Nochmal ganz neu auf etwas drauf gucken: Medizinprofessor Schäfers macht vor, was vielen Unternehmen gut täte – Detektivarbeit über Ressortgrenzen hinweg

 

 

Gemeinsam Dinge neu andenken, nochmal unvoreingenommen auf Bekanntes gucken, das kann neue überraschende Erkenntnisse liefern – wenn man es nur zulässt und sich genug öffnet. Open minded wird es im Management-Sprech genannt. Unternehmen könnten sich ein Beispiel hier dran nehmen: Wie wichtig solche Erfolge durch Neu-Andenken – vor allem auch über Disziplingrenzen hinweg – sein können, zeigt der Mediziner Jürgen Rolf Schäfer, der seit vier Jahren, der das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ leitet.

 

Symptome unvoreingenommen unter die Lupe nehmen – mit dem ganzen Arsenal

„Für viele Patienten, die nach einer oft jahrelangen Odyssee durch Arztpraxen als hoffnungslose Fälle gelten, stellt es die letzte Hoffnung dar. Gemeinsam mit einem Spezialistenteam öffnet Schäfer ihre Krankenakten neu und nimmt die Symptome unvoreingenommen und mit dem gesamten Spektrum wissenschaftlicher Methoden unter die Lupe“. schreibt die Daimler und Benz Stiftung über den Marburger Professor.

Und weiter: „Um bereits Studenten für seltene Erkrankungen zu begeistern, führte er in Marburg ein „Dr.House“-Seminar ein. Dieses soll den jungen Medizinern diagnostische Strategien vermitteln und sie für die Probleme der Menschen, die an unerkannten Krankheiten leiden, sensibilisieren.“

Unten steht die Zusammenfassung von Schäfers Vortrag, was die Erforschung seltener Krankheiten für den medizinischen Fortschritt leistet und wie modernste Technologien ihm dabei helfen, rätselhafte Patientengeschichten zu lösen.

 

Jürgen Rolf Schäfer, Professor und Leiter des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Uni Marburg (Foto: Pressestelle der Philipps-Universität Marburg/H. Graßmann)

 

Der Detektiv am Krankenbett – Was man von Dr. House und seltenen Erkrankungen lernen kann

Gastbeitrag von Patricia Piekenbrock

 

In der amerikanischen TV-Serie „Dr. House“ löst ein – charakterlich problematischer, aber analytisch dafür umso brillanterer – Arzt gleichen Namens selbst die rätselhaftesten medizinischen Fälle. Sein Erfolgsgeheimnis: House ist ein Querdenker, der auch auf den ersten Blick nicht besonders wahrscheinliche Krankheitsbilder und Erkrankungsursachen in Erwägung zieht, um so seinen Patienten zu helfen.

 

Das Diagnose-Raster

„Das Gesundheitssystem hierzulande ist gewiss eines der besten der Welt, doch auch in Deutschland fallen zahlreiche Menschen durch das diagnostische Raster. Sie leiden an unerkannten oder seltenen Erkrankungen und damit ist für sie ein jahrelanger Leidensweg verbunden, der oft verhindert werden könnte“, so Jürgen Rolf Schäfer, Professor und Direktor des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ an der Philipps-Universität Marburg.

Um seine Studenten zu sensibilisieren, richtete der Kardiologe 2007 in Marburg ein „Dr. House“-Seminar ein. Hier lernen die angehenden Ärzte ungewöhnliche Krankheitsbilder kennen und versuchen sich an der Diagnose von Fällen, die eben nicht alltäglich sind. Der Erfolg war überwältigend: Nicht nur die Lehrveranstaltung war schon bald überfüllt, sondern auch die Medien wurden auf Schäfers ungewöhnliche didaktische Herangehensweise aufmerksam. 2010 wurde er mit dem „Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre“ ausgezeichnet.

250 Gäste kamen am 22. Juni ins Mercedes-Benz Museum, um seinen Vortrag zu hören:„Detektivarbeit am Krankenbett – Was können wir von Dr. House und seltenen Erkrankungen lernen?“. Der Vortrag fand im Rahmen der gemeinsam von der Daimler AG, der Daimler und Benz Stiftung sowie dem Mercedes-Benz Museum veranstalteten Reihe „Dialog im Museum“ statt.

 

Wöchentliche Ärzte-Runde über Fachgrenzen hinweg

2013 erfolgte in Marburg die Gründung des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE). Viele Patienten, die ihre Akten an das ZusE schicken, gelten nach einer mitunter jahrelangen Odyssee von Arzt zu Arzt als „hoffnungslose Fälle“. Ihnen widmet Schäfer seine Aufmerksamkeit: Gemeinsam mit einem Team aus Kardiologen, Onkologen, Radiologen, Pharmakologen, Psychosomatikern, Neurologen und Labormedizinern öffnet das Team ihre Akten neu und unvoreingenommen. Jeden Dienstag trifft sich diese Ärzte-Runde, um über Fachgrenzen hinweg solche Fälle zu diskutieren und betreffenden Krankheitsursachen auf die Spur zu kommen. Rund 7000 Anfragen erhält das ZusE mittlerweile pro Jahr, doch nur 1000 Fälle können bearbeitet werden. „Dies zeigt, wie groß der Bedarf tatsächlich ist. Als Kardiologe hatte ich unzählige Operationen durchgeführt und immer gut geschlafen. Aber seitdem ich so viele Briefe erhalte, die mit dem Satz beginnen ‚Sie sind meine letzte Hoffnung‘, hat sich das geändert“, berichtete Schäfer sehr bewegend.

 

Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an seltenen Erkankungen

Die gesamtgesellschaftliche Dimension werde deutlich, wenn man bedenke, dass die aufaddierten seltenen Erkrankungen in Deutschland rund vier Millionen Menschen betreffen. Auch der lange Diagnoseweg, oft verbunden mit einer langjährigen Berufsunfähigkeit, sei für die Betroffenen, die Krankenkassen als Kostenträger, aber auch für die Arbeitgeber eine große Belastung. Bei etwa 30 Prozent der Patienten mit einer seltenen Erkrankung dauere es mehr als fünf Jahre, bis der richtige Befund vorliege. Eine falsche Diagnose erhielten zunächst etwa 40 Prozent. Oft seien sie schon in jugendlichen Alter erkrankt, würde aber erst im Erwachsenenalter richtig behandelt.

 

Unter den Folgen fehlerhafter Implantate leiden: zum Beispiel Kobaltvergiftung

Schäfer erläuterte den Fall eines 55-jährigen Patienten: Dieser litt unter schwerer Herzschwäche, Hörverlust, beginnender Erblindung und unter Fieberschüben. Sämtliche Symptome hatten sich bei ihm innerhalb von zwei Jahren herausgebildet, eine Ursache war nicht erkennbar. Nach eingehender Untersuchung wurde schließlich deutlich, dass der Mann unter einer Schwermetallvergiftung durch Kobalt litt. Der entscheidende Fingerzeit kam von seiner Lebensgefährtin: Nach einem Sturz war die gebrochene Keramikprothese in seiner Hüfte durch einen Metallkopf ersetzt worden. Dabei verblieben winzige Keramiksplitter im Gewebe, die das neue Implantat beim Gehen zu zermahlen begannen. Nach der Entfernung des abgeschmirgelten Hüftkopfes und des verunreinigten Gewebes besserte sich seine Herzfunktion allmählich von 20 wieder auf 80 Prozent.

 

Rettende Hinweise aus der TV-Serie

„Der Hinweis auf diesen Zusammenhang stammte tatsächlich aus Dr. House. Wir waren sehr beeindruckt von dem medizinischen Fachwissen, das der Autor der Serie hier bewiesen und uns so auf die richtige Spur gebracht hatte“, so Schäfer. Allein in Deutschland wurden daraufhin zwölf weitere Fälle von Kobaltvergiftungen dieser Art entdeckt, an denen die meisten Patienten wohl gestorben wären. (Redaktionelle Ergänzung:  Rund 1800 dieser fehlerhafter Hüftprothesen von Depuy – ein  Tochterunternehmen des US-Konzerns Johnson & Johnson – wurden in Deutschland eingesetzt, siehe Links unten).

Gerade im Bereich der Bildgebung und Labordiagnostik habe die Medizin in den letzten Jahren riesige Fortschritte gemacht. „Heute können wir das komplette Genom eines Menschen für 800 Euro sequenzieren, vor wenigen Jahren war das noch ein Milliardenprojekt“, stellte Schäfer fest. So können mittlerweile auch seltene oder unbekannte Erbkrankheiten identifiziert werden und beispielsweise fehllaufende Stoffwechselprozesse durch die Gabe von Medikamenten wieder ins Lot gebracht werden.

 

Mit einer Tropenkrankheit infiziert am Aquarium 

Ungewöhnlich sei auch der Fall eines Mannes gewesen, der über fünf Jahre hinweg unter immer massiveren Darmbeschwerden sowie Zahnausfall litt und im gesamten Körper Entzündungsherde aufwies. Auch hier brachte schließlich die moderne Genanalytik die Marburger Mediziner auf die richtige Spur: In einer Stuhlprobe – „der vermutlich bestuntersuchten in ganz Deutschland“ – wurde das Genom eines Parasiten entdeckt, der Bilharziose auslöst. Da der Patient allerdings niemals ein Land bereist hatte, in dem dieser Wurm natürlicherweise vorkommt, hatte auch kein Arzt diese Tropenkrankheit je erwogen. „Wir vermuten, dass unser Patient sich an einem seiner Aquarien infizierte. Es ist der einzige Fall dieser Art, der uns je bekannt wurde.“

 

28 medizinische Zentren arbeiten fachübergreifend zusammen, Computerdatenbanken mit Künstlicher-Intelligenz-Programmen helfen

Welche Schritte Schäfer in der Zukunft für besonders wichtig hält? „Mittlerweile haben wir in Deutschland 28 medizinische Zentren, die fachübergreifend arbeiten. Es wäre wichtig, eine zentrale Koordinationsstelle einzurichten, so dass kein Patient mehr aus Überlastung abgewiesen werden muss. Zunehmende Unterstützung erhalten wir auch durch den Einsatz von Computerdatenbanken, Stichwort künstliche Intelligenz. Diese KI-Programme können Ärzte künftig helfen, weit treffsicherer zu diagnostizieren, als dies allein aufgrund menschlichen Erfahrungswissens möglich ist“, so Schäfers Fazit.

 

Audio-Video-Podcast des Vortrags auf dem YouTube-Kanal der Stiftung: www.youtube.com/watch?v=wMllear8kjI

 

Links zu Depuy-Hüftprothesen:

https://www.tk.de/tk/behandlungsfehler/medizinprodukt-rueckrufe/2010-hueftgelenke-depuy/566254

http://www.praxisvita.de/kobaltvergiftung-mein-kuenstliches-hueftgelenk-haette-mich-fast-umgebracht

http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/raetselhafter-patient-das-loch-in-der-kugel-a-951854.html

http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/rueckruf-von-hueftgelenksprothesen-depuy-patienten-sollten-zum-arzt-a-884132.html

Zu Jürgen Rolf Schäfer: Nach seinem Studium in Tübingen, Marburg und Frankfurt forschte der Internist und Professor Jürgen Rolf Schäfer vier Jahre an den National Institutes of Health (NIH) in den USA. Seit 2004 ist er Akademischer Direktor der Philipps-Universität Marburg. Er hat die Dr.-Pohl-Stiftungsprofessur inne und ist Direktor des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“. Schäfer erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie 2010 den „Ars legendi Preis“ für exzellente Lehre in der Medizin oder 2013 den „Pulsus Award“ als Arzt des Jahres.

 

Die Daimler und Benz Stiftung richtet ihren Fokus auf die Förderung junger Wissenschaftler, fachübergreifende Kooperationen sowie Forschungsprojekte aus sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Die operativ tätige und gemeinnützige Stiftung zählt zu den großen wissenschaftsfördernden Stiftungen Deutschlands.

 

 

Kommentare sind geschlossen.