Buchauszug: „Gender Key – Wie sich Frauen in der Männerwelt durchsetzen“

Das Arbeits-Klischee – und männerverstärkende Gefallfrauen: Christian Seidel hat zehn Kernklischees identifiziert, die ursächlich dafür sind, dass Frauen das Leben im Beruf wie in Partnerschaft und Familie häufig so schwer gemacht wird. Buchauszug aus „Gender Key – wie sich Frauen in der Männerwelt durchsetzen“

Autor Christian Seidel

Vorurteile gegen Frauen in der Arbeitswelt

Die Unterstellung: Weil Sie eine Frau sind

Ein Freund erzählte mir von einem Vorfall, der sich in der Kantine einer deutschen Universitätsklinik ereignet hatte – er trübte die Freude einer Kollegin über eine verliehene Auszeichnung. Seit Jahren leitete sie als einzige Ärztin mit anderen Wissenschaftlern ein Forschungsprojekt. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Leistungen hatte sie als Leiterin der Arbeitsgruppe mit ihrem Team ein Stipendium zugesprochen bekommen. Noch nie war einer Ärztin an dieser Klinik diese Ehrung zuteil geworden. Kurz nach der Vergabe des Stipendiums saß sie mit dem Freund beim Mittagessen in der Krankenhauskantine. Ein Oberarzt kam vorbei, klassischer Macho, der immer einen Spruch parat hatte. Jetzt sagte er: »Ich gratuliere Ihnen zum Stipendium! Das haben Sie sicherlich nur bekommen, weil Sie eine Frau sind.«

»Und was sagte deine Kollegin dazu?«, fragte ich nach. »Ihr verschlug es die Sprache. Sie war so verletzt, dass ihr die Tränen kamen. Ich habe versucht, mich für den Oberarzt zu entschuldigen. Doch sie meinte nur, dass ich jetzt mal live miterlebt hätte, wie es einem als arbeitende Frau unter Männern ergehen kann. ›Wenn sie uns nicht rausschmeißen können, dann ekeln sie uns raus.‹«

Der Freund erzählte auf meine Bitte hin noch mehr aus dem Alltag in der Universitätsklinik, noch mehr über die Diskriminierung von Frauen. Der Chef, ein Mann, habe sechs Oberärzte und eine Oberärztin unter sich, dazu zwanzig Assistenzärztinnen und zehn Assistenzärzte. Von den Assistenzärzten würden fast ausschließlich die Männer gefördert, trotz weiblichen Überschusses. Ähnliches würde er auch von anderen Universitätskliniken kennen. Dabei seien Kontaktpflege und Männerseilschaften äußerst hilfreich. Frauen hätten meist viel weniger Kontakte. Zum Schluss sagte er: »Männer werden bevorzugt, weil sie Männer sind. Frauen haben nur eine Chance, wenn sie viel besser sind als die Männer, was ihnen aber zunehmend gelingt.«

 

Eine andere Unterstellung: Hochgeschlafen

»Genau solche Vorfälle habe ich viele erlebt«, rief Evelyn, nachdem ich die Geschichte im Pfarrsaal vorgetragen hatte. »Wenn eine Frau Erfolg hat, wird ihr unterstellt, dass sie das dem Gesetz, also der Quote zu verdanken hat, nicht ihren Leistungen. Oft schwingt bei den Typen noch mit, dass sie sich womöglich hochgeschlafen hätte.«

Es entspann sich eine hitzige Debatte über Vorurteile gegen Frauen in der Arbeitswelt. Einige Teilnehmerinnen standen vor Wut auf und liefen auf und ab. Sie nahmen kein Blatt vor den Mund. Hier eine Wiedergabe einiger gekürzter Aussagen:

»Männer fördern sich gegenseitig im Job«, merkte Sophia vehement an. »Sie schanzen sich gegenseitig Privilegien zu, und wenn man ihnen das vorhält, streiten sie das rundweg ab. Solche Lügner sind das!«

»Sie können ungerechte Situationen oder sogar geschäftsschädigende Umstände einfach so hinnehmen, als wäre das völlig normal. Das könnte ich nie«, ereiferte sich Isabelle.

»Stimmt. Von dieser Nach-mir-die-Sintflut-Einstellung vieler Männer unterscheiden wir Frauen uns wirklich«, fügte Martha hinzu.

»Unverständlich, warum Männer es nötig haben, Frauen im Job oder zu Hause so zu deckeln. Man könnte doch auch schön zusammenhalten«, sagte Evelyn.

Cristins Kommentar: »Sie trauen uns Frauen einfach nichts zu. Weder strategisches Geschick noch Macht.«

»Manchmal machen mir die Männer aus unerfindlichen Gründen Angst«, entfuhr es Yvonne. »Es ist so eine diffuse Furcht. Dass sie mich am liebsten wegsperren oder sogar töten wollen, nur weil ich für sie als Frau eine Konkurrenz darstelle.«

Diese Angst vor dem Getötetwerden, da war sie wieder – ein klassisches Beispiel für ein Seelentattoo, das sich verselbstständigt hatte. Sicherlich würde kaum ein Mann tatsächlich in Erwägung ziehen, eine weibliche Konkurrentin zu ermorden. Doch in ihrer Geschichte haben Frauen das jahrhundertelang so erlebt. Auch heute noch hören sie fast täglich von Morden an Frauen. Es ist also kein Wunder, dass das Gehirn in bestimmten Situationen eine derartige Assoziation wachruft und damit die mit ihr verbundenen Gefühle. Man kann mit solchen Empfindungen allerdings nicht umgehen, indem man sie als absurd oder unrealistisch abtut. Sobald man etwas fühlt und denkt, ist es Bestandteil der persönlichen Realität, unabhängig davon, ob die auslösende Situation wirklich damit zu tun hat. Diese Gefühle sollte man wahrnehmen, in ihrem Kontext vergegenwärtigen und aufgeschlossen betrachten und schließlich loslassen. Es ist ein selbsttherapeutischer Vorgang, auf den ich später noch kommen werde.

 

Auf meine Bitte hin schilderte Yvonne ihre Angst vor dem Getötetwerden noch ein wenig ausführlicher.

»Nachts in Albträumen«, erzählte sie, »spuken manchmal Männer in meinem Kopf herum. Ohne mit der Wimper zu zucken, üben sie körperliche Gewalt aus, um mich in die Schranken zu weisen oder meinen Willen zu brechen. Natürlich sind das haltlose Vorstellungen. Kennt ihr die auch?«

»Schon«, bestätigten fast alle.

»Und wie verhaltet ihr euch, wenn ihr das feststellt?«

Nach einer kurzen Pause sagte Sophia: »Ich gebe den Männern von vornherein nach, sodass sie mir gar nicht erst gefährlich werden können.«

»Ich verhalte mich von vornherein vorsichtiger, um den Mann nicht zu schwächen«, meinte Martha.

»Oder ich fange sogar an, einen Typen, vor dem ich mich fürchte, zu unterstützen«, sagte Isabelle.

»Unterstützen als Vorbeugung gegen Probleme. Kenne ich auch, bringt aber nichts.« Das war Sophia. »Man rackert sich ab. Aber die Typen reagieren dennoch nicht.«

 

„Gender Key – Wie sich Frauen in der Männerwelt durchsetzen“ von Christian Seidel: Ariston Verlag, 288 Seiten, 16,99 Euro  https://www.randomhouse.de/Paperback/Gender-Key/Christian-Seidel/Ariston/e493206.rhd

 

Das Helfersyndrom der Frauen

Was die Gesprächsteilnehmerinnen offenbarten, ähnelte einem psychologischen Vorgang, der als Helfersyndrom bekannt wurde. Der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hatte Ende der Siebzigerjahre das suchtartige Helfen als psychologische Erkrankung erforscht. Er erkannte, dass der neurotische Charakter des Helfens sich ausprägt, wenn ein Kind nur dann Beachtung bekommt, wenn es bestimmte Leistungen erbringt. Die Aufmerksamkeit häufig abwesenden Vaters erhalten Mädchen zum Beispiel oft nur, wenn sie etwa sehr diszipliniert sind. Oder wenn sie, wie im Fall von Evelyn, dafür sorgen, dass der Vater sein richtiges Besteck beim Abendbrot vorfindet.

 

Das abgewandelte Helfersyndrom: Allen alles recht machen, sich selbst verlieren

Eine abgewandelte Form des Helfersyndroms, eine Art »Untermauerungssyndrom«, zeigt sich bei berufstätigen Frauen und ist ein altruistisches Verhalten, das insbesondere bei ihnen vorgesetzten Männern an den Tag gelegt wird. Sie wollen den Männern alles recht machen und kommen dadurch nicht dazu, ein ihrer weiblichen Individualität entsprechendes Benehmen zu entwickeln. Der Druck, sich der vorherrschenden männlichen Umgangskultur in Firmen anzupassen, ist so hoch, dass sie permanent damit beschäftigt sind, diese zu unterstützen und sogar zu untermauern. Dabei verlieren sie unmerklich den Bezug zu sich selbst und die eigene Wertschätzung. Alles wird zur Priorität erklärt, nur nicht die eigene Person.

 

Bei einer Frau, die mich nach meinem Frauenexperiment kontaktierte, fiel mir dieses Phänomen besonders auf. Die Yogalehrerin schrieb mir, dass sie ihre erfolgreiche Yogaschule aufgeben wolle, sie fühle sich aus einem unerfindlichen Grund völlig überfordert und »unendlich schwach«. Nach einer Reihe von Gesprächen stellte sich heraus, dass sie diese Kraftlosigkeit erstmals an sich bemerkt hatte, nachdem sie sich einen Partner für ihr Studio gesucht hatte, dem sie sich zunehmend unterordnete.

Zudem beriet sie viele Yogaschüler bei ihren privaten Sorgen. Sie traf sich mit ihnen zum Kaffee, blieb nach den Kursen noch lange mit ihnen im Studio. Diese Frau war nicht in der Lage, etwas für sich zu tun, ohne sich schuldig zu fühlen. Sie erzählte mir von Albträumen und Fantasien – sie handelten davon, dass ihr männlicher Partner ihr das Yogastudio wegnehmen, dass er sie verdrängen wolle. Vielleicht hatte sie damit sogar Recht. Aber sie war nicht dazu fähig, sich konstruktiv zu sammeln und ihn mit seinem Treiben zu konfrontieren, da sie sich ständig in ihrem Untermauerungssyndrom verstrickte.

Selbst in den Gesprächen mit mir fing sie immer wieder an, mich zu beraten, wollte mir einen Möbeltransport organisieren, Yogastunden kostenlos geben oder andere Gefälligkeiten für mich erledigen. Und nicht nur mir, auch ihrem Studiopartner hatte sie ihre Unterstützung bei einem Umzug angeboten, sie hoffte dadurch, dass anschließend wieder »Friede in ihrem Seelenkarton herrschen« würde. Von außen betrachtet, war sie eine vollkommen freie Frau, innerlich war sie aber in einem engen Käfig eingepfercht. Er bestand daraus, Männern einen Gefallen zu tun, damit sie sich besser fühlte.

 

Immenser Aufwand ohne Dank

Ohne es zu bemerken, beginnen viele Frauen daher, mit kleineren und größeren Aktionen die männlichen Klischees und Rituale in Unternehmen zu verstärken. Damit versuchen sie die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Männer auf sich zu lenken, von denen ihre berufliche Zukunft abhängt. Sie beobachten genau, ob und inwieweit sie von den Männern unterstützt werden. Den Dank aber, den sie sich erwarten, erhalten sie kaum, ihr immenser Aufwand wird in den seltensten Fällen ausreichend beachtet. Daher versuchen diese Frauen noch mehr zu leisten. Sie opfern unzählige Wochenenden, um an Fortbildungsseminaren teilzunehmen, einzig und allein zur Verbesserung ihrer Qualifikationen, die ja gewinnbringend für die Männer sein sollen. Am Ende wundern sie sich, dass diese trotzdem nicht mehr auf sie reagieren.

 

Die doppelte Selbstaufgabe

Solche Frauen opfern Teile ihrer weiblichen Identität. Sie springen sogar über den Schatten ihrer weiblichen Geschlechterrolle. Durch diese doppelte Selbstaufgabe ist es für altruistische Frauen nicht leicht, wieder zu sich zu finden. Das kann nur über einen authentischen Neuanfang klappen, über das Erkennen und Akzeptieren dessen, was jede Frau menschlich (und nicht als Geschlechterrolle) ausmacht. Und über ein Begreifen, dass Männer diese Form weiblichen Entgegenkommens nicht als Hilfe wahrnehmen, sondern als Anbiederung oder sogar als ungebetene Einmischung, die man sich vom Hals halten muss. Männer wollen gar keine Hilfe, im Extremfall empfinden sie das sogar als Bedrohung, denn es widerspricht der männlichen Geschlechterrolle, Unterstützung zu brauchen und anzunehmen – noch dazu von einer Frau. Das würde Schwäche signalisieren – ein schon erwähnter neuralgischer Punkt.

 

Gefalltochter oder Leistungstochter?

Wenn sich Frauen über längere Zeit hilfsbereit verhalten, kann das Männern richtig auf die Nerven gehen. Sie fühlen sich bedrängt, weisen die Frauen zurück und reagieren mit dem Gegenteil des Erwarteten: mit Aufmerksamkeitsentzug nämlich. Das aktiviert bei vielen Betroffenen eine Kindheitsprägung: Das alte Seelentattoo aus der Verbindung mit dem Vater wird beispielsweise mit der aktuellen Berufserfahrung verknüpft, denn das Verhalten vieler Frauen gegenüber männlichen Kollegen (und Lebenspartnern) ist davon beeinflusst, wie der eigene Vater Aufmerksamkeitsansprüche erwidert hat. Hatte ein Mädchen es schwer, vom Vater beachtet zu werden, kann sich eine Persönlichkeit herausbilden, die die Schweizer Psychologin Julia Onken »Gefalltochter« (»Ich gefalle, also bin ich«) oder »Leistungstochter« (»Ich bin leistungsfähig und erfolgreich, also bin ich«) nennt.

 

Ein weiterer bedeutender Komplex beim Arbeits-Klischee ist das Sozialverhalten. So wurde festgestellt, dass sich Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Konditionierung viel leichter auf vorgegebene soziale Verhaltensanforderungen einlassen können. Die Genderforscherin Alyssa Croft von der Universität British Columbia in Vancouver sagt hierzu, dass Männer und Frauen bereits von Kindheit an unterschiedlich auf sozial vorgegebene Verhaltensweisen reagieren, die Mädchen eher auf äußere Veränderungen genderbezogener Erziehungsweisen (sie lassen sich eher ein und passen ihr Verhalten an), die Jungen tun das nicht. Crofts Erklärung: »Weil die Stereotypen, welche das männliche Verhalten dominieren (die Geschlechterrollen), viel rigider sind als die der Frauen.

«Daraus lässt sich schließen, dass genderbezogene Entwicklungen im Berufs- sowie im Privatleben eher durch Verhaltensänderungen der Frauen eine Chance haben als durch solche von Männern. Ansatzpunkte wären die in der weiblichen Kindheit liegenden Beziehungsprägungen mit Männern, besonders jene mit dem Vater oder äquivalenten Bezugspersonen. Es lohnt sich daher, die dazugehörigen Seelentattoos zu analysieren und bewusst zu machen.

Im weiteren Verlauf unseres Seminars beschwerte sich Evelyn abermals darüber, dass Männer weibliche Freundlichkeit und Kontaktaufnahme im Job »als sexuelle Aufforderung wahrnehmen und womöglich bei nächster Gelegenheit zur Tat schreiten würden«. Nicht nur, um männlicher und härter zu wirken, sondern auch als Prävention hätte sie sich einen betont kühlen Ton angewöhnt. »Durch mein reserviertes Verhalten signalisiere ich einem Mann von Beginn an, dass da nichts läuft. Aber das ist anstrengend, weil ich eigentlich nicht so verschlossen bin. Ich flirte gerne, bin eher ein warmherziger Mensch, und manche Typen in der Firma finde ich auch ganz schnuckelig. Doch da geht gar nichts.

«Fast alle beklagten sich daraufhin über einen der schwierigsten Aspekte in der Zusammenarbeit mit Männern, nämlich dass sie sich über ihr Verhalten gegenüber den Frauen absolut nicht im Klaren seien.

»Sie scheinen überhaupt nicht zu reflektieren, dass wir Frauen sind«, sagte Anne. »Das hat zur Folge, dass die wenigen Frauen bei uns in der Softwarefirma dazu neigen, sich den männlichen Verhaltensweisen anzupassen, quasi als Tarnung.«

 

Gesetze allein befreien nicht

Das Arbeits-Klischee der Geschlechter lässt sich in einem Satz definieren: Frauen gehören nicht in die Männerwelt von Büroräumen und Werkshallen. Nur zur Erinnerung: Erst seit 1977 darf eine Frau ohne Zustimmung ihres Mannes in Deutschland arbeiten. Bis 1959 konnte der Ehemann den Anstellungsvertrag seiner Frau selbstständig kündigen. Die Frau hatte also nicht nur einen Vorgesetzten in der Firma, sondern auch noch einen zu Hause. »Der Hang zur Unmoral, der jeder Frau latent innewohne, bedürfe der Kontrolle und Umsicht eines ›männlichen‹ Familienoberhauptes«, so gibt die Geschlechterforscherin Gabriele Sobiech alte Statuten wieder.

Die Frau störte also mit ihrer Weiblichkeit in der Berufswelt der Männer und wurde möglichst aus dieser ausgegrenzt. Die im Gott-Klischee beschriebene Überordnung der Männer und ihre im Steinzeit-Klischee hervorgehobene Unterschiedlichkeit wird im Arbeits-Klischee mit Differenzen in der Leistungsfähigkeit ergänzt. Männern wird von vornherein mehr berufliche Kompetenz zugetraut als Frauen. Allein dieses Vorurteil trägt dazu bei, dass der Druck auf Frauen steigt und sie dadurch benachteiligt sind.

»Stellt euch vor, ihr hättet mit Menschen zu tun, die alle glauben, dass ihr nicht so kräftig und leistungsfähig seid wie sie«, sagte Anne, die Abteilungsleiterin einer Softwarefirma. »Wie würde man sich dabei fühlen?«

Ich versuchte, mir das vorzustellen, und kam zu dem Schluss, dass es ziemlich anstrengend sein musste, etwas zu bewerkstelligen, was einem andere nicht so richtig zutrauten. Später, bei einer Bergwanderung in den Alpen, machte ich einen Selbstversuch. Ich bat den Freund, mit dem ich unterwegs war, mir während des ganzen Tages Gründe zu nennen, warum diese Wanderung für mich viel schwieriger sei als für ihn. Innerhalb kürzester Zeit war ich derart erschöpft, dass ich fast doppelt so viele Pausen brauchte wie er.

 

Der tägliche Kampf gegen männliche Vorurteile

Ungefähr zur gleichen Zeit schickte mir eine ältere Frau aus einer Kurklinik fast täglich Briefe. Sie erzählte darin von ihrem Leben. Im Zentrum stand ihr Kampf gegen männliche Vorurteile. »Ich arbeitete zwanzig Jahre lang in Kanada im Management eines Tankstellenunternehmens«, schrieb sie. »Da gab es nur Männer, die mir nichts zutrauten. Autofahrer, Lastwagenfahrer, Mechaniker, Säufer. Ich glaube, das war es, was meine Gelenke krank gemacht hat. Dieser ständige Kampf, mich beweisen zu müssen. Und nie die wirkliche Bestätigung zu bekommen. Es war eine Qual. Jetzt liege ich mit Rheuma in der Klinik, plage mich mit Pflegern ab. Das Gleiche in Grün. Wenn eine Pflegerin kommt, sehe ich, dass auch sie gegen Vorurteile der Männer um sie herum ankämpft, die ihr einfach weniger zutrauen würden. Diese Frauen werden dann besonders trotzig, vermännlichen sich oder ordnen sich unter.

 

Leistungsstärkende Mittel öfter für Frauen

« Auch in der Frauengruppe sprachen wir noch weiter über das mangelnde Zutrauen seitens männlicher Mitarbeiter.

»Und was macht das mit euch? Was hat das für Konsequenzen? «, fragte ich.

»Dass ich das Gefühl habe, mehr leisten zu müssen, um an das Level eines Mannes heranzukommen«, sagte Sophia.

»Der Betriebsarzt hat mir sogar mal ein Mittel gegeben, damit ich leistungsfähiger bin, und dabei gesagt: ›Das wirkt, ist vor allem gut für Frauen, Streicheleinheiten fürs Gehirn, versuchen Sie’s mal.«

Mittel, die leistungsstärkend auf das Gehirn wirken, nennt man Neuro-Enhancer. Zwar ist die Nutzung dieses Gehirndopingmittels noch nicht weit verbreitet, in einer entsprechenden Untersuchung des Robert-Koch-Instituts hat sich aber gezeigt, dass berufstätige Frauen zu einem Drittel mehr als berufstätige Männer ihre Leistungsfähigkeit mit Pillen zu verbessern versuchen. »Chronischer Stress schadet nicht nur Herz und Magen, sondern auch dem Gehirn«, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Psychiatrischen Klinik an der Berliner Charité. »Frauen, die sich gesund ernähren und sich geistig und körperlich bewegen, brauchen keine Neuro-Enhancer.«

 

Der Geschlechterforscher Heinz-Jürgen Voss attestiert den Menschen aufgrund seiner Forschungen eine »unendliche Geschlechtervielfalt «: »Durch den Blick auf die Prozesshaftigkeit und die sich damit darstellende Vielfältigkeit zeigt sich, dass sich alle Menschen voneinander unterscheiden. Es gibt also so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt. Das gilt selbstverständlich auch für die Geschlechtsidentität.« Die französische Neurobiologin Catherine Vidal bestätigt Ähnliches für die Welt der Gehirne. Dennoch gehen die Geschlechter miteinander um, als könnten die Frauen nur das eine und die Männer nur das andere.

Die Geschlechterdifferenzierung führt in Unternehmen trotz gesetzlicher Gleichstellungsverordnung – oder gerade wegen ihr – immer wieder zu Spannungen. Einst haben die Geschlechter von vornherein in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet, gemäß der ehernen Regel des Gott-Klischees waren die Männer die Chefs, die Frauen die Sekretärinnen, Buchhalterinnen oder Putzfrauen. Heute kollidiert der Gleichstellungsprozess mit dem Unterschiedszwang der Geschlechterrollen. Wie soll man etwas gleich machen, was allgemein als unterschiedlich gilt? Mit dem Ergebnis, dass sich die Ärztin, die das Stipendium erhalten hatte, sagen lassen musste: »Das haben Sie sicherlich nur bekommen, weil Sie eine Frau sind.«

Der Klischeedruck auf Männer und Frauen ist in der Berufswelt so stark, dass selbst dort, wo gar keine Unterschiede vorhanden sind, welche erzeugt werden. Die Zusammenarbeit beider Geschlechter muss im Sinne der Rollen konfliktbehaftet bleiben. Würde man den Rollen diese aufgesetzten Formen der Unterscheidung wie einen unsichtbaren Vorhang wegziehen, würden sich Menschen gegenüberstehen. In meinen Augen eine wunderbare Herausforderung und Vision.

 

Archaische Ängste und Kurzschlüsse

Die Zusammenarbeit von Mann und Frau ist heute mehr denn je problematisch. Da ihre Gleichstellung gesetzlich verordnet ist und sich nicht homogen entwickelt hat, nehmen viele Männer das als Übergriff wahr und empfinden die Frauen als Eindringlinge in ihr Hoheitsgebiet.

 

Hinzu kommt, dass die Männer in ihrer Not und in Ermangelung ausreichender Praxis und Erfahrung die Geschlechterunterschiede aus privaten Bereichen auf die Berufswelt übertragen. Der Vorgang findet weitgehend unbewusst über Seelentattoos statt. Unmerklich vermischt sich dadurch Privates und Berufliches, obwohl dies laut Arbeits-Klischee getrennt sein sollte. Aber auch Frauen projizieren wegen fehlender Erfahrungen private Verhaltensmuster und Erwartungen in ihre Bürosituation. Ebenfalls sind dafür Seelentattoos und Altkonditionierungen verantwortlich. So lassen sich die teilweise irrationalen und bisweilen extremen Ängste von Frauen erklären, dass Männer sie körperlich fertigmachen könnten. Folgender Eindruck eines Angst erzeugenden und geschlechtertypischen Rollenverhaltens ergibt sich aufgrund des Arbeits-Klischees:

 

1. der Mann, der Chef / die Frau, die Untertanin

2. der Mann, der Täter / die Frau, das Opfer

3. der Mann, der Wertvolle / die Frau, die weniger zum Überleben der Familie beiträgt als der Mann

 

Diese Degradierung kompensieren berufstätige Frauen mit der Annahme männlicher Verhaltensweisen, durch eine Vertaffung und mehr Leistungen.

Die Betriebswissenschaftlerin Elena Schälike ist eine talentierte Mathematikerin, die jung damit begann, Firmen weltweit zu beraten. Als Jugendliche besuchte sie eine Schule, in der mathematisch hochbegabte Kinder gefördert wurden. Dort kamen sechzig männliche Schüler auf sechs weibliche.

»Dabei wusste ich, dass viele Mädchen in Mathe exzellent waren«, erzählte sie mir während einer Skype-Sitzung. »Aber viele Eltern gehen immer noch davon aus, dass Mathe nichts für Mädchen ist.«

Als Elena Schälike später mit ihrem damaligen Lebenspartner ein Unternehmen aufbaute, wunderte sie sich über die Reaktion in der medialen Berichterstattung: Sie und ihr Partner hatten das Projekt gemeinsam entwickelt, doch in der Presse wurde fast immer nur ihr Lebensgefährte erwähnt.

 

Männer-Worte haben mehr Gewicht

»Das war keine Ausnahme. Solche Situationen erlebte ich immer wieder. Saß ich in einer Besprechung mit gleicher Qualifikation neben einem Mann, so hatten seine Worte beim Gegenüber mehr Gewicht als meine.«

Nach der Trennung von ihrem Mann lernte sie die Zusammenarbeit von Männern und Frauen in verschiedenen Kulturen kennen, wobei ihr mathematisches Talent abermals nicht immer von Vorteil war: »Rechnete ich Männern vor, was sie nicht verstanden, war am Ende meistens ich diejenige, die die Probleme bekam. Ich wurde dann zu den weiteren Projektbesprechungen nicht mehr eingeladen.«

Eine verblüffende Erfahrung machte die Mathematikerin in Uganda, wo sie eine Vereinigung von Berufsschulen beim Fundraising und bei den Finanzen beriet. Dabei erfuhr sie, dass in dem Land Behinderte und Frauen gleichermaßen Ansprüche auf Sonderförderungen bei ihrer Ausbildung hätten. Verantwortlich waren dafür die weltweit gültigen Maßstäbe für die Verwendung von Geldern aus der internationalen Entwicklungshilfe. Der männliche Nachwuchs wurde dagegen nicht unterstützt, er war auf sich selbst gestellt. Die Folge war ein starker Rückgang hochqualifizierter männlicher Arbeitskräfte. Heute wird in Uganda ungefähr die Hälfte der Führungspositionen von Frauen bekleidet.

Auf die Frage, welche Eindrücke sie allgemein im Verhalten von berufstätigen Männern und Frauen gewonnen habe, sagte Elena Schälike: »Die Männer denken eindeutig mehr an sich selbst. Bei ihrer Karriere ist das persönliche Fortkommen zentral. Für Frauen steht das Business als Ganzes eher im Vordergrund. Dazu zählen auch das Wohl der Mitarbeiter und wie sehr sich die Firma mit dem Nachhaltigkeitsgedanken auseinandersetzt. Das habe ich überall und immer wieder beobachten können.«

 

Frauen sind sachlicher – und ecken genau damit bei Männern an

Heute betreibt die Finanzmanagerin ein Unternehmen, das Fußballwetten mathematisch analysiert. In ihrer weltweit agierenden Firma stellt sie bevorzugt Frauen ein: »Weil die mehr die Übersicht behalten.« Und was sie besonders schätzt: »Frauen betrachten das Business als Familie, bei den Männern dreht sich alles um die eigene Selbstverwirklichung. Zudem sind Frauen sachlicher. Aber genau damit ecken sie bei den Männern auch an.«

»Frauen sind sachlicher als Männer?«, hakte ich nach.

 

Korruption – das männlich Phänomen 

»Ja. Frauen stellen persönliche Befindlichkeiten zurück, wenn es um die Firma als Familie geht.« Schließlich fügte Elena Schälike noch hinzu: »Aufgrund meiner mathematischen Fähigkeiten kann ich finanzielle Zusammenhänge sehr schnell durchschauen. Immer wieder wurde ich engagiert, um die Bilanzen von Regierungsstellen oder Firmen auf korruptionsspezifische Anhaltspunkte zu untersuchen. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass Korruption ein männliches Phänomen ist. Kaum habe ich eine wirklich korrupte Frau erlebt, zumindest nicht unter den Rädelsführern.«

 

 

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