Buchauszug Simon Sinek: „Gute Chefs essen zuletzt. Warum manche Teams funktionieren – und andere nicht“

Buchauszug „Gute Chefs essen zuletzt“ von dem Briten Simon Sinek, der als Journalist und Unternehmensberater in New York lebt. Als Kulturanthropologe unterrichtete er zuletzt an der Columbia University strategische Kommunikation.

 

Simon Sinek (Foto: Privat)

Führung Lektion 2: Wie der Chef, so die Unternehmenskultur

Ich, nicht du. Mir, nicht uns.

 

Er wollte an der Macht sein. Er wollte der Führer sein. Und niemand konnte sich ihm in den Weg stellten … auch nicht der momentane Führer. So kam Saddam Hussein im Irak an die Macht. Aber schon bevor er die Macht ergriff, schmiedete er strategische Allianzen, die seine Position stärken und seinen eigenen Aufstieg sicherstellen würden. Einmal an der Macht, überschüttete er seine Alliierten mit Reichtum und Ämtern, um sie „loyal“ zu halten. Er nahm für sich in Anspruch, auf der Seite des Volkes zu stehen. Aber das waren nur Lippenbekenntnisse. Er stand für sich selbst, für den Ruhm, den Nachruhm, die Macht und den Reichtum. Alle seine Versprechen, anderen zu dienen, waren Teil seiner Strategie, alles an sich zu reißen.

 

Machtwechsel schaffen Klima des Misstrauens

Das Problem bei solchen Machtwechseln ist, dass sie ein Klima des Misstrauens und der Paranoia schaffen. Obwohl möglicherweise alles funktioniert, solange der Diktator an der Macht ist, befindet sich das ganze Lande, wenn er erst einmal entmachtet ist, über Jahre hinweg auf unsicherem Grund. Geschichten wie diese sind nicht exklusiv instabilen Ländern etwa beim Aufstieg eines Diktators vorbehalten, oder Pay-TV-Serien. Allzu oft spielen sich ähnliche Szenarien in den heutigen Konzernen ab. Der Aufstieg von Stanley O´Neal bei Merill Lynch im Jahr 2001 ist nur ein Beispiel dafür.

 

Geboren inmitten des Babybooms in der Kleinstadt Wedowee in Ost-Alabama, studierte O´Neal mit einem Stipendium von General Motors an der Harvard Business School. Er bekam später einen Job bei GM und stieg rasch auf in der Hierarchie der Finanzabteilung der Firma. Aber er hatte andere Ziele, größere Ziele. Und so ging er an die Wall Street, obwohl er kein wirkliches Interesse und keine Erfahrung im Aktiengeschäft hatte. Als einer von wenigen Afroamerikanern, die ihren Weg an die Spitze (#138) des Bankensektors machten, hätte O´Neal die Chance gehabt, eine der großen Führungspersönlichkeiten unserer Zeit zu werden. Aber er wählte einen anderen Weg.

 

1986 trat er bei Merrill Lynch ein, und innerhalb weniger Jahre stieg er zum Chef der Abteilung für Ramschanleihen (die ironischerweise unter seiner Führung die größte Verwalterin von Ramschanleihen wurde, seit Michael Milken von Drexel Burnham Lambert sich 1990 des Wertpapierbetrugs schuldig bekannte). In der Folge übernahm O´Neal die große Maklerabteilung von Merrill und wurde der Finanzdirektor der Firma. Als in den neunziger Jahren die Internetblase platzte, entließ er rasch Tausende von Angestellten, was seinen Chef – den damaligen Firmenchef David Komansky – durch seine Unerschrockenheit beeindruckte, und den Ruf, den er sich als rücksichtsloser Manager zu machen begonnen hatte, einzementierte. Mitte 2001 stieg er zur Nummer zwei im Unternehmen auf. Aber er wollte mehr.

 

Firmenkultur, in denen die Mitarbeiter gegeneinander kämpfen

O´Neal war die Unternehmenskultur, die auf die Angestellten ausgerichtet war, im Weg, sie war ein Hindernis für ihn. Merill Lynch, liebevoll „Mutter Merrill“ genannt (ein Verweis auf Tage, als die Kultur menschlich und im Gleichgewicht war), war ein sehr guter Arbeitsplatz. Es war aber kein Geheimnis, dass O´Neal diese Kultur verachtete, sie war im zu weich, zu wenig fokussiert, etwas, das ihm im Weg war. Wenn kein Interesse an der Förderung einer konkreten, gesunden Unternehmenskultur besteht, dann geht es nur um den Wettbewerb, und es war tatsächlich eine kompetitive Atmosphäre, was er schuf. In der Kultur, die er wollte, standen die Angestellten von Merrill nicht nur mit Außenstehenden in scharfem Wettbewerb. Es war eine Kultur, in der die Menschen intensiv gegeneinander kämpften.

 

Nochmals, es ist die Unternehmensspitze, die innerhalb einer Organisation den Ton vorgibt, und O´Neal gab den Ton vor, seine eigenen Interessen vor diejenigen der anderen zu stellen. Bei den Attacken am 11. September wurde Merrill schwer getroffen, hunderte Angestellte wurden verletzt, drei getötet. Und doch entließ O´Neal inmitten der emotionalen Turbulenzen, die dem tragischen Ereignis folgten, wie auch andere an der Wall Street notierte Unternehmen, tausende Angestellte und schloss Firmenbüros.

 

Wenn Angestellte ihren Chef nicht ansprechen dürfen

O´Neal spielte seine Rivalen aus und im Jahr 2002 krönte er seinen Aufstieg: Der Vorstand von Merrill schickte O´Neals alten Freund Komansky in die Frührente und machte O´Neal zum Vorstandsvorsitzenden und geschäftsführenden Vorstand. Durch den Abgang des geselligen Komansky, war die kulturelle Transformation nahezu abgeschlossen. Alles andere als perfekt, ging Komansky doch zumindest bisweilen hinunter ins Café der Angestellten, um mit den anderen gemeinsam zu essen. Für O´Neal hatte dieses Verhalten keinen Wert. Er hatte kein Interesse an einer Verbrüderung mit den Leuten. Stattdessen benutzte er einen privaten Aufzug für sein Büro im zweiunddreißigsten Stock. Angestellte wurden auch angewiesen, ihn nicht anzusprechen, (#139) wenn sie ihm im Flur begegneten, und ihm aus dem Weg zu gehen, wenn sie ihn trafen. Als Mensch, der kein Privileg ungenutzt ließ, flog O´Neal am Wochenende mit dem Firmenflugzeug nach Martha´s Vineyard, die Insel, auf der er wohnte.

Isoliert an der Spitze – Furcht und Verfolgungswahn

Wir arbeiten, um die Vision eines Führers zu verwirklichen, der uns inspiriert, und wir torpedieren einen Diktator, der uns kontrollieren will. Da das Vertrauen geschwunden war, sollte es keine Überraschung sein, dass die größte Gefahr für O´Neal, wie in jeder Diktatur, von innen kam. In einem Kreis der Sicherheit arbeiten die Angestellten, um ihren Chef zu schützen, als natürliche Reaktion auf den Schutz, den ihnen ihr Chef bietet. Das war bei Merrill zu O´Neals Zeiten nicht der Fall. O´Neals direkte Untergebene übten hinter den Kulissen Druck auf den Vorstand von Merrill aus, seine Position zu untergraben. Es dauerte nicht lange, bis O´Neal davon Wind bekam und seine Opponenten zermalmte. Bald isolierte sich O´Neal völlig an der Spitze und ließ es zu, dass die Kultur von Merrill nahezu ausschließlich dem Rausch ausgesetzt war, den Dopamin hervorruft, sowie der Furcht und dem Verfolgungswahn, den Cortisol verursacht. Die guten Tage von „Mutter Merrill“ waren lange vorbei.

 

Damals war die Aufmerksamkeit der Unternehmensführung auf die Schaffung jener Anleihenpakete gerichtet, die den Aufstieg und den Zusammenbruch des Hypothekenmarktes für Eigenheime auslösen sollten. Ist es verwunderlich, dass die Gesellschaft nicht in der Lage war, die Gefahren abzuwenden, die ihr drohten? Im Sommer des Jahres 2006 warnte der Chef der Anlagenabteilung, Jeff Kronthal, O´Neal vor den Gefahren, die drohten. Anstatt mit Kronthal zusammenzuarbeiten oder Sicherungen zum Wohl der Firma einzubauen, feuerte ihn O´Neal. O´Neal glaubte, dass nur er in der Lage war, Gefahren abzuwenden, und so zog er die Schrauben weiter an, um alles unter Kontrolle zu halten.

Simon Sinek: „Gute Chefs essen zuletzt – Warum manche Teams funktionieren – und andere nicht“, Redline Verlag, 352 Seiten, 24,99 Euro  https://www.m-vg.de/redline/shop/article/12655-gute-chefs-essen-zuletzt/

 

Im Oktober 2007 verkündete die Firma, dass sie im dritten Quartal über 2 Milliarden Euro verloren hatte und Anlagen in Höhe von 8 Milliarden Euro abschreiben musste. Letztlich war O´Neals Herrschaft zu einem ebenso plötzlichen wie unrühmlichen Ende gekommen. Er hatte es erfolgreich geschafft, sich von seinen Angestellten und seinem Vorstand zu isolieren, ein Tatsache, die durch seine Entscheidung besiegelt wurde, bei Wachovia wegen einer eventuellen Fusion zu sondieren, ohne es zuerst mit den Mitgliedern des Vorstands zu diskutieren. Er hatte damit endgültig jeden Rückhalt verloren. Wie viel kostete all die Kontrollsucht? O´Neal verließ Merrill Lynch in Schimpf und Schande, aber mit einem Abfindungspaket von über 150 Millionen Euro.

 

Amüsante Ironie: Riesige Vorstands-Belohnungen selbst für Scherbenhaufen

Es ist eine amüsante Ironie, dass Firmenchefs, die ein Anreiz-Modell nach dem Motto „Bezahlung nach Leistung“ in der Firma vertreten, selbst riesige Abfertigungen erwarten, wenn sie das Unternehmen als Scherbenhaufen zurücklassen. Warum verankern die Aktionäre und Vorstände nicht in den Verträgen ihrer geschäftsführenden Vorstände eine Verbotsklausel für Abfertigungszahlungen für den Fall eines unehrenhaften Ausscheidens? Wäre das nicht folgerichtig und im besten Interesse von Firma und Aktionären? Aber ich schweife vom Thema ab.

 

O´Neal verkörperte eine extreme Spielart des Denkens, das von der (#140) Wall Street Besitz ergriffen hatte und das ihn am Ende zu Fall brachte. Er hatte sich von den Menschen isoliert, die er führte und, noch schlimmer, er hatte den internen Wettkampf so erfolgreich angestachelt, dass es kein Wunder war, wenn sich die Menschen, die früher in seinem Team waren, gegen ihn wandten. Wie ich bereits zeigte, liegt das Problem nicht darin, wie eine Firma ihr Geschäft abwickelt. Das Problem sind die Beziehungen innerhalb des Unternehmens – beginnend bei der Führung.

 

Je mehr Aufmerksamkeit Führungskräfte auf seinen eigenen Reichtum oder seine Macht richtet, desto weniger benehmen sie sich wie wahre Führungspersönlichkeiten und desto mehr Züge eines Tyrannen nehmen sie an. Mark Bowden schrieb im Atlantic Monthly einen hervorragenden Text über Saddam Hussein. In ihm beschreibt er, wie der tyrannische Führer „nur existiert, um Reichtum und Macht zu sichern“. Genau das ist das Problem. „Macht“, erklärt Bowden, „kapselt den Tyrannen nach und nach von der Welt ab.“ Wenn die Distanz erzeugt wurde, entsteht, wie wir wissen, Abstraktion, und bald danach setzt die Paranoia ein. Der Tyrann glaubt, dass sich die Welt gegen ihn verbündet hat, das treibt ihn dazu, sich noch mehr von den Menschen abzuschotten. Er errichten stärkere und stärkere Schutzmechanismen um seinen inneren Zirkel. Wenn die Isolation zunimmt, leidet die Organisation.

 

Böse Chefs, die Menschen glauben machen, sie haben keine Chance

Ohne Schutz von außen sind die Menschen innerhalb der Organisation nicht bereit, zusammenzuarbeiten. Stattdessen ist der Konkurrenzkampf der beste Weg voranzukommen. Unter diesen Umständen wird der Erfolg, den einzelne Individuen in der Gruppe haben, nicht mit Gratulationen bedacht, sondern mit Eifersucht. Wenn ein Führer einfach böse ist oder die Menschen glauben, dass sie keine Chance haben, in den inneren Zirkel (#141) aufgenommen zu werden, dann sind die Voraussetzungen für eine Rebellion gegeben.

 

Kultur der Unsicherheit – keine sichere Grundlage für Selbsterhalt

Aber wenn einerseits die Möglichkeit besteht, in den inneren Zirkel aufgenommen zu werden, andererseits aber unsicher ist, ob wir nicht den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden, wird uns jede Bewegungsfreiheit genommen. Die Bewegung im Gras, die Angst vor dem Morgen sind es, die die Cortisol-Ausschüttungen in unsere Blutbahn auslösen. Es ist das Cortisol, das uns paranoid macht, fixiert auf die Selbsterhaltung wie der isolierte Führer an der Spitze. Das ist es, was O´Neal bei Merrill tat. Er eine Kultur, die die Sicherheit des Schutzes bot, in eine Kultur der Unsicherheit. Wie im Fall des Irak blieb keine sichere Grundlage für den Selbsterhalt zurück. Es gab einfach nicht genug Vertrauen, um die Probleme zu überwinden.

 

Der Aufstieg und Fall von O´Neal ist nicht nur ein Geschichte darüber, wie der Ehrgeiz eines einzelnen, eine Firma zu Fall bringen kann. Letztlich leiden alle und alles unter diesen Umständen. Wenn man die gesamte Kontrolle auf die Spitze konzentriert, kann es nur ein Ergebnis geben: den Zusammenbruch.

 

Wahre Macht

David Marquet war U-Bootfahrer bei der Armee. Er graduierte als einer der Besten seines Jahrgangs auf der Marineakademie und ist ein smarter Bursche. Dank seiner Fähigkeiten stieg er in der Hierarchie der US-Navy auf. Da er  die richtigen Antworten kannte, war er in der Lage, gute Anleitungen und richtige Befehle zu geben. Er war ein Führer, weil er die Kontrolle behielt (so war es ihm zumindest beigebracht worden).

 

Wen die Marine belohnt

Die Marine belohnt, wie viele andere Organisationen, kluge, zielgerichtete Menschen durch Anerkennung und Beförderung. So wurde auch Kapitän Marquet anerkannt und befördert. Er arbeitete sich nach oben und es wurde ihm die größte Ehre für einen Seeoffizier zuteil: sein eigenes Kommando. Er sollte Kapitän des nuklear getriebenen Jagd-U-Bootes der Los-Angeles-Klasse USS Olympia werden. Die Navy hat große U-Boote mit ballistischen Raketen, die sogenannten „Boomer“. Die kleineren, wendigeren U-Boote sollen die Boomer der anderen Seite jagen und, wenn es soweit kommt, vernichten, bevor sie ihre Raketen abfeuern können. Es war ein aufwändiges Katz-und-Maus-Spiel, das sich auf alle Meere der Erde erstreckte. Und Kapitän Marquet war nun eine der Schlüsselpersonen in diesem Spiel.

 

Um sich auf seine große Aufgabe vorzubereiten, studierte Kapitän Marquet ein Jahr lang die Systeme und die Mannschaft von Olympia. Wie es typisch für ihn war, arbeitete er hart, um so viel wie möglich zu erfahren. Er studierte jeden Draht, jedes Rohr und jeden Schalter auf der Olympia. Er vertiefte sich in die Personalakten, um so viel wie möglich über die Crew zu erfahren. Wie viele Menschen in Führungspositionen glaubte er, dass er ebenso viel oder mehr als seine Mannschaft wissen musste, um ein glaubhafter Führungsoffizier zu sein. Angesichts der Wichtigkeit der neuen Stellung und der damit verbunden Ehre, stellte er in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar.

 

Kaum zwei Wochen bevor Kapitän Marquet seinen Dienst auf der Olympia antreten sollte, bekam er einen unerwarteten Anruf der Entscheidungsträger. Die Pläne waren geändert worden. Letztlich würde er nicht Kapitän auf der Olympia werden. Stattdessen bekam er den Befehl, das Kommando auf der USS Santa Fe zu übernehmen, ein etwas jüngeres U-Boot der Los-Angeles-Klasse. Aber es gab noch ein anderes Detail – die Mannschaft der Santa Fe rangierte bei nahezu allen Messungen der Bereitschaft und der Drop-out-Quote an letzter Stelle der ganzen Navy. Während die Besatzung der Olympia als die beste galt, war diejenige der Santa Fe ganz unten, gleichsam eine „Tasmania 1900 Berlin“ der Atom-U-Boote.

 

Die richtigen Befehle

Aber Kapitän Marquet war anpassungsfähig und sah den Wechsel als Chance. Wie viele leitende Manager mit starkem Ego und großem Intellekt, sah er sich als den richtigen Mann, um das Schiff zu übernehmen und die Mannschaft auf Vordermann zu bringen. Wenn er die richtigen Befehle gab, würde er ein gutes Schiff haben. Wenn er noch bessere Befehle gab, würde er ein großartiges Schiff haben … das zumindest war sein Plan.

 

Und so verließ Kapitän Marquet am 8. Januar 1999 in Pearl Harbor festen Boden und bestieg dass 2 Millarden Euro teure U-Boot, das etwas länger als ein Fußballfeld war und das für 135 Besatzungsmitglieder das Heim sein würde. Als eines der neuesten Schiffe in der Flotte hatte die Santa Fe einiges an Ausrüstung an Bord, das sich von dem unterschied, was er für die Olympia studiert hatte. Menschen, die daran gewöhnt sind, alles in der Hand zu haben, und mit einer Situation konfrontiert sind, die sie nicht völlig verstehen, werden oft blind für ihre eigene Ignoranz. Sie werden möglicherweise sogar verheimlichen, was sie nicht wissen, damit ihre Autorität nicht angezweifelt wird. Obwohl er wusste, dass er sich mehr auf die Mannschaft verlassen musste, um seine Wissenslücken zu schließen, behielt sie Kapitän Marquet für sich. Sein technisches Wissen war die Grundlage für seine Autorität als Führungsoffizier; sollte sie verloren gehen, fürchtete er um den Respekt seiner Mannschaft.

 

Nur Kommandieren, statt Fragen stellen 

Wie es den Anschein hat, sterben alte Angewohnheiten nur langsam aus. Anstatt Fragen zu stellen, die ihm halfen, sich das Neue anzueignen, griff Kapitän Marquet auf das zurück, was er am besten wusste – kommandieren – und begann Befehle zu geben. Es schien zu funktionieren. Alles schien glatt zu gehen. Die Mannschaft spurte, ein „Zu Befehl“ hier und eine „Zu Befehl“ dort. Es bestand kein Zweifel, wer der Boss war. Das Serotonin strömte durch die Adern von Kapitän Marquet und er fühlte sich gut.

 

Auf hoher See beschloss Kapitän Marquet, eine Übung durchzuführen. Er ließ den Atomreaktor manuell herunterfahren, um einen Ausfall zu simulieren. Er wollte sehen, wie seine Besatzung unter realen Bedingungen reagieren würde. Am Anfang ging alles gut. Die Mannschaft führte alle notwendigen Kontrollen und Vorsichtsmaßnahmen durch und schaltete auf einen batteriebetriebenen Motor, oder EPM, um. Er war nicht annähernd so stark wie der Atomreaktor, aber der EPM hielt das U-Boot mit geringer Geschwindigkeit in Fahrt.

 

Doch der Kapitän wollte die Mannschaft weiter antreiben, um zu sehen, wie sich die Männer unter Druck verhielten. Er gab dem Deckoffizier, dem Navigationsoffizier und den anderen erfahrenen Offizieren eine einfache Anweisung: „Zwei Drittel voraus.“ Das heißt, er wollte, dass die Mannschaft den Elektromotor mit zwei Dritteln der Höchstgeschwindigkeit laufen ließ. Das Schiff würde schneller fahren, aber die Batterien würden sich früher leeren, was die Dringlichkeit der Arbeiten zum Wiedereinschalten des Reaktors erhöhte.

Der Deckoffizier bestätigte den Befehl und wies den Steuermann an: „Zwei Drittel voraus.“ Nichts geschah. Die Geschwindigkeit blieb dieselbe.

 

Kapitän Marquet kam hinter dem Sehrohr hervor, sah auf das frisch rekrutierte Mitglied der Besatzung, das den Befehl hätte ausführen sollen. Der junge Seemann wand sich in seinem Sitz am Kontrollbrett. „Steuermann“, sagte Kapitän Marquet laut, „wo ist das Problem?“ Der junge Seemann antwortete: „Sir, es gibt keine Einstellung für zwei Drittel.“ Anders als bei allen anderen U-Booten, auf denen Kapitän Marquet gedient hatte, hatte die jüngere Santa Fe keine Zwei-Drittel-Einstellung am batteriebetriebenen Motor.

 

Befehlen nur gehorchen – ohne nötigenfalls zu widersprechen

Kapitän Marquet wandte sich an den Navigationsoffizier, der bereits über zwei Jahre auf dem U-Boot diente und fragte ihn, ob er wusste, dass es keine Zwei-Drittel-Einstellung gab. „Yes, Sir“, antwortete der Offizier. Verblüfft fragte er ihn: „Warum haben Sie dann die Anordnung gegeben?“

„Weil Sie es mir befohlen haben“, sagte der Offizier.

 

…dann können im Ernstfall alle über die Klippe springen

An diesem Punkt musste Kapitän Marquet sich der Realität stellen: Seine Mannschaft war darauf trainiert, Anordnungen zu folgen, er aber war für ein anderes U-Boot ausgebildet. Und wenn alle weiterhin seinen Befehlen blind gehorchten, konnte etwas sehr, sehr Schlimmes geschehen. „Was geschieht, wenn ein Führer in einer strikten Befehlshierarchie unrecht hat? Alle springen über die Klippe“, schrieb Kapitän Marquet später. Wenn er Erfolg haben wollte, musste er lernen, auch den niederen Rängen der Besatzung mehr zu vertrauen als sich selbst. Er hatte keine andere Wahl.

 

Lernen, auch niederen Rängen mehr zu vertrauen als sich selbst

Ein atombetriebenes U-Boot ist keine Firma. Bei einer Firma glauben viele, dass sie einfach das Personal austauschen oder die Technologie erneuern müssen, damit sie besser funktioniert. Es ist eine Option, die von viel zu vielen Führungskräften (#144) von Unternehmen als vorteilhaft angesehen wird. Das setzt auch voraus, dass die richtigen Leute gehen und die richtigen angestellt werden. Was aber, wenn sie gezwungen wären, die Firmen zu steuern wie Kapitän Marquet sein U-Boot? Er konnte nicht zurück an die Küste fahren und eine andere Mannschaft oder ein für ihn besseres Schiff anfordern. Das war die Herausforderung, der sich Kapitän Marquet nun stellen musste. Er wusste viel und war sehr klug, doch alles, was er über Menschenführung wusste, stellte sich als falsch heraus. Er konnte es nicht zulassen, dass seine Mannschaft den Befehlen blind gehorchte – die Folgen wären katastrophal gewesen. Er musste nun alle zum Denken bringen, nicht einfach zum Exekutieren.

 

Nicht exekutieren, sondern denken – wer oben ist, hat zu wenig Information

„Wer an der Spitze ist“, erklärt Kapitän Marquet, „hat alle Autorität, aber keine Information. Wer unten ist“, fährt er fort, „hat alle Informationen, aber keine Autorität. Erst wenn diejenigen, die keine Informationen haben, die Kontrolle aufgeben, kann eine Organisation besser, reibungsloser und schneller arbeiten und rascher ihr maximales Potenzial ausschöpfen.“ Das Problem war, so Kapitän Marquet, dass er „süchtig“ nach Kontrolle war. Die Mannschaft wiederum, war trainiert darauf zu gehorchen, wie das in so vielen Organisationen mit einer falschen Interpretation von Hierarchie der Fall ist. In Organisationen, in denen nur wenige die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen, wird an irgendeinem Punkt etwas geschehen; etwas Übles, das höchstwahrscheinlich völlig vermeidbar gewesen wäre.

 

Man muss wieder an die Unternehmen denken, die dank der Entscheidungen von wenigen egoistischen Managern in ihren Reihen leiden müssen.

 

Keine Verantwortung übernehmen, nur mit dem Finger auf andere zeigen

(#145) Ob diese Individuen nun unmoralisch handeln, ein Verbrechen begehen oder einfach gegen die Interessen der Organisation arbeiten, weder sie noch ihre Vorgesetzten scheinen jemals die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Stattdessen zeigen sie mit dem Finger auf andere. Die Republikaner machen die Demokraten verantwortlich und die Demokraten die Republikaner, wenn die Geschäfte nicht erledigt werden. Die Hypothekenfirmen machten die Banken für den Finanzkrach von 2008 verantwortlich, und die Banken die Hypothekenfirmen. Seien wir dankbar, dass niemand von ihnen verantwortlich für die Atom-U-Boote ist.

 

Nicht die Rolle des Chefs: Befehle brüllen, sondern sicherstellen, dass sich alle zutrauen, ihre Pflicht zu erfüllen

Kapitän Marquet verstand, dass es nicht die Rolle des Chefs ist, Befehle zu brüllen und allein für den Erfolg oder Misserfolg der Mission verantwortlich zu sein. Die Aufgabe des Führers war es vielmehr, die Verantwortung für den Erfolg jedes Mitglieds der Mannschaft zu übernehmen. Die Aufgabe des Führers ist es, sicherzustellen, dass alle gut ausgebildet sind und sich zutrauen, ihre Pflicht zu erfüllen; ihnen Verantwortung zu geben und sie für den Fortschritt der Mission verantwortlich zu machen. Wenn der Kapitän Anleitungen gibt und Schutz gewährt, wird die Mannschaft tun, was notwendig ist, um die Mission voranzutreiben. In seinem Buch Turn the Ship Around! Geht Kapitän Marquet alle Schritte durch, die er setzte – die jede Organisation setzen kann – um ein Umfeld zu schaffen, in dem diejenigen, die mehr wissen, die die tatsächliche Arbeit machen, Entscheidungen treffen dürfen.

 

Kultur der Intention statt Kultur der Erlaubnis

Ein Änderung, die Kapitän Marquet vornahm: Aus der Kultur der Erlaubnis machte er eine Kultur der Intention. Er verbannte buchstäblich das Wort „Erlaubnis“ aus dem Vokabular an Bord der Santa Fe.

 

„Sir, ich bitte um Erlaubnis zu tauchen.“

„Erlaubnis gewährt.“

„Zu Befehl, Sir. U-Boot taucht.“

 

Dieser Standard wurde durch ein einfaches „Sir, ich beabsichtige, das Schiff zu tauchen“ ersetzt.

 

Die Kommandokette blieb intakt. Der einzige Unterschied war ein psychologischer Wechsel der Perspektive. Die Person, die die Handlung ausführte, war nun zu ihrem Eigentümer geworden, anstatt einen Auftrag auszuführen. Auf die Frage, wie weit er dieses Konzept des „Ich beabsichtige“ treibt, weist Kapitän Marquet sofort darauf hin, dass es drei Verantwortlichkeiten gibt, die er nicht delegieren kann. „Ich kann nicht meine rechtliche Haftung delegieren, ich kann nicht meine Beziehungen delegieren und ich kann mein Wissen nicht delegieren. Für alles andere kann ich aber andere die Verantwortung übernehmen lassen“, sagt er.

 

Die besten Führer teilen, was sie wissen

Bemerkenswert und wichtig an diesem Modell ist, dass die drei Verantwortlichkeiten zwar nicht abgegeben, aber geteilt werden können. Das tun die besten Führer. Sie teilen, was sie wissen, fragen kenntnisreiche Menschen um Hilfe, um ihre Pflichten wahrnehmen zu können, und machen die Mitarbeiter miteinander bekannt, damit sich innerhalb des Netzwerks neue Beziehungen bilden können.

 

Schlechte Führer horten, gute Chefs fragen kenntnisreiche Menschen um Hilfe

Schlechte Führer (#146) horten diese Dinge, im falschen Glauben, dass es ihre Intelligenz, ihr Rang oder ihre Beziehungen sind, die zählen. Sie sind es nicht. In einer Organisation mit einem starken Kreis der Sicherheit ist nicht nur die Person an der Spitze bereit, Informationen zu teilen, sondern auch alle anderen. Wieder ist es die Spitze, die den Ton vorgibt.

 

Wenn unsere Führer ihre Wissenslücken und Fehltritte offenlegen, helfen wir nicht nur bereitwilliger, sondern dann sind auch wir bereit, unsere Fehler oder Misserfolge zu teilen. Im Inneren des Kreises muss man keine Angst vor Fehlern haben. In Organisationen, in denen keine Sicherheit geboten wird, ist es wahrscheinlich, dass das Personal Fehler oder Probleme aus Selbstschutz verheimlicht. Diese Fehler und Probleme vertiefen sich jedoch, wenn sie nicht bekämpft werden, und tauchen dann wieder auf, wenn sie so groß sind, dass sie nicht mehr zu bewältigen sind.

 

Von bevormundeten Menschen kann man nicht die beste Arbeit erwarten

Das musste auch Kapitän Marquet erfahren. Erst als er mit dem Scheitern des Modells konfrontiert war, als er den Punkt des Misserfolges, der Verzweiflung erreicht hatte, beziehungsweise erkannte, dass man von den Menschen, die unter diesen Bedingungen arbeiteten, nicht erwarten konnte, dass sie die beste Arbeit leisteten; da erst orientierte er sein Denken und seine Handlungen vollständig neu.

Kapitän Marquet widerstand dem Antrieb, das Kommando zu übernehmen. Nun bereitete es ihm große Freude, es aus der Hand zu geben und zu sehen, wie die anderen mit der Verantwortung, die sie übernahmen, wuchsen. Die Beziehungen an Bord des U-Boots festigten sich und die Kultur von Vertrauen und Zusammenarbeit wurde dramatisch gestärkt. Sie wurde tatsächlich so weit gestärkt, dass die Mannschaft der Santa Fe, einst die am schlechtesten bewertete der gesamten U-Boot-Flotte, zur am besten bewerteten Crew in der Geschichte der Navy aufstieg.

 

Aufgabe von Führern: Zulassen, dass andere überlegen, wie sie zum Ziel kommen

„Es ist nicht das Ziel des Führers, Befehle zu geben“, erklärt Kapitän Marquet. „Führer sind dazu da, Richtung und Zweck aufzuzeigen und es zuzulassen, dass die anderen sich überlegen, was zu tun ist, und wie sie zum Ziel gelangen können.“ Das ist die Herausforderung, vor der die meisten Organisationen stehen. „Wir bilden das Personal aus, zu gehorchen, nicht zu denken“, fährt Kapitän Marquet fort. Wenn die Menschen nur gehorchen, können wir nicht erwarten, dass sie die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Die Befehlskette ist für Befehle bestimmt, nicht für Informationen. Verantwortung heißt nicht, das zu tun, was man uns sagt, das wäre Gehorsam. Verantwortung heißt zu tun, was richtig ist.

 

Der Stolz der Mannschaft

Kapitän Marquet leistete mehr, als sein Boot vom schlechtesten zum besten zu machen. Die Leistung an sich war zeitlich begrenzt und hatte keinen signifikanten Wert für den langfristigen Erfolg der Organisation, der er diente. Das ist etwa so, als würde man ein viertel Jahr oder ein ganzes Jahr leben, aber das kommende Jahrzehnt ignorieren. Kapitän Marquet schuf ein Umfeld, in dem die Hormone, die das Verhalten steuern, ausgeglichen waren. Das System, das er auf der Santa Fe einführte, belohnte Vertrauen und Zusammenarbeit und nicht bloß Gehorsam und Leistung. Mit dem Steigen des Oxytocin- und des Serotonin-Spiegels wuchsen auch der Stolz der Mannschaft, die Sorge für den anderen und den Erfolg des Schiffes. Mit den sozialen Hormonen im Blut, verbesserten sie auch ihre Fähigkeit, Probleme gemeinsam zu lösen.

 

Nicht den Kapitän unterlaufen, sondern seinen Stolz erreichen wollen

Anders als das Personal von Merrill Lynch unter Stanley O´Neal hörte die Mannschaft der Santa Fe auf, Befehle zu erwarten und zu arbeiten, um die eigene Haut zu retten, opferte sich für den anderen und arbeitete für das Wohl der Gemeinschaft. Sie versuchte nicht, ihren Kapitän zu unterlaufen; sie wollte, dass er stolz auf sie war. Alle profitierten davon.

 

Die Rate der Dienstverlängerungen stieg von nur drei Prozent im Jahr bevor Kapitän Marquet das Kommando übernahm, auf dreiunddreißig (der Durchschnitt bei der Navy beträgt fünfzehn bis zwanzig Prozent). Im Durchschnitt wurden nur zwei bis drei Offiziere pro U-Boot für ein eigenes Kommando ausgewählt. Von der Santa Fe hingegen bekamen neun von vierzehn Offizieren an Bord ihr eigenes Kommando auf einem Boot. Die Santa Fe machte nicht nur Fortschritte, sie brachte Führungspersönlichkeiten hervor.

 

Machtvolle Führungskräfte durch Energieübertragung auf die, die tatsächlich die Arbeit machen

In der Physik ist Kraft die Übertragung von Energie. Wir messen die Leuchtkraft einer Glühbirne in Watt. Je hoher die Watt-Stärke, desto mehr elektrische Energie wird in Licht und Wärme umgewandelt und desto stärker ist die Birne. Organisationen und ihre Führungskräfte arbeiten genauso. Je mehr Energie von der Spitze der Organisation auf die übertragen wird, die die tatsächliche Arbeit machen, diejenigen, die mehr darüber wissen, was im Alltag vorgeht, desto machtvoller ist die Organisation und desto machtvoller sind die Führungskräfte.

 

 

 

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