie wird wohl meine letzte Bilanz aussehen, kurz vor dem Sensenhieb, wenn es endlich ehrlich zugeht? Was werde ich bereuen? Den Sicherheitswahn. Das unerfüllte schwarze Loch der Sehnsucht. Das schlechte Gewissen, diese Welt nicht ein wenig besser gemacht zu haben. Die lebenslange Furcht davor, einfach mein Ding zu machen.

 

Mein Ding, mein Ding … was soll das überhaupt sein? Bauernhof mit Schnurtelefon, Slum-Doktor, Tantra in Goa, Globalisierungskritiker, mit dem Rad um die Welt? Wo
kommen wir denn da hin? Wir kennen doch die Geschichten, wie solche Flausen enden. Jetzt mal hübsch auf dem Boden bleiben. Lief doch gut, die ersten fünfzig Jahre. Wohlgeratene Söhne, eine kluge, schöne, geduldige Frau, die ein Vierteljahrhundert mit mir aushält, ein Auskommen, Lebensversicherung und neulich Prostata-Vorsorge ohne Auffälligkeiten. Ich müsste dankbar sein, sehr dankbar. Bin ich aber nicht. Stattdessen dieser hartnäckige Reflex – schlechtes Gewissen. »Du bist undankbar!« Das warf mir mein Vater zum ersten Mal vor, als Adenauer gerade abgetreten war. Ich bin randvoll
mit diesen Sätzen, wie ich zu sein, was ich zu denken, zu fühlen, zu machen habe. Tu das! Lass das! Das ist falsch! Das geht nicht! Und morgen das Gegenteil. Wer bin ich? Was bin ich? Überall Widersprüche und Apokalypsen. Wie zwanzig,dreißig, vierzig weitere Jahre durchhalten trotz wachsender Erschöpfung von Körper, Geist und Seele?

 

In kurzer Zeit haben sich drei Männer aus meinen Leben verabschiedet, die mir wichtig waren, jeder auf seine Art. Lars starb mit fünfzig völlig überraschend auf dem OP-Tisch; eine unentdeckte Herzgeschichte. Markus, knapp sechzig, verlor im Kampf gegen den Krebs. Die Strahlenkanone hatte seinen Körper zu einem Häuflein zusammengeschossen, sein Herz wuchs zugleich ins Gigantische. Ein Löwe. Georg schließlich, über achtzig, hatte sich in das unheimliche Land Demenz verabschiedet. Er war für sich, aber durchaus fröhlich.

 

Diese drei repräsentierten die bunte Welt des Mannseins: schwul/hetero, Ost/West, Kriegszeuge/Wirtschaftswunderkind, Familie/Kinder, angestellt/freiberuflich, Feierbiest/Bücherwurm, Silberne Hochzeit/Single, laut/leise, polyamor/monogam (angeblich), Bausparer/Hipster, muskulös/leptosom, geschieden/verwitwet. Soziodemografisch nahezu alles dabei. Mit allen dreien habe ich Abschiede, Ängste, letzte Einsichten erlebt und oft auch beredet. Und alle drei haben mich bestätigt, mich auf die Suche nach dem Mann in mir zu begeben. Denn sie haben einen anstrengenden Spagat gelebt: Alle wussten, zumindest intuitiv, was ihnen zu einem erfüllteren Männerleben fehlte. Aber sie haben dieses Wissen ignoriert.
Das soll mir nicht passieren. So unterschiedlich ihre Leben verlaufen und ihre Werte
ausgeprägt waren, so ähnlich war ihr Verhalten auf den letzten Metern: Bei allen fiel die Maske. Keine Status-Show mehr, weder große Klappe noch beredtes Schweigen, kein Wort über Autos, Fußball, ETFs, all die Dinge, die Männer angeblich brauchen. Alle drei zeigten sich mutig in all ihrer Verletzlichkeit.

 

Sie weinten, hatten Angst, suchten Klärung, Nähe, Vergebung. Sie hatten ihre Rüstungen abgelegt. Sie redeten und zeigten Gefühle, was Männer angeblich ja nie tun. Sie ließen den Druck erahnen, den sie ihr Leben lang verspürt hatten. Sie wagten es, ihr maskiertes Leben zu offenbaren, sie gaben zu, dass sie viel zu oft gegen ihre Gefühle, ihre Bedürfnisse gelebt und stattdessen Erwartungen erfüllt, Rollen gespielt hatten: Steh deinen Mann!

Sie berichteten von einer lebenslänglichen Einsamkeit, von der Scham für Gefühle, die sie für Schwäche hielten, von der unspezifischen Traurigkeit, der Wut, der Verzweiflung,
diesem männlichen Giftcocktail, der mir so vertraut war, den wir aber von zerschrammten Kinderbeinen an gelernt hatten zu verdrängen und zu verschleiern. Auf den letzten Metern hatten Georg, Markus und Lars den Zugang zu ihrer inneren Welt gefunden, die ihnen ihr Leben lang verborgen geblieben war: eine Welt ohne Maskerade. Mit meiner Neigung zum Drama bildete ich mir ein, ein Erbe, ein Vermächtnis, einen Auftrag zu erhalten, der lautete: Warte nicht so lange wie wir. Guck dir deine Giftfässer an, du hast doch auch genug davon im Seelenkeller. Lass die Show und hör auf deine wahren Bedürfnisse.

 

Der zunehmend demente Georg hatte in der großen Alzheimer-Lotterie ein vergleichsweise glückliches Los erwischt, eine freundliche Form der Krankheit. Sein Leben lang war Georg eher grummelig und introvertiert gewesen, sehr ernst,
bescheiden, freudlos-protestantisch, gerade so, als wollte er sich selbst bestrafen, für was auch immer. Georg entstammte einer bildungsbürgerlichen Familie mit Professoren und anderen Gelehrten, die ihm immense Traditionspflichten aufgeladen
hatte. Doch traumatische Kriegserlebnisse als Junge, die nie bearbeitet worden waren, hatten ihn verschüchtert und verkapselt; sein Studium hatte er nicht beendet. Georg
lebte unter dem unmenschlichen Druck, den Erwartungen seiner Dynastie nicht gerecht geworden zu sein.

 

Die Lockerheit von Achtundsechzig war spurlos an ihm vorübergegangen. Georg war zeitlebens verklemmt und verstockt, fand immer einen Grund, sich zurückzuziehen oder
zu schämen, vor allem für Vergnügungen. Sport, Sonnenbaden, Konzerte, Feiern – alles Emotionale oder gar Erotische war ihm unheimlich, Freude suspekt. Er hatte sie nicht verdient, fand er.

 

Nun plötzlich, als die Krankheit die Diktatur der Dämonen niedergerungen hatte, entdeckte er die Freundschaft zu sich, seinem Körper, seinen Bedürfnissen. Wie befreit sang und lachte er, zog sich plötzlich aus, spielte bisweilen hemmungslos  nicht mehr. Wer vermag zu beurteilen, welcher Georg der glücklichere, der authentischere, der männlichere gewesen ist?

 

Markus war einer dieser Männer, die ich seit jeher bewunderte. Er war ein Künstler durch und durch, keiner dieser kreativen Arroganzlinge, sondern lebenstüchtiger Ausprobierer. Ein Stück Holz, eine Kamera, ein Stift, ein Instrument, eine Tastatur – was immer er vorfand, Markus machte etwas Schönes, Schlaues, Dauerhaftes daraus. Er hatte eine tolle Frau, tolle Kinder, es herrschte eine prima Atmosphäre, wo immer er auftauchte. Ein großartiger Mann, er hatte alles richtig gemacht. Dachte ich.
Kurz vor seinem Tod berichtete Markus dann unter Tränen, wie sehr er unter den Unzulänglichkeiten gelitten hatte, die er ständig empfand. Was ich für Kunst hielt, kam ihm ungenügend vor, banal. Nie hatte er einen großen Preis gewonnen, einen Bestseller geschafft, irgendeine Hitliste erobert.

 

Er meinte, seine Perfektionspflicht als Mann nicht erfüllt zu haben, hatte zu wenig Erfolg, zu wenig Anerkennung, hatte nicht gebracht, was er von sich selbst erwartet hatte. Obgleich er unglaublich vielen Menschen Freude bereitet hatte, sah er nur die, die er nicht begeistert hatte. Seit seiner Kindheit hatte er die Bürde des Nicht-Genügens
mit sich geschleppt, den ewigen Imperativ des Nochmehrleistenmüssens.
Erst im Angesicht des Todes konnte er über diese unsichtbare Last sprechen, über seine Glaubenssätze, die ihm immer noch mehr abverlangten, die vermeintlichen
Erwartungen, die in ihm wühlten, das unerfüllbare Superheldensein. Eine befreundete Psychologin riet ihm zu einer Meditation, mit der der Mensch sich selbst verzeihen
lernt, Frieden schließt und Ruhe findet im Kampf mit der inneren Peitsche. Markus hatte damit begonnen. Dann starb er, tapfer, stark und stolz. Wir bewunderten seine Würde; ihm wäre es wahrscheinlich nicht gut genug gewesen.

 

Lars war auch so einer, den ich beneidet habe, weil er scheinbar ein sozialverträgliches Bohemien-Leben führte und jene unbefangene, hemmungslose Fröhlichkeit verströmte, die festangestellte Familienväter an freiberuflichen Singles verabscheuen, weil sich darin ihr eigenes ungelebtes Leben so furchtbar präzise zu spiegeln scheint. Lars war
ein fröhlicher Schwuler, »manchmal auch bi«, wie er gern erzählte, er lebte offen polyamor, streifte durch die tollsten Berliner Partys und die schummrigsten Klubs, er kannte die verrücktesten Leute. Sein Job als Agent für Prominente hatte ihn reich, ziemlich berühmt und überwiegend beliebt gemacht.

 

Lars lebte im dystopischen Babylon Berlin Männerträume vom Ungezügeltsein aus. Der traut sich was, so dachte ich, der lebt nur einmal, aber richtig. Manchmal fragt sich der
Bausparer eben, ob er auf seinem Lebensweg immer die richtige Abzweigung genommen hat. Kurz vor einer Operation, die er nicht überleben sollte, schickte Lars eine knappe, bewegende SMS: Er habe mich immer beneidet um meine Familie, um die Nähe zu meinen  Kindern, um die Tiefe meiner Partnerschaft. Sich selbst sah
er an der Oberfläche des Lebens dümpeln, immer mit diesem Gefühl, vor lauter Szene-Hüpfen etwas Wesentliches zu verpassen.

 

Mal abgesehen davon, ob Lars mein Leben richtig einschätzte: Unsere beiden vermeintlich ungelebten Leben passten ineinander wie Yin und Yang. Was ist eigentlich sinnloser, als sich gegenseitig zu beneiden? Auch so eine Männersache – die Jagd nach dem perfekten Leben und die Traurigkeit darüber, dass scheinbar alles an uns vorbeiläuft, während wir die Hypothek abstottern.

 

Scham und Schuld, der Druck von Familie oder den brutalen eigenen Erwartungen, diese Angst, nicht zu genügen, nicht richtig zu leben, der stete Antreiber im Kopf – ich
konnte all diese Dämonen bei Georg, Lars und Markus sehen, hören, nachspüren. Ich war nicht allein mit all diesen alten Bekannten. Es war bewegend, diese drei Männer in ihrer ganzen ungeschützten Ehrlichkeit erleben zu dürfen. Und ich betrachtete ihre Bilanzen als Geschenk und als Auftrag zugleich, Spaß und Tiefe am Mannsein zu empfinden, ohne die Bürden von Evolution, Tradition, Kultur und Mindfucks
zu ignorieren. Ich nahm den deutlichen Hinweis wahr, nicht erst im Sterben mit dem Aufräumen anzufangen. Was nützt es dem Marathonläufer, wenn er auf den letzten Metern des Rennens feststellt, dass er sein Leben lang falsch trainiert hat?

 

Der Tod der drei Freunde kam mir wie die Aufforderung zu einer Mutprobe vor. Markus hätte gesagt: »Wie lange willst du dich noch in Arbeit und Konsum und Sucht und Grillbibeln und Bundesligatabellen und all den anderen Ablenkungskram flüchten? Mach, was ganze Kerle machen: Stell dich deinem härtesten Gegner – dir selbst.«
Was wäre, wenn ich mir meine Glaubenssätze, meine Geschichte, meine Prägungen, meine Ticks und Macken und all die inneren Peitschen wirklich anschauen würde?
Was wäre, wenn ich das tantrische Prinzip des liebevollen Beobachtens anwende? Was auch immer auftaucht, alles ist willkommen.

 

Was wäre, wenn ich auch unangenehme, peinliche, merkwürdige Gefühle etwas länger betrachte, ohne sofort zynisch abzuwinken und wegzuzappen? Du hast Gefühle, aber du bist nicht deine Gefühle.
Was wäre, wenn es mir gelänge, meinen inneren Mann als Freund zu gewinnen? Immer unter der Prämisse: Du hast eine Männlichkeit in dir, aber du bist nicht deine Männlichkeit.Sie kann dich steuern, wenn du das willst, sie muss das aber nicht.
Und was wäre, wenn ich sofort mit der Selbstinspektion beginnen würde, anstatt mich zu ermahnen, mich doch bitte nicht so wichtig zu nehmen?
Die Killerfrage vor jedem Abenteuer lautet: Was kann im schlimmsten Fall passieren?
Antwort: nichts. Außer dass Dämonen ans Licht kommen Na, dann los.

 

Der Defensiv-Spagat
Abwehren, abwehren, abwehren

Schäme ich mich? Wahrscheinlich. Weil Emotionen für mich oftmals gleichbedeutend sind mit Schwäche. Das Wegschieben unangenehmer Gefühle ist so fest in mir verankert, dass allein das Bewusstmachen schon eine gewaltige Anstrengung bedeutet. »Na, wie geht’s?« Typische Männerfrage, die allerdings nicht auf eine ehrliche Antwort zielt. Dann müsste ich sagen: »Nicht so doll.

 

Meine Söhne arbeiten sich gerade heftig an ihrem Vater ab. Das tut ganz schön weh. Meine Frau langweilt sich mit mir, glaube ich. Und im Job erst: Die jungen Leute machen mich fertig. Früher war ich immer der Dynamiker. Jetzt frage ich mich, wie ich die Jahre bis zur Rente rumkriegen soll, ohne dass jemand merkt, wie fertig ich bin. Außerdem saufe ich zu viel. Zu fett bin ich auch. Und dieses Ziehen im Magen wird
immer schlimmer. Durchhalten, sage ich mir dann, durchhalten. Und hör auf zu jammern.« So würde eine ehrliche Antwort lauten. Aber die mute ich maximal zwei sehr guten alten Kumpels zu.

 

Ich versuche also ein bittercooles Lächeln zwischen Selbstironie und lässiger Tapferkeit und sage: »Och, muss ja, ne?« So hätte mein Vater geantwortet. Und ich habe diese
zwei Worte übernommen. Immer, wenn mich jemand fragt, wie’s denn so geht, sage ich reflexartig: »Muss ja.« Ich fand die westfälische Lakonie eine Weile lustig, diesen selbstironischen Alltagshelden-Blues zwischen Pflichtenhorror und Duldsamkeit.

 

»Muss ja« – ich bin mir nicht mehr sicher, ob diese Antwort gut ist. Sie ist eine Vermeidungsfloskel. Wer »Muss ja« sagt, wird am Ende des Lebens keine optimistische Lebensbilanz ziehen. Man musste ja. Aber wollte ich auch? »Muss ja« impliziert Fremdsteuerung, jemand hat mir etwas befohlen. Zufrieden ist, wer sein Leben in den eigenen Händen zu halten glaubt, sagt die Psychologie. Zufrieden sind Menschen,
die sich autonom fühlen, aktiv zu entscheiden. »Muss ja« ist passiv, die Bassline für das endlose Lied von Unerfüllt und Überfordertsein durch andere: Ich hätte so gern gewollt,
aber ich konnte nicht. Da ist es wieder, das Heroische. Mit dem duldsamen Heldendasein, das die Außenwelt bedient, kommt fast automatisch die Gefühlsreduktion, das Vernageln der Innenwelt.

 

Unsere eingebildete Mission verlangt Langmut, Disziplin, Unempfindlichkeit, Opfer, aber kein Gejammer. Mannsein bedeutet, mit knappen Vorrat an Emotionen zurechtzukommen. Jungen überall auf der Welt trügen eine übergroße »heroische Hälfte« in sich, sagt der Harvard-Psychologe William S. Pollack, die zugleich verschnürt sei in einer viel zu engen emotionalen Zwangsjacke. Mal sehen, ob der Aufwand berechtigt ist, den wir Männer treiben, um auf gar keinen Fall diese Gefühle an uns heranzulassen. Einen der bewegendsten Männertexte hat der Moderator
und Lauftrainer Rafael Treite bei Facebook verfasst. Exakt dreißig Jahre nach einer traumatischen Delle im Leben findet er endlich die Kraft, darüber öffentlich zu berichten.

Es war der Moment, als seine Eltern ihn weggaben zu einer anderen Familie. Den Umzug bewältigte Rafael, sechzehn Jahre alt, mit zwei Umzugskartons im Intercity, er trug den Abschiedsbrief seiner ersten Freundin in der Tasche und dazu die Fahrkarte
für die Hinfahrt. Rückfahrkarte gab es keine.
Rafael gesteht, dass er heute noch weinen muss, wenn er an diesen Moment auf dem Bahnhof denkt. Er gibt zu, ein sensibler Mensch zu sein, »ein bekennendes Weichei«. Ich war gefesselt von dem Mut dieses Kerls. Weil er alles auf den Tisch packte, was wir so gern ignorieren: Angst, Einsamkeit, Traurigkeit.

 

Er ist jedem Suchtmittel aus dem Weg gegangen, aus Angst, dran hängenzubleiben, und musste sich dafür als Spielverderber beschimpfen lassen. Ihm hat das Laufen geholfen, sein Leben mit den vielen Momenten des einsamen Zweifelns zu bewältigen. Rafael Treite hat seine Geschichte vor allem deswegen erzählt, weil ihm zu viel Neid und dummes Gerede begegnet sind, von Menschen, die einfach nicht wissen, wie es anderen ergangen ist. Respekt. Warum berührte mich der kurze Text so? Weil diese Klarheit bei Männern so selten ist, das freimütige Eingestehen dessen, was ich
so gut kenne und so sehr fürchte.
Scham … Ich gründele vorsichtig. Ja, da wäre was. Eine Menge düsterer Erinnerungen werden angespült: Momente auf dem Schulhof, Garstigkeiten meiner Mutter gegenüber,
zahllose Anzüglichkeiten, die ich offenbar ganz allein komisch fand. Bange Frage: Habe ich mich in meinen wenigen Jahren als Vorgesetzter immer korrekt verhalten? Eher nicht. Abwerten, das konnte ich gut.

 

Und da wäre noch was: Scham wegen Feigheit. Habe ich jemals die Stimme erhoben, wenn andere in meiner Gegenwart angemacht, runtergemacht, einfach schlecht behandelt wurden, ganz gleich ob Männer, Frauen, Kinder? Habe ich, aus welchen Gründen auch immer, weggehört, gegrinst, mitgemacht? Ja, klar. Ich war dabei. Vielleicht nicht in vorderster Linie, aber garantiert auch nicht im edlen Bereich. Natürlich
war und ist die MeToo-Debatte mir unangenehm, weil ich mich erwischt fühle. Ich kann das verdrängen, so wie ich es lange gewohnt war. Oder damit umgehen. Aber wie?
Das Erweitern der männlichen Gefühlspalette sei seine Hauptaufgabe, sagt der großartige Therapeut Björn Süfke.

 

Sein Buch Männerseelen ist ein ebenso klarer wie liebe- und verständnisvoller psychologischer Reiseführer. Um mit den eigenen Gefühlen umgehen zu können, muss man sie erst einmal sehen, spüren, wahrnehmen und bestenfalls sogar benennen können. Hier beginnt das Drama. Männer, so Süfke, haben durchweg eine Gefühlsblockade. Nicht weil sie dumm oder unempathisch sind. Sondern weil sie es so gelernt haben, Generation für Generation.Björn Süfke sagt: »Für uns Männer ist das die schwerste und großartigste Aufgabe überhaupt: in den eigenen Teich zu blicken, sich dabei nicht vom Spiegelbild der Oberfläche beirren zu lassen, sondern in die Tiefe zu schauen, in die heimliche, die unheimliche Innenwelt. Auf eine Entdeckungsreise
zu gehen, die Verborgenes zutage bringt. Und die Erkenntnis: Dort unten, in uns drin, lauert nicht der Feind.«

 

Warum aber sind diese elenden Gefühle so wichtig? Sind doch lästig, die Dinger. »Heul nicht rum, mach weiter«, sagen Männer in vielen Varianten. Und das ist ungesund. Männer verkraften Trennungen schlechter als Frauen, trinken mehr, flüchten in Aggression, suchen selten nach Hilfe. Die seelischen Verletzungen wachsen sich zu Depressionen aus oder anderen Krankheiten. Warum leidet der Mann schweigend?
Weil negative Gefühle als unmännlich gelten, wie im Frühjahr 2018 der Fußballer Per Mertesacker erfahren musste. In einem Interview hatte er offen berichtet, wie sehr ihn der doppelte Druck von öffentlicher und eigener Erwartung quält; so sehr, dass er vor jedem Spiel massiven Brechreiz verspürt. Die Häme, die dem unerschrockenen Abwehrturm daraufhin entgegenschlug, klang geradezu mittelalterlich. »Weichei!«, so lautete das Urteil vieler Fußballanhänger.

 

Die SPD-Politiker Beck, Platzeck, Schulz haben Ähnliches erlebt. Schwäche zeigen, das wird in der Theorie oft gefordert, aber in der Praxis kaum geduldet. Durchhalteparolen funktionieren in Krisenphasen, aber als dauerhafter Sirenenton verschleißen sie sich und andere. Zufriedenheit ist das Gegenteil von Krise, ein Zustand von befriedigten Bedürfnissen. Die ebenso simple wie herausfordernde Aufgabe für jeden Mann: die eigenen Bedürfnisse zunächst einmal erkennen,
akzeptieren, befriedigen. Ein Mann, der sich einsam fühlt, weil er an einem Mangel an sozialen Kontakten leidet, könnte theoretisch alte Bindungen wiederbeleben und neue knüpfen, um seine Zufriedenheit zu erhöhen. So weit die Theorie.

 

In der Praxis wird dieser Mann womöglich viel fernsehen, im Internet trollen, AfD wählen. Starke Emotionen dienen als deutlicher Hinweis, wo ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit verlangt. Angst kann auf ein Gefühl des Kontrollverlusts hinweisen, Wut auf mangelnden Lustgewinn, Trauer auf ein verletztes Selbstwertgefühl,
aggressive Spottlust auf tiefsitzende Einsamkeit. Diese Warnzeichen dauerhaft zu unterdrücken, führt zu gestauten Gefühlen und damit womöglich zu hartnäckigeren, etwa psychosomatischen Problemen wie Tinnitus oder Rücken. Wer dagegen die eigenen Gefühle und deren Ursachen lesen kann und will, wer seine Bedürfnisse wahrnimmt und befriedigt, wird seine Seele gesund halten und den Körper dazu.
Unsinn, entgegnet mein innerer Mann. Warum soll ich Trauer oder irrationale Hoffnung wahrnehmen? Ist doch Zeitverschwendung, sich mit schlechten Energien zu belasten.

 

Leider falsch. Gefühlssparsamkeit kommt einen teuer zu stehen. Denn psychische Gesundheit bedeutet, dass sich Bewusstsein und Emotionen in Übereinstimmung befinden. Wer traurig ist, sollte die Traurigkeit wahrnehmen und zulassen. Der Therapeut spricht von Kongruenz. Wer Traurigkeit dagegen verdrängt oder überspielt oder niedertrinkt, der steuert in die Inkongruenz. Entfremden sich Innenwelt und
Bewusstsein aber dauerhaft, können die bekannten Symptome einer Depression auftreten: Lustlosigkeit, Leere, die große Sinnfrage. »Ein guter Kontakt zu seinen eigenen inneren Impulsen verbessert per se die psychische Gesundheit«,
weiß Björn Süfke.

 

Die gute Nachricht: Zu ihren positiven Gefühlen haben die meisten Männer Kontakt. Aber die düsteren Emotionen behandeln sie wie Giftmüllfässer in ihrem Seelenkeller: Licht auslassen, auf keinen Fall den Deckel heben. Leider wachsen im Giftmüll die Dämonen besonders gut. Und leider verstärken Partnerinnen den Gefühlsstau manchmal noch. Immer wieder habe ich Partysituationen erlebt, wo Frauen, bisweilen unter Alkoholeinfluss, die Gefühlswelt des Mannes im Allgemeinen und des eigenen Mannes im Besonderen herablassend kleinreden, was zu Lachern und Fremdschämen
zugleich führt. Manche Männer beeilen sich auch noch, das Narrativ vom emotionalen Einzeller zu bestätigen, knöpfen das Hemd auf und zeigen das Trikot vom Lieblingsverein, das sie drunter tragen. Das muss reichen als Gefühlswelt.

 

Gern wird auch die Nussknacker-Story genommen: Der hilflose Mann trägt seinen edel-weichen Kern unter einer rauen Schale. Die notorisch helfende Frau versucht sich unermüdlich als Nussknackerin. Dann der magische Moment: Sie bricht den Panzer auf und befreit das schöne, sanfte Innere, das nun für immer offen daliegt. Ewiges Glück für
beide. Die Frau als heroische Expeditionsleiterin, als Indiana Jane, der Mann in seiner Paraderolle als gutmütiger Trottel, der nicht viel merkt.

Leider Unsinn. Erstens baut diese symbolische Geschichte auf der toxischen alten Geschlechterpolarität auf, zweitens wird ein Gegensatz von böser, harter Schale und gutem, weichem Kern konstruiert. Und drittens gibt es diesen magischen Knacks nur selten. Beim Weg in die Gefühlswelt haben wir es weniger mit dem einen explosionsartigen Moment zu tun als vielmehr mit einer längeren Wanderung, mit
Herantasten, Entdecken, Ausprobieren völlig neuer Spiel und Werkzeuge, die unseren emotionalen Vorrat Schritt für Schritt erweitern.

Warum nur bestätigen wir die Story vom emotional verkarsteten Kerl so gern? Ganz einfach: Die Geschichte ist schön simpel. Männer delegieren die Verantwortung fürs
Emotionale bereitwillig. Und, ehrlich, wir fühlen uns ja auch ganz wohl damit, dass unser Erleben und Verhalten durch den vertrauten engen Korridor von Müssen und Nichtdürfen führt. Ein reduziertes Gefühlsangebot führt zu mehr Übersichtlichkeit.
Hat doch ganz gut geklappt, all die Jahre. Never touch a running system.

 

Doch. Denn die düsteren Gefühle sind immer noch da. Und sie kratzen und rumoren. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Männer Freude und Stolz, Liebe und Angst,
Sehnsucht und Scham, Wut und Einsamkeit nicht genauso empfänden wie Frauen. Bei Männern stauen sie sich nur häufiger.
Wie viel Aufwand treiben wir, um diesen toxischen Cocktail zu kaschieren? Die Maske der Männlichkeit heißt ein Buch des früheren Football-Profis Lewis Howes. Er hat neun Tarnkappen fürs Emotionale identifiziert:
• die Maske des Stoikers: cool und unverwundbar
• die Maske des Athleten: immer fit und im Wettkampf-Modus
• die Maske des Materialisten: rackern und sich was leisten können
• die Sex-Maske: allzeit bereit, perfekte Liebesmaschine
• die Maske der Aggression: Wut bis Killerinstinkt. Jäger, nicht Sammler
• die Joker-Maske: Ironie und Sarkasmus sind die Waffen der Überlegenen
• die Alleswisser-Maske: ist ja wohl klar
• die Maske des Unbesiegbaren: keine Angst, Risiko willkommen
• die Alpha-Maske: Es gibt nur zwei Sorten Männer – Winner und Loser

 

Längst überholt? Leider nicht. Howes zitiert die New Yorker Lehrerin Celine Kagan, die ihren Schülern zehn Minuten Zeit gibt, klassische männliche Eigenschaften aufzuschreiben. Das Ergebnis: »Stark, groß, hart, tapfer, weint nicht, unabhängig, mag Autos und Sport, hat viel Sex, guckt Pornos.« Danke sehr, alle Stereotypen versammelt.

 

Das Abgetrenntsein von den eigenen Gefühlen ist unser kollektives Männerproblem, Grundbaustein der maskulinen Identität. Gerade ältere Männer können Gefühle weder erkennen noch benennen. Wie sollen sie formulieren, was sie belastet? Woher stammt aber die universelle männliche Gefühlsblockade? Björn Süfke hat vier Stufen identifiziert: das Entfremden von der Innenwelt in der Kindheit, das Orientieren  in die Außenwelt, dann die Hilflosigkeit, schließlich dauerhaftes Unbehagen. Entfremdung von der Innenwelt Mit der Geburt bekommen wir einen rosa oder hellblauen Strampler. Die gesellschaftliche Prägung beginnt, das sogenannte »Gendering«. Wir lernen, wer wir sind, was wir dürfen und sollen und was nicht. Wer sitzt am Steuer? Wer liest abends vor? Wer ist Hooligan? Wer telefoniert länger? Wer bricht sich den Arm? Wer wuchtet den Kühlschrank in den dritten Stock? Wer kocht? Wer brüllt? Und wie sind die Rollen in Kinderbüchern, Filmen, Spielzeugläden verteilt?

Diese oft stereotypen Botschaften stanzen eine Mann/ Frau-Dualität in die Kinderseele. Jungen können biologische und soziale Phänomene nicht trennen und verinnerlichen
das Rollenspiel als unveränderlich, ja schicksalhaft: Frauen bekommen Kinder, Frauen trösten mich, wenn ich mir wehgetan habe. Und Männer sind draußen, auf der Jagd. Normabweichendes Verhalten wird bis heute zart bis hart sanktioniert, von Müttern und Vätern, Nachbarn und Erzieherinnen, mit Blicken und Hinweisen: Jetzt ist gut mit dem Geheule! Beiß die Zähne zusammen! Muss ja. Training fürs Heldenleben.

Bis heute sind die primären Bezugspersonen des Jungen überwiegend Frauen. Und zahlreiche Studien weisen nach, dass positive Gefühle der Jungen von den weiblichen Betreuerinnen gespiegelt werden, negative im Vergleich zu Mädchen dagegen eher bagatellisiert oder ignoriert. Mütter zeigen ihren Töchtern von Geburt an eine breite Gefühlspalette; die Jungs bekommen ein vergleichsweise schmales Repertoire
vorgesetzt. So wird den Knaben ins frühe, weiche Seelenwachs geprägt, dass sie das Gegenteil von Frauen sind. »Sei doch kein Mädchen!« – diesen Satz habe ich, wenn auch scherzhaft, mehrfach zu meinen Söhnen gesagt. Und die Botschaft war klar: Mach
das Gegenteil. Denn das Weibliche, Gefühlige ist als das Anti-Männliche abzulehnen.

 

Der kleine Mann lernt, dass seine negativen Gefühle nicht gut ankommen. Die Persönlichkeit und ihre Emotionen werden früh getrennt und machen es dem erwachsenen Mann so schwer, sie wiederzufinden. Die vielen Frauen der Kindheit fordern vom Knaben noch eine weitere Transferleistung. Während sich Mädchen direkt
mit Müttern, Erzieherinnen, Lehrerinnen als weiblichen Leitbildern identifizieren können, wird vom Jungen eine sehr viel komplexere Identitätsbildung verlangt, die eine doppelte
Negation verlangt. Die Frau ist ein Nicht-Mann, der Junge definiert sich also als Nicht-Nicht-Mann, wenn vorwiegend Frauen zur Identifikation bereitstehen. Zweimal minus ergibt plus, aber der Weg ist komplex.

 

Der Junge definiert sich mangels Vorbildern zunächst ex negativo. Süfke weist auf den logischen nächsten Schritt hin: Jungen müssen sich eines Tages von den Frauen des-identifizieren. Um sich abzugrenzen, werden die emotionalen Anteile, die die Jungen überwiegend von Frauen kennen, nun rigoros abgespalten. So werden Angst, Trauer, Einsamkeit sehr früh sehr tief in den Giftmüllfässern versteckt. All das sind wir Männer ja nicht. So gewinnt der Heldenfimmel Seelenraum, um hineinzuwachsen. Ein einziger geerdeter Kindergärtner oder Grundschulpädagoge im Leben eines Jungen könnte womöglich manche Identifikationsprozesse von früh an positiv ausgleichen. Wenn überall Quoten helfen, warum dann nicht auch beim Personal der frühkindlichen Erziehung? Fünfzig Prozent Kindergärtner, das wäre mal ein ambitioniertes gesellschaftliches Ziel.

Doch selbst wenn am Anfang eines Jungenlebens mehr Männer auftreten, wenn der moderne Vater viel öfter präsent ist als bei unseren Vorfahren, so bleibt doch die Sozialisierung durch den eigenen Erzeuger: Wie soll ein Vater seinem Sohn den Zugang zu Gefühlen vermitteln, wenn er es selbst nicht gelernt hat? Bislang gibt der Vater viel zu oft, wenn auch ironisch, sein selbst gelerntes Leitbild weiter – zäh wie Leder. Traurigkeit? Wird nicht so gern gesehen. Anerkennung? Nicht getadelt ist Lob genug. Furcht? Sei doch kein Angsthase. Es dauert, bis genügend Vorbilder, positive Helden, Identifikationshelfer herangewachsen sind.

Die Orientierung im Außen

Abgeschnitten von einem Teil seiner Gefühlswelt sucht der angehende Mann nun zunehmend Bestätigung im Außen – mein Auto, meine Jacht – und hält die Kellertür geschlossen. Die Wissenschaft spricht von Externalisierung. Der jugendliche Held betritt den Schulhof, als Hauptdarsteller seines eigenen Helden-Epos. Das Leben wird zum permanenten Darstellen, Abgleichen und Kontrollieren. Der Gang, die Klamotten. Erst Moped, dann Auto. Die Immobilie. Status und Karriere. Trophy-Frau und Vorzeigefamilie, Drei-Sterne-Rallye und New-York-Marathon.

 

Und ständig die Frage: »Wie war ich, Schatz?« So rotiert der Teufelskreis. Denn mit wachsender Orientierung ins Außen rückt das Innen immer weiter in die Ferne.
Dogmatismus und Hilflosigkeit Männer suchen Sicherheit gern in der evidenzbasierten
Welt. Zahlen, Daten, Fakten sind unverhandelbar und bieten ein rationales Bollwerk gegen alles Emotionale. Dazu gesellen sich häufig scheinbar eiserne Lebensregeln, mit einem unpersönlichen, gleichwohl absoluten »man« angereichert: Da darf man keine Schwäche zeigen! Das kann man sich in meiner Position nicht leisten! Da muss man die Kirche im Dorf lassen!

In langen Jahren mit Excel-Tabellen und Man-Weisheiten wachsen Distanz und Abstraktion. Das Leben wird entlang vermeintlicher Naturgesetze gelebt, die sich zu Dogmen auswachsen. Wen wundert es, wenn die scheinbar rational unterfütterten
Verschwörungstheorien der Rechten – etwa zu Klimawandel, Kriminalität oder Zweitem Weltkrieg – ausgerechnet bei gefühlsabwehrenden Männern ankommen, die nichts mehr fürchten als den einfachen Satz: »Ich habe Angst.« Warum kommt mir jetzt der hyperkorrekte Thilo Sarrazin in den Sinn mit seinem statistikprallen Bestseller Deutschland schafft sich ab und seinen geradezu roboterhaften
Auftritten im Jahr 2010? Sarrazin hatte offenkundig Angst, kam an dieses Gefühl aber nicht heran. Die unbewusst gefühlte Schwäche wird überkompensiert mit Überlegenheitsfantasien einerseits und Abwertungen andererseits.

 

Dilemma, Depression 

Spaltet sich der Mann dauerhaft von seinen Gefühlen ab, wächst die Abhängigkeit vom Weiblichen. Denn Frauen mit ihren Nussknackerambitionen finden den Weg in sein Inneres, zumindest dann und wann. Diese emotionale Abhängigkeit wird wiederum als Schwäche wahrgenommen, die ein Gefühl von Hassliebe zur Frau erzeugt. Ja, man liebt sie. Aber zugleich hebe ich hilflos die Schultern, begleitet von Augenrollen und leisem Stöhnen, wenn sie wieder retten, reden, das Emotionale hervorheben will.
Die unbewusste Hassliebe begünstigt wiederum eine Kultur des Abwertens, durch Spott oder Ignorieren, Runtermachen oder Gewalt. Viele Frauen, meine leider auch, hadern
mit diesem unspezifischen Gefühl, bisweilen nicht für voll genommen zu werden, was Männer wiederum dementieren. War doch lustig gemeint.

 

Die Frauen kontern mit spitzen Bemerkungen über emotionale Defizite der Herren. Manche Paare, die privat angeblich ganz nett miteinander umgehen, führen sich in der Öffentlichkeit aufs Peinlichste gegenseitig vor. Killersatz zum Abschied: »Zu Hause ist er ganz anders. Aber draußen muss die Abgrenzung sicht- und spürbar werden. Der Mann hat die Wahl zwischen zwei toxischen Optionen: Dringt er zu seinen Bedürfnissen vor, wird er als Schlappschwanz qualifiziert und von Frauen womöglich in die schreckliche Kategorie »guter Freund« einsortiert, Übersetzung: taugt nicht für Sex. Bleibt er seiner gelernten Abwehrstrategie treu, schleicht sich dauerhaft Niedergeschlagenheit ins Leben. Hat alles keinen Zweck. Mit Kindern, Karriere,
Konsum kann man sich eine Weile ablenken, aber die Dämonen röhren unüberhörbar. Und bringen Sucht, Gewalt, Einsamkeit, Narzissmus und viele andere Ekligkeiten mit.

 

Führt die männliche Gefühlsabwehr zwangsläufig zur Eskalation? Ja, sagt Therapeut Süfke, solange sich an der Sozialisierung der angehenden Männer nichts ändert.
Muss das so bleiben? Nein, sagt Süfke. Man kann dran arbeiten. Und wie? Indem wir uns die Mechanismen der Gefühlsabspaltung und ihre Herkunft bewusst machen.
Im Vergleich zu unseren Vätern hat sich schon eine Menge getan. Männer spüren das Dilemma und suchen Hilfe. Kaum beim Therapeuten, flüchtet der Patient zunächst aber gern in die vertrauten Rollen. Da wird heruntergespielt und banalisiert, Heldenstoff aufgetischt, Internet-Halbwissen aufgesagt.

Oft sind etliche Sitzungen vergangen, bis der erste kurze, klare, ehrliche Satz fällt, etwa: »Ich fühle mich überfordert.« Gefühlsabwehr ist einer Sucht nicht unähnlich und auf Dauer genauso anstrengend. Es geht ja nicht um lockere Ignoranz, sondern um aktives Abwehren. Die seelische Innenverteidigung muss stehen, unser innerer Jerôme Boateng rackert, um die eigene Identität zu schützen, den Nicht-Nicht-Mann. Draußen wiederum ist der kompensatorische Nachweis von Männlichkeit gefragt: mehr Karriere,
der 2000-Euro-Grill, verschleißreiche Triathlon-Abenteuer (Anmerkung: Der Autor ist Experte auf dem Gebiet des Kompensationssports), dazu die Harley. Männer veranstalten die unmöglichsten Dinge, um nicht als schwach, weich, verletzlich wahrgenommen zu werden.

 

Bis der Körper Alarm schlägt. Dem Kreislaufzusammenbruch folgt der Besuch beim Psychosomatiker. Herr Doktor, ich habe keine Ahnung, woher Tinnitus, Rücken, Impotenz stammen könnten. Die Gefühlsabwehr, der Zwang des Mannsein-Müssens,
diktiert häufig das gesamte Denken und Handeln. Job, Geld, Macht, die drei gehen immer. Familie, Gespräche, guter Erzieher? Später. Der freche britische Autor Jack Urwin vermutet eine tiefe Entmannungsangst, die so mächtig ist, dass sie oftmals sogar Weltpolitik macht.

Betrachten wir politische Anführer unter dem Blickwinkel von Gefühlsabwehr und Entmannungspanik, dann bekommt das Handeln von Donald Trump und Alexander Dobrindt, von Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan plötzlich einen gespenstischen Sinn. Ob in Osteuropa oder der Türkei, in Moskau, Washington oder der arabischen Welt – allenthalben scheint ein Typus Mann zurückzukehren oder sich sehr zäh zu halten, den wir eigentlich hofften, im letzten Jahrhundert zurückgelassen zu haben. Das Duo Angela Merkel und Barack Obama, die mächtigste Frau der Welt und ein bekennender Feminist im Weißen Haus, galten uns eine Weile als starkes Zeichen, dass die Welt sich zum Besseren wende.

 

Verfrüht gehofft.

Mit US-Präsident Trump kehrte eine bis ins Operettenhafte glaubwürdige Art toxischer Männlichkeit auf die Weltbühne zurück. Dass sich einer so was heute tatsächlich noch
traute. Nicht nur die Worte waren peinlich, nicht das Geprotze, die Lügen, all das Ignorante. Nein, am peinlichsten war das Durchsichtige seiner permanenten Breitbeinigkeit: Da fummelte einer mit Atomraketen herum, um seine Gefühlsabwehr
zu stabilisieren. »Er steht für den Typus des Schulhof-Tyrannen«, sagt Männerforscher Michael Kimmel, »der Tyrann hat ständig Angst davor, zu klein, zu schwach zu sein. Deswegen sucht er sich ständig Opfer, die ihm unterlegen sind.« Trump fasst das Vierstufen-Modell von Björn Süfke geradezu prototypisch zusammen, inklusive der Prägung durch den Vater, der seinen Jungen brutalstmöglich auf Nicht-Nicht-Mann-
Sein trimmte.

 

Statt als weich und weiblich wahrgenommene Prioritäten wie Gesundheit, Bildung, Kultur zu fördern, setzt ein verhärteter Kerl auf Kohlefördern, Straßenbauen, Militär-
Verstärken – männlicher geht es nicht. Donald Trump, und das ist praktizierte Bildungspolitik, präsentiert der ganzen Welt schonungslos offen die Techniken der Gefühlsabwehr, ob die Hassliebe zu Frauen, das Dogmatische, das Leben im äußeren Schein des Blattgolds. Und jeder Mensch erlebt die Spannung zwischen Hilflosigkeit und Härte, mit der die Camouflage betrieben wird. Gefühlsabwehr ist nichts für Pussys.

 

Die Angst, nicht als ganzer Kerl zu gelten, ist stärker als die Angst vor Peinlichkeit und Weltkrieg.  Wird dieser Mann Söhne erziehen, die wir uns für die Zukunft wünschen?
Unsicherheit, Angst, Kränkung werden mit dröhnender Attitüde, absichtsvollem Chaos und notfalls jeder Menge Unwahrheit überspielt – das unreife Männliche bedeutet Überkompensation, gerade so, als wollte der Mann durch lautes Trompeten jede Kritik, jeden Zweifel noch vor deren Aufkommen niederlärmen. Es geht um Machtbeweise auf allen Ebenen, gegen Mitarbeiter, Gegner, Frauen, Medien, Randgruppen.

Die Stilmittel: Nationalismus, Rassismus, Sexismus. Überheblichkeit. Bist du nicht Freund, bist du Feind. Die Welt wird allein durch die Polarisierungsbrille betrachtet.
Toxisch halt. Die gute Nachricht: Wir sind nicht alle so. Die schlechte Nachricht: Aber ein wenig doch. Was in der Person Trump wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar wird, tragen die meisten von uns Männern in Anteilen mit sich herum.
Das Verdrängen von Gefühlen mobilisiert so unglaublich viele Reflexe; jetzt gerade, beim Schreiben, merke ich, wie ich ständig gegen den Selbstironie-Modus ankämpfe. Es ist ungewohnt, in der Gefühlswelt ernst und sachlich zu bleiben und sich nicht das gewohnte »Heul doch« zuzuraunen.

 

 

 

Der neue Blogger-Relevanz-Index 2018

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