Buchauszug Eva Engelken: „Drei Küsse für Herkules“
„Den politischen Anlass für das Götter-Revival liefert der aktuelle desolate Zustand Europas. Weil der klamme griechische Staat sogar die Inseln der Götter an superreiche Investoren verscherbelt hat, kommen sie zurück, um Gelder für den Rückkauf einzuwerben. Ihre kühne Vision: Mit Herks Hilfe den Kontinent der Prinzessin Europa in eine moderne Republik zu verwandeln. Schafft es der antike Superheld Herk wieder unsterblich zu werden?“
VIVIAN BRICHT AUF
Alles, was sie wollte, war ein perfekt aufgeräumtes Haus, doch irgendjemand schien beschlossen zu haben, sie mit allen Mitteln daran zu hindern. Aktuell setzte dieser Jemand das Telefon dazu ein, das tief unter einem Kleiderberg nicht aufhörte zu bimmeln. Bei Vivian rief selten jemand Spannenderes an als ihre Schwiegermutter, dennoch stellte sie ihre Kaffeetasse auf dem Boden ab und schob mit beiden Händen die Karnevalskostüme auseinander, die ihre Kinder dort hatten fallen lassen. Don Johnson strich um ihre Beine und miaute vorwurfsvoll.
„Geduld“, sagte sie und setzte ihn zur Seite, woraufhin er die Tasse umkippte, sodass der dampfende Kaffee auf Emilys Prinzessinnenkleid landete.
Es war nicht die Schwiegermutter, sondern ihre Freundin Sofie.
„Ich habe die letzten beiden Tickets für heute Abend ergattert“, sagte sie mit quengelnder Stimme, „da wirst du mich doch nicht hängen lassen?“
Vivian klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und schleuderte das nasse Kleid die Kellertreppe hinunter. „Falls du mich schon wieder zum Karnevalfeiern überreden willst, vergiss es. Die Putzfrau ist krank und in zwei Wochen kommt der französische Austauschschüler mit seinen Eltern. Die kündigen die deutsch-französische Freundschaft, wenn sie mitkriegen, wie deutsche Haushalte wirklich aussehen!“
Don Johnson maunzte bestätigend.
„Was ist los mit dir?“, fragte Sofie, und Vivian konnte förmlich hören, wie sich Sofies perfekt gezupfte Augenbrauen hoben.
„Ich bin vierzig geworden, falls du das noch nicht bemerkt hast. Da ist man vernünftig oder versucht es wenigstens“, sagte Vivian und begann mit der freien Hand, die Kostüme von den Kinderschuhen zu trennen. Als sie mit den bloßen Füßen auf einen Legostein trat, biss sie die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. „Mit vierzig waren Frauen früher tot!“, fügte sie grimmig hinzu.
„Mein Gott, wie bist du denn drauf?“, fragte Sofie.
„Ich bin todmüde, weil Tom die ganze Nacht gehustet hat.“ Wütend kickte sie mit dem Fuß gegen die Verkleidekiste. Die Kiste fiel um, und noch mehr Pistolen, Clownsnasen und Kleidungsstücke fielen heraus. Don Johnson biss ihr in den nackten Fuß.
„Ich würde dich auch nicht alleine lassen“, maulte Sofie.
Du hast ja auch keine Kinder, dachte Vivian und eilte in den Wäschekeller, wo das Katzenfutter lagerte. Als es dunkel blieb, obwohl sie auf den Lichtschalter drückte, fiel ihr ein, dass sie die Glühbirne hatte auswechseln wollen. Mit dem Schienbein rempelte sie gegen eine Klappliege, die an den Wäscheständer stieß, der mitsamt Wäsche zusammenbrach. Wie ein Stromschlag zischte der Schmerz durch ihr Bein und wölbte sich auf dem Knochen zu einer kleinen Beule.
Vivian schluckte die Tränen hinunter, während der Kater eifrig zu knurpsen begann, und stieg mit Sofie am Ohr die Treppe wieder hoch. Suchend spähte sie in den Küchenschrank, doch da war keine Glühbirne. Dann musste die Wäsche eben warten.
„Mein Gott, bist du langweilig geworden. Früher hatten wir doch immer Spaß“, unternahm ihre Freundin einen neuen Versuch.
Früher war lange, bevor mit Kind Nummer drei das endgültige Chaos ausgebrochen war. Als sie noch einen festen Job hatte und ihr Chef noch nicht mit einem Blick auf ihren dicken Bauch gesagt hatte: „Tut uns leid, Frau Sammer, aber Sie können nun wirklich nicht eine tolle, junge Mutti und eine tolle, junge Journalistin sein.“
„Ich bin eben alt, na und?“, sagte Vivian und zog wütend ihre Jeanshose über die Speckrollen hoch, die sich dort breitmachten, wo eigentlich eine Taille hätte sitzen sollen. War Speck der Preis, den man zahlte, wenn man vierzig geworden war und seinen Arbeitstag in der Nähe des Kühlschranks verbrachte?
Als ihr ein gemusterter Stofffetzen in die Hände fiel, stutzte sie. Wie eine warme Dusche durchrieselte sie die Erinnerung, als sie mit den Fingerspitzen über das Löwenfell streichelte. Aaron hatte es getragen, ihr Karnevalsflirt vor fünf Jahren. Als die Kneipe geschlossen und der Türsteher die letzten Jecken auf die Straße gefegt hatte, waren sie und Sofie bei Aaron auf einem schwarzen Ledersofa gelandet. Natürlich war Vivian schon damals verheiratet gewesen, und sie hatte Sofie die Chance nicht vermasseln wollen. Sofie bekam es mit keinem ihrer vielen Verehrer hin, weil sie an allen etwas auszusetzen fand. Deshalb hatte Vivian diesen göttlichen Mann nur ein bisschen angehimmelt und beim Tanzen traumhaft definierte Muskeln unter seiner samtglatten Haut gespürt.
„Also überleg’s dir. Ich muss mich jetzt umziehen, sonst komme ich nicht mehr rein.“
Das Telefon klickte, und Vivian hockte mitten im Wohnzimmer und starrte abwechselnd das Stück Stoff und die Terrasse an, auf der es zu dämmern begann. Ein Rotkehlchen pickte von dem Vogelfutter, das Vivian ausgestreut hatte, obwohl ihre Schwiegermutter immer sagte, das sähe so unordentlich aus. Aus Aaron und Sofie war damals nichts geworden. Sie hatte ganz umsonst verzichtet. Wütend über die vor vielen Jahren verpasste Chance pfefferte sie das Stoffstück in die Kiste. Und was war, wenn er genau heute Abend da wäre? Wenn Sofie später erzählen würde: „Ach, übrigens, ich hab Aaron getroffen?“
Wie zum Hohn dudelte im Radio ein Schlager von damals: „Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt im Leben nicht nur den Einen.“ Leise summte sie den Refrain mit. Und wenn heute Abend etwas ganz Tolles passieren würde? Nicht, dass sie kein schönes Leben hatte. Andere hätten davon geträumt, einen Mann, ein Haus, drei wundervolle Kinder, einen Kater und Millionen von Gegenständen zu haben, die nie dort waren, wo man sie suchte. Andere hätten sich auch gefreut, kleine Aufträge für Pressetexte zu bekommen. Doch Vivian wurde das Gefühl nicht los, bei ihrer Lebensplanung versagt zu haben.
Die Musik im Radio erstarb und der Nachrichtensprecher meldete drei Kilometer Stau auf der A57 in beide Richtungen. „Die Autobahnbrücke ist wegen eines Brandes nach einem Unfall akut einsturzgefährdet. Es wird darum gebeten, die Unfallstelle weiträumig zu meiden. Es ist 17.30 Uhr, wir wünschen allen Jecken eine gute und sichere Fahrt!“ Vivians Mann Felix war auf dieser Autobahn nach Köln gefahren, aber inzwischen musste er schon längst in Köln bei seinem coolen Freund Tobias angekommen sein, in dessen piekfeiner Singlewohnung garantiert nicht mal eine einzelne Socke herumlag.
Sie wusste, dass ihr Mann seinen kinderlosen Freund beneidete. Um die viele Zeit, die er hatte, um im Fitnessstudio seinen Body zu stählen, und um seine ständig wechselnden Bekanntschaften, denen er an seiner Hausbar Cocktails mixte. Ob auch Felix mit jemandem flirten würde? Und wenn schon. Die Zeiten, in denen sie der Gedanke eifersüchtig gemacht hätte, waren ebenso lange vorbei wie das letzte romantische Dinner oder ähnlicher Quark. Vermutlich sollte sie sogar froh sein, wenn Felix mit jemand anderem anbandelte – dann musste sie wenigstens kein schlechtes Gewissen haben, wenn Felix sie mal wieder fragte, warum sie sich denn im Bett, bitte sehr, nicht einfach mehr gehen ließe. Oder wenigstens ein bisschen lasziv guckte.
Das Musikgedudel schwoll wieder an: „Nur nicht aus Liebe weinen …“. War es die Nachricht von dem Unfall, die in ihrem Kopf einen winzigen Schalter umgelegt hatte? Oder das Löwenfell? Was auch immer es war, dieses Etwas forderte ganz eindeutig, dass sie heute Abend ausgehen sollte, Aufräumen hin oder her. Vivian sah auf die Uhr. Wenn sie sich furchtbar beeilte, würde sie die S-Bahn um 17:54 Uhr noch erreichen. Das gab den Ausschlag. Sie hatte sich zwar kein Kostüm besorgt, aber zur Not konnte sie als Clown gehen. Clown war so ungefähr die unsexyste Verkleidung, die man sich vorstellen konnte, aber das war jetzt auch egal.
Sie klaubte blau geringelte Socken und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt aus der Kiste. Dann lief sie ins Schlafzimmer und öffnete den wackligen Ikea-Schrank, um sich von Felix Schuhe auszuleihen. Es klapperte und nacheinander fielen eine Tube Gleitgel, ein Massagestab für Männer und Felix’ Kamm heraus. Den benutzte er, um seine oben schütter werdenden Haare nach hinten zu streichen. Sie nahm ein Paar rote Freizeitschuhe heraus und warf die Utensilien zurück in den Schrank.
Mit einem geübten Rundumblick vergewisserte sie sich, dass keine Fenster oder Terrassentüren mehr offen standen, und schaltete das Radio aus. Dann schlug sie die Tür hinter sich zu und schwang sich auf ihr klappriges Fahrrad, um die S-Bahn zum Hauptbahnhof zu erwischen.

Eva Engelken
Eva Engelken: „Drei Küsse für Herkules“, 464 Seiten, Verlag Edition Eva & Adams, ISBN-10: 3981990218, 15,99 Euro
2 ANKUNFT DER GÖTTER
„Nach oben lenken“, kreischte das Eheweib mit schriller Stimme, und ihr Gatte tat, wie ihm geheißen. Doch die altertümliche Cabriolimousine trudelte wie ein schlecht gebauter Papierflieger um die eigene Achse und landete krachend im Wipfel einer Pappel. Dio, der mit seinem seidenen Reisekissen auf der gepolsterten Rückbank saß, schrak auf, als links und rechts die Zweige über ihm zusammenschlugen. Mehrere Zweige gaben knirschend nach und das schwere Gefährt rutschte eine Astreihe tiefer, als die Gattin erneut schrie: „Klettert raus, bevor es explodiert!“
„Mein Auto explodiert nicht“, erwiderte ihr Gatte, doch sie schob ihn einfach nach draußen. Dio überlegte sorgenvoll, ob wirklich eine Gefahr bestand oder ob er sitzen bleiben konnte. Aber sicher war sicher und außerdem musste er dafür sorgen, dass sie ihr geheimes Ziel erreichten. Also raffte auch er seine neue zitronengelbe Reisetunika hoch und hievte seinen Bauch über das Fenstersims nach draußen.
Da standen sie nun. Auf dem Ast einer Pappel. Im kalten Februarwind und Nieselregen in Deutschland. Zeus, griechischer Chefgott und in offizieller Mission des Götterrats unterwegs, Hera, seine Gemahlin, und Dio, der Weingott mit den kurzen Beinen, in der Antike als Dionysos verehrt. Einst stolze Bewohner des Olymps und zahlreicher vornehmer Tempelanlagen. Jetzt abgehalfterte Gesandte eines zerstrittenen Gremiums von Unsterblichen, die froh sein konnten, in einer Athener Seniorenresidenz Zuflucht gefunden zu haben, nachdem die griechische Regierung begonnen hatte, ihre Tempel und Inseln an Investoren zu verscherbeln.
Dio warf einen Blick zur Seite. Das schicke Auto hatten sie nur bekommen, weil die klamme griechische Regierung sogar ihre Ministerkarossen verkauft hatte, woraufhin Hermes, der Götterbote und Gott der Diebe, einige Fahrzeuge beiseitegeschafft hatte.
Unter ihnen fiel eine bräunliche Böschung zu einem Weg zwischen kahlen Feldern ab, der sich nach beiden Richtungen im Dämmerlicht verlor.
Er drehte den Kopf zur anderen Seite, wo der Obergott stand. Seine gerunzelten Brauen schienen deutlich zu sagen, dass ihm die Lage gar nicht behagte. Das war kein Wunder. Das weiße Gewand, das der alte Mann mit einer korinthischen Goldspange an den Schultern zusammengerafft hatte, flatterte unwürdig im Wind wie ein Stück Wäsche auf der Leine. Und die Lederriemen seiner vornehmen kalbsledernen Sandalen hatten sich beim Herausklettern gelöst. Sollte er Zeus anbieten, die Bänder zuzubinden? Dio entschied sich dagegen. Der Herr des Olymps war cholerisch – genau wie sein Eheweib. Und er reagierte allergisch, wenn er den Eindruck bekam, man wollte ihn bevormunden. Zeus hob die Hand, und seine Waffe blitzte auf – der goldene Blitz- und Wetterstab, ein seit der Antike gefürchtetes Symbol seiner Herrschaft.
Mit dem Furchteinflößen war es allerdings nicht mehr weit her. Dio wusste, dass der rund 30 Zentimeter lange gezackte Stab Probleme mit der Zündung hatte. Er beobachtete, wie Zeus den Wettermacher mehrmals prüfend drehte und schüttelte.
Der Wind frischte auf und unvermittelt löste sich zischend ein Blitz aus dem Stab. Er raste wie eine Silvesterrakete in die neblige Dämmerung. Ein gedämpfter Knall ertönte und irgendwo flackerte kurz ein Licht auf. Ein paar Krähen flatterten kreischend davon und stoben in den düsteren Nachmittagshimmel.
„Kannst du nicht aufpassen? Wärst du ein Mensch, hätte man dir längst den Waffenschein weggenommen“, zeterte Hera. Zeus war seit gut 4.000 Jahren mit ihr verheiratet. Ihr magentafarbenes Gewand flimmerte in den Augen, wenn man länger hinsah. Die Göttermutter liebte kräftige Farben. Das passte zu ihrem dunkelroten Haar. Und es entsprach zu hundert Prozent ihrem Temperament. Ins Gesicht hätte Dio es ihr nicht zu sagen gewagt, aber Tatsache war, sie war aufbrausend und schrecklich eifersüchtig. Sogar jetzt, wo sie nach Deutschland gekommen war, hätte sie ihren Gatten vermutlich am liebsten Tag und Nacht bewacht. Auch das wusste Dio.
Es zischelte, und schneller, als man gucken konnte, glitten zwei purpurfarbene Pythonschlangen aus dem Cabrio und wanden sich um die Füße der Göttermutter. Die beiden Schlangen waren Heras Leibwächter und dienten ihr als Sitzgelegenheit. Oder als Gehhilfe. Auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
Zeus grollte wie eine Gewitterwolke und die Cabriolimousine knirschte in den Ästen.
„Vorsicht“, brummte er und richtete einen Blick auf den Nachbarast, der genügt hätte, Wasser gefrieren zu lassen. Doch Hera schien nicht im Geringsten beeindruckt. Dafür schepperte es in der Entfernung, als hätte jemand einen gigantischen Stapel Töpfe auf den Küchenboden geworfen.
Heras rote Mähne wehte, als sie den Kopf wandte. „Jetzt hast du auch noch einen Unfall produziert. Der Götterrat wird entzückt sein“, sagte sie und zeigte geradeaus.
Zeus und Dio drehten den Kopf in die Richtung, in die Heras Arm wies. Einen Steinwurf von der mächtigen Pappel entfernt leuchtete das Feuer, und jetzt roch Dio auch den Qualm.
„Ich brauche Licht, um die Dunkelheit zu vertreiben“, grummelte Zeus. Er hob seinen Stab in die Höhe und sandte einen Blitz in die Wolken, der hell genug war, ein ganzes Fußballstadion in Tageslicht zu tauchen. Für einen Sekundenbruchteil war die Umgebung deutlich zu sehen. Ihre Pappel war die größte einer ganzen Allee, die direkt zu einer flachen Autobahnbrücke führte und in eine Unterführung mündete. Nur ein schmales Fahrzeug hätte hier durchfahren können. Doch jetzt war der Weg versperrt. An der Stelle, wo die Unterführung begann, loderten Flammen. Darüber stieg eine gewaltige schwarze Qualmwolke auf und hüllte die Autobahn ein. Sirenengeheul wurde lauter und zuckende Blaulichter spiegelten sich in dem zerbeulten Metall mehrerer ineinandergeschobener Autos.
„Da ist offenbar ein Unfall passiert, da muss ich helfen“, bemerkte Zeus mit krampfhaft zusammengekniffenen Augen. Er hob seinen Stab und ein mächtiger Regenguss prasselte auf das Chaos nieder. Zischend stiegen Dampfwolken empor, und es roch nach Gummi und Teer, doch die grüngelben Flammen in der Unterführung flackerten munter weiter. Plötzlich drehte der Wind, und mit einem Mal ging ein kräftiger Guss auf die drei Reisenden in der Pappel nieder. Hera versuchte, Zeus den Blitzstab aus der Hand zu reißen, während ihre Schlangen blitzschnell den Stamm hochglitten und mit ihren Leibern eine Art Regenverdeck über ihr bildeten. Dio zuckte zusammen. Sein feines Reisekissen wurde nass. Und die neue Reisetasche aus Ziegenleder. Verzweifelt bemühte er sich, das Faltdach wieder über den Wagen zu ziehen, um wenigstens die Rückbank zu schützen, doch es war zu spät. Zeus’ Regenschauer hatte das Innere des Wagens so gründlich eingeweicht wie ein Vollbad. Hoffentlich fuhr der Wagen noch. Und hoffentlich war das Navi immer noch auf Düsseldorf eingestellt.
Anders als Zeus und Hera glaubten, lenkte ihre Programmierung sie nicht nach Berlin, sondern nach Düsseldorf. Dafür hatte Hermes, der den Fuhrpark der Götter beaufsichtigte, gesorgt, nachdem Dio ihn darum gebeten hatte. Wäre Zeus nicht am Steuer eingenickt und wäre sein Kopf nicht auf irgendeinen Hebel gesunken, wären sie längst in dem Hotel in Düsseldorf, das Dio gebucht hatte. Von dort aus könnte er einem sehr alten Freund helfen, was zwar nichts mit ihrer offiziellen Reise zu tun hatte, ihm aber sehr am Herzen lag.
Ein krächzendes Geräusch aus dem Lautsprecher am Armaturenbrett erweckte seine Aufmerksamkeit. Er kletterte schnaufend zurück ins Auto und auf den Fahrersitz und beugte sich nach vorn.
„Allet klar bei euch?“, meldete sich Hermes’ verzerrt klingende Stimme. Auf dem kleinen Bildschirm erschien ein freundliches, zerknittertes Gesicht unter einer Schiebermütze. Links und rechts über den abstehenden Ohren flatterten zwei zerrupfte Flügelchen.
„Leider nein, alles läuft schief“, sagte Dio und fühlte, wie die Nässe von der Sitzfläche in seine Kleidung kroch. „Zeus hat das Auto in den Baum gefahren.“
„Na, dit habt ihr ja jut hinjekriegt. Wofür hab icke euch son schniekes Jefährt besorjt? Fährt denn die Karre noch?“ Das Gesicht im Bildschirm putzte sich kräftig die Nase.
„Woher soll ich das wissen?“, fragte Dio und überlegte, ob die weiche Lederbespannung des Lenkrads und die seitlich daraus hervorwachsenden Hörner von einem Satyr stammten. Möglich war alles, seit diese Investoren sogar seine Lieblingsinsel gekauft hatten, wo für Menschenaugen unsichtbar seine Nymphen und ziegenbeinigen Satyrn hausten.
„Drück mal son jrünen Knopf“, wies ihn Hermes an und zeigte mit dem Daumen über seine magere Schulter in Richtung Lenkrad.
Dio fand einen grün blinkenden Knopf und drückte gehorsam. Anstelle von Hermes’ Gesicht ratterten Zahlen und Zeichenkolonnen über den Bildschirm. „System startklar“, meldete der Bildschirm nach einigen Sekunden, und Hermes’ Gesicht erschien wieder.
„Dat sieht jut aus, ihr könnt starten. Aber lasst den Alten nicht mehr ans Steuer!“ Er hob zwei Finger grüßend zur Mütze und sein Bild verschwand. Die Straßenkarte wurde wieder sichtbar und eine quäkende Stimme sagte: „Noch 20 Kilometer bis Düsseldorf.“ Dio dachte an eine heiße Sauna und ein Gläschen Sekt, doch Heras Kreischen vertrieb die angenehme Vorstellung.
„Düsseldorf? Wir müssen nach Berlin! Und zwar so schnell, wie diese Kiste fährt. Oder sollen wir warten, bis auch die letzten Tempel zu Golfplätzen umfunktioniert worden sind? Los, los!“
Der Göttermutter ließ ihre Schlangen auf die Sitze gleiten und winkte Zeus, dass er hinten Platz nehmen solle. Offenbar hatte Zeus ein schlechtes Gewissen, denn er setzte sich widerspruchslos auf die nasse Rückbank und fuhr damit fort, seinen Blitzstab zu untersuchen.
Dio biss sich auf die Lippen. Jetzt musste er Farbe bekennen, warum sie hier waren und nicht in Berlin. Verdammt, es wäre so einfach gewesen, dem Götterpaar seinen Plan zu gestehen, wenn sie direkt am bequemen Hotel gelandet wären und nicht in diesem Baum. Aber jetzt half alles nichts. Er nahm allen Mut zusammen, den er finden konnte, und guckte Hera in die nachtschwarzen Augen. „Es ist wegen Herk. Er wohnt gerade in Düsseldorf und ich will ihn treffen.“
Ein Blitz, der sich versehentlich von Zeus’ Stab gelöst hatte, fuhr krachend in den Wipfel der Pappel. Die Krähen, die irrtümlich angenommen hatten, der Baum sei wieder sicher, stoben erneut krächzend auf, und das Cabrio rutschte knirschend einen Ast tiefer. Doch das war nichts gegen Heras kalte Wut.
„Herakles? Dieser verdammte Bastard?“, presste sie hervor. „Und wozu willst du ihn treffen, zum Saufen oder was?“
Dio seufzte. Herakles, kurz Herk genannt, war eines der vielen außerehelich gezeugten Kinder von Zeus. Hera hasste ihn für jedes einzelne, doch Herk war ihr ein besonderer Dorn im Auge, da es ihr nicht gelungen war, ihn vor knapp 4.000 Jahren um die Ecke zu bringen. Noch nicht einmal die zwölf Challenges, später auch Herkulesaufgaben genannt, hatten vermocht, ihn zu töten.
Dafür hatte Dio gesorgt. Und er hatte etwas getan, das in den Augen Heras noch viel schlimmer war. Er hatte ihr das Baby an die Brust gelegt, wo der kleine Herk sofort wie ein Wilder zu nuckeln begonnen hatte. Als Hera bemerkte, wen man ihr untergeschoben hatte, hatte sie den ganzen Olymp zusammengebrüllt, aber es war zu spät gewesen. Die wenigen Schlucke ihrer göttlichen Milch hatten genügt, um dem Halbgott Herakles die Kraft eines Titanen zu verleihen.
Auf Zeus hatte die Erwähnung Herks eine ganz andere Wirkung. Er lehnte sich an die Rücklehne und breitete die Arme aus, die vielen Furchen seines Gesichts zu einem breiten Lächeln verzogen. „Herakles, natürlich! An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht, er wird uns helfen. Mit ihm wird es uns gelingen, unsere Tempel und Insel den Spekulanten wieder zu entreißen.“
Seine Stimme begann zu dröhnen, wie immer, wenn ihn die Rührung übermannte.
„Ich habe eine Vision“, fuhr der alte Obergott fort, und seine lockige graue Mähne wehte im Wind. „Mit Herk wird es gelingen, die Politeia dem Volk zurückzugeben. Im aufs Neue vereinten Europa. Nicht die Armen hier und die Hochfinanz dort, sondern alle vereint und mit gleichen Rechten im Garten meiner Prinzessin Europa. Lasst uns zu Herk fahren und ihm seine Berufung verkünden.“
Hera starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. „Alter, komm runter. Die goldenen Zeiten der Götter sind vorbei. Von unserer Magie ist fast nichts mehr übrig. Du machst dich lächerlich mit deiner Rettungsaktion. Sieh lieber zu, wie du dieses Feuer gelöscht kriegst.“
Durch den Nebel waren gelblichgrüne Flammen zu erkennen. Auf der Autobahn und rund um die Brücke wieselte eine Gruppe uniformierter Gestalten, die das Gelände mit einem weiß-roten Band absperrte und die Autos zur Seite winkte, bis schließlich kein Wagen mehr auf diesem Straßenabschnitt stand.
„Jetzt begreife ich das Phänomen“, murmelte Zeus. „Der Brand lodert unter der Brücke, deshalb vermögen meine Regenfluten nichts auszurichten. Aber das haben wir gleich.“
Er kurbelte das Seitenfenster runter und streckte den Blitzstab hinaus. „Schluss mit dem Feuer“, sagte er. Es zischte und knallte unter der Brücke. Funken stoben auf, es krachte und die Flammen erstarben. Quer über die rechte Fahrspur zog sich ein Riss.
„Das hätten wir“, sagte Zeus und zog zufrieden die Hand zurück. „Gemeinsam werden wir jetzt um den Helden uns kümmern.“
Dio räusperte sich. „Das mit Herk wird schwierig. Dein Sohn hat sich gerade als Mensch reinkarniert und hat bestimmt anderes zu tun, als für dich den Superhelden zu spielen, Zeus.“ Er überlegte, welchen Knopf er drücken sollte, als eine blinkende Schrift auf dem Bildschirm erschien: „Nebelmaschine anwerfen!“
Verflixt, das Cabrio brauchte ja Tarnung. Das hatte ihm Hermes eingeschärft. Ohne Tarnung würden die Menschen Ufo-Alarm schlagen, wenn die Limousine durch die Luft flog, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen.
Ein violetter Knopf mitten auf dem Lenkrad blinkte einladend und Dio drückte ihn. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und das Motorengeräusch erstarb.
„Kümmern?“, sagte Hera mit vor Hohn triefender Stimme. „Du meinst wohl, du hättest ihn besser gar nicht erst zeugen sollen. Mit dieser Schlampe!“
„Schweige, Weib, ich rede mit ihm“, sagte Zeus.
„Nein, das mach ich lieber alleine“, sagte Dio und drückte hektisch einen anderen Knopf, in der Hoffnung, dass es diesmal klappen würde. „In Düsseldorf ist Karneval, ich gehe mit ihm feiern. Ihr könnt einfach nach Berlin weiterfahren.“
Hera fuhr auf wie eine Furie. „Karneval feiern? Wenn überhaupt, dann in Köln und nicht in Düsseldorf, das weiß doch jedes Kind! Aber jetzt ist Feiern das Letzte, woran wir denken können. Es wird schon schwierig genug werden, die Minister dazu zu bringen, Gelder für den Rückkauf unserer Inseln freizugeben, bevor die Unionsmitglieder sich restlos zerstreiten. Da zählt jede Minute.“
Im Rückspiegel sah Dio, wie Zeus die buschigen Augenbrauen zusammenzog. Er wurde von seiner eifersüchtigen Gemahlin bewacht wie ein Gefangener im Hochsicherheitstrakt. Witterte er womöglich den Duft der Freiheit? Eine Chance, sich in Düsseldorf eine Auszeit von Hera zu nehmen?
Es schien, als hätte er genau richtig vermutet. Unvermittelt brach Zeus in lautes Stöhnen aus. „Mein Ischiasnerv!“, jammerte er. „Ich muss ihn mir eingeklemmt haben, als wir mit dem Eukalyptusbaum kollidiert sind.“
Hera schnaubte. „Du spielst Theater, mein Bester. Wenn du deine Gymnastikübungen machen würdest, hättest du diese Probleme nicht. Außerdem ist dieser Baum hier eine Pappel. Und du, Dio …“, sie tippte ans Lenkrad, „musst den Startknopf drücken und die Steuerhörner nach oben ziehen, sonst kommen wir hier nie raus. Oder lass einfach mich ans Steuer“, fügte sie seufzend hinzu. Dio rutschte auf den Beifahrersitz und beobachtete erleichtert, wie sich das Faltdach über ihre Köpfe schob, während ein sattes Motorengeräusch die Karosserie vibrieren ließ. Langsam erhob sich das Gefährt an den schabenden Ästen vorbei, gleich würden sie die glitzernde Stadt von oben sehen.
„Du herzloses Weib, mach du lieber deine Übungen“, grummelte Zeus von der Rückbank. „Dann musst du mir nix vorheulen, dass du nicht mehr in deine Kostüme passt! Und das lass dir gesagt sein: Ich brauche Ölbäder und ein Gymnasion, bevor ich nach Berlin fahre und dort in Symposien sitze. Ich habe entschieden: Du fährst nach Berlin und wir fahren zu Herakles.“
„Das ist eine gute Idee, mein Schatz“, sagte Hera in einem Tonfall, als lobe sie einen Erstklässler für seine Entscheidung, künftig den Schulweg alleine zu meistern, und drückte einen weiteren Schalter. Sofort stieg Dampf rings um den Wagen auf. Der eben noch dunkle Himmel färbte sich milchig weiß. Die Limousine gewann an Höhe. Die blinkenden Fahrzeuge und Menschen wurden kleiner und verschmolzen schließlich mit der Dunkelheit. Dio linste durch die Scheibe nach unten und überlegte, ob die verschwommen zu erkennenden Lichter schon zu Düsseldorf gehörten.