Buchauszug Manfred Fischer und Klaus Methfessel: „Timbuktu – Eine Erinnerung“

 

Die beiden Autoren Manfred Fischer und Klaus Methfessel – beide sind ehemalige WirtschaftsWoche-Redakteure – sind 1987 in die mythenumwobene Stadt Timbuktu gereist, als das noch möglich war. Heute werden deutsche Soldaten in der Region stationiert, um islamistischen Terror zu bekämpfen. Die Schilderung macht deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Die beiden Autoren erlebten ein friedliches Land mit freundlichen Menschen.

Autor und Ex-WirtschaftsWoche-Redakteur Manfred Fischer

 

Dies hier sind die Schlusskapitel des Textes. Sie geben einen bildhaften Eindruck davon, wie fern und freundlich jene Zeit heute erscheinen muss.

 

Alte Manuskripte
Ein neuer Bekannter namens Assoura bietet sich an, uns einige Bibliotheken mit handgeschriebenen Büchern und Dokumenten zu zeigen. Bei dieser Eröffnung sitzt Assoura hinter seinem Schreibtisch und mustert uns, während er in den Taschen seines weiten, blauen Gewandes nach Zigaretten sucht. An unseren Reaktionen kann er unschwer ablesen, mit welchem Interesse wir sein Angebot hören. Er lächelt zufrieden. Jetzt geht es nur noch um den Preis.

Uns lockt die Aussicht, über diese Bibliotheken einzudringen in die Geheimnisse der Mythen, die Timbuktu umranken wie der Efeu ein altes, verwunschenes Schloss. Wir wollen den Legenden von Reichtum und Gelehrsamkeit nachspüren, die uns bisher auf den Sandwegen und beim Anblick der kargen Lehmbauten nur schwer eingehen. Dass uns ausgerechnet Assoura Zugang zum Mythos Timbuktu verschaffen könnte, hatten wir nicht erwartet.

Wir waren ihm auf einem Weg durch die Stadt begegnet. Er hatte uns – ganz großer Herr – zu sich gewunken, hinter der brusthohen Mauer stehend, sie sein Haus von der Straße abschirmte. Ohne sich lange mit dem üblichen Begrüßungszeremoniell aufzuhalten, stellte er sich vor: „Ich bin der Pressesprecher Timbuktus“, und mit Blick auf unsere Fototasche: „Können Sie mir einen Film geben. Ich benötige ihn in einer wichtigen amtlichen Angelegenheit.“

Über so viel Direktheit waren wir schon etwas perplex. Zwar vergeht in Afrika kaum ein Tag, wo der fremdländische Reisende nicht auf Geschenke angesprochen wird. „Toubab, cadeau!“ (Weißer Mann, ein Geschenk!) rufen bereits die Kinder hinter den Touristen her. Und auch die Erwachsenen zeigen ihr Interesse an den fremden Besitztümern unverhohlen. Wie oft schon hatte ein Mitreisender im Buschtaxi bewundernd und zugleich besitzergreifende nach einem uns gehörenden Schweizer Taschenmesser gegriffen oder im Hotel ein Diener mit einem Griff ans Hemd gefragt, ob er es wohl geschenkt haben könne.

 

fischer.timbuktu

Manfred Fischer und Klaus Methfessel: „Timbuktu – Eine Erinnerung“, e-book, 1,49 Euro, 34 Seiten https://www.neobooks.com/ebooks/manfred-fischer-klaus-methfessel-timbuktu-ebook-neobooks-AVS5F9DPtJVf5VxhpaoI

 

Dieser Fall jedoch passt nicht ins gewohnte Klischee. Vielleicht war es der ungewöhnliche Wunsch nach einem Fall, der uns verunsicherte. Danach hatte auf der ganzen Reise noch nie ein Einheimischer gefragt. Schon die Vorstellung, dass hier in Timbuktu jemand eine teure Spiegelreflexkamera sein Eigen nennt, wie es Assoura von sich behauptet, wirkte befremdlich. Vielleicht war es auch die Art, in der Assoura seinen Wunsch vortrug, die es uns schwer machte, ihn einfach abzuschlagen.

Sein Begehren äußerte er weniger als Bittsteller, sondern eher so, als hätte er einen moralischen Anspruch auf den Film. Tatsächlich wies ihn sein Äußeres nicht gerade als Bedürftigen aus. Sein kunstvoll besticktes Gewand, ein blauer Boubou, das geräumige, zweistöckige Haus, all das zeugte nicht von ärmlichen Verhältnissen. Sein klassisches Profil deutet darauf hin, dass er aus der arabischen Oberschichte Timbuktus stammte.

Jedenfalls legte er mit seinen knapp 30 Jahren ein so stolzes Gebaren an den Tag, wie es für junge intellektuelle in vielen aufstrebenden Entwicklungsländern typisch ist. Das gilt vor allem dann, wenn sie mit den Repräsentanten der Kolonialmächte mit einem Selbstbewusstsein begegnen, das schon an Arroganz grenzt.

Uns aber bietet der Wunsch Assouras eine gute Gelegenheit, jetzt auch unsere Wünsche vorzutragen. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Durch seine Funktion als Pressesprecher habe er vielleicht die Möglichkeit, deuten wir an, uns über die Moscheen und sonstige Sehenswürdigkeiten hinaus die Schätze der Stadt zu zeigen, die nicht jeder zu Gesicht bekommt. „Gut“, antwortet er knapp und schnappt den Film, „kommt morgen früh in mein Büro.“

Da sitzen wir also. Assoura hat endlich die gesuchten Zigaretten gefunden. Er nimmt eine aus der Schachtel und zündet sie an. Offenbar überlegt er noch, wie viel er aus uns herausholen kann. Vor ihm auf dem Schreibtisch thront eine alte, mechanische Olivetti-Schreibmaschine. Im Nebenzimmer tickt ein Fernschreiber. Sonst ist die Ausstattung seines Büros spartanisch. Neben den beiden wackeligen Stühlen, auf denen wir Platz genommen haben, erkennen wir nur noch einen windschiefen Tisch, auf dem sich unter einer Staubschicht Papiere und Zeitungen stapeln. Das einzige Fenster ist mit einem Laden verschlossen. Obwohl die Sonne trotz der frühen Stunde draußen schon die Luft zum Flimmern bringt, ist es im Zimmer noch angenehm kühl.
„Um euch die Bibliotheken zu zeigen“, kommt Assoura auf unseren Wunsch zurück, „muss ich für heute mein Büro schließen. Dafür solltet ihm mir 5000 Franc zahlen und zwei weitere Filme geben.“ 5000 CFA-Franc, das sind rund 50 Mark. (Vielleicht zur Erklärung: CFA steht für Franc de la Communauté Financière d’Afrique, CFA-Franc war die an den französischen Franc gekoppelte einheitliche Währung einiger westafrikanischer Länder, ein CFA-Franc entsprach 50 Französischen Franc.)

Die Summe, die Assoura verlangt, erscheint nach europäischen Maßstäben durchaus angemessen, für malische Verhältnisse ist sie eine Dreistigkeit. Ein einfacher Arbeiter muss für diese Summe eine ganze Woche arbeiten, die Assoura hier an einem Vormittag verdienen will. Aber bei der Aussicht, einen Blick auf die Hinterlassenschaften der Geschichte Timbuktus tun zu können, zögern wir nicht und stimmen zu.

Dass Assoura seine Arbeitszeit für diese Art von Nebenerwerb nutzt, wundert uns offenbar mehr als die übrigen Angestellten. Keiner seiner Kollegen macht eine anzügliche Bemerkung, als er sein Büro abschließt und mit uns davonzieht. Auch sein Vorgesetzter hat nichts daran auszusetzen.

Die Erklärung ist einfach: Die malischen Beamten erhalten ihre Gehälter vom Staat oft mit Verzögerung. Bei diesem Zahlungsrythmus ist es kein Wunder, dass bis in die Spitze der malischen Verwaltung hinein Nebenerwerb und Korruption nicht nur geduldet werden, sondern zum Überleben notwendig sind. Vermutlich wird Assouras Chef einen angemessenen Teil am Honorar verlangen, und so ist allen geholfen.

Uns besonders. Wir würden ohne diese Art von Eigeninitiative nie die beiden Bibliotheken zu Gesicht bekommen, deren Pforten sich nun dank Assouras Beziehungen für uns öffnen werden.

Zunächst führt uns der Pressesprecher Timbuktus zu einem großen, eingeschossigen Gebäude, das sich wie ein römisches Landhaus um einen Innenhof erstreckt. Wir sind am Centre Islamique Ahmed Baba angekommen, in dem die glorreiche Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt werden soll. Das älteste Werk, dass wir hier zu sehen bekommen, ist ein Manuskript aus dem Jahre 1204. Es stammt aus Andalusien und ist ein Text über das islamische Rechtssystem.

Obwohl das Museum in klassisch-sudanesischen Stil erbaut wurde, scheint es erst vor kurzem fertiggestellt worden zu sein. Wie wir später erfahren, halfen die reichen Glaubensbrüder aus Saudi Arabien mit einer kräftigen Geldspritze. Von den gewöhnlichen Häusern Timbuktus unterscheidet es sich, wie auch einige Gebäude aus der Zeit der französischen Kolonialverwaltung, durch die verwendeten Baumaterialien.

Es ist nicht aus Lehmziegeln, sondern aus festen Kalksteinblöcken errichtet. „Sie wurden aus einem 30 Kilometer entfernten Steinbruch herbeigeschafft“, erläutert Assoura bereitwillig. Das muss ein mühseliges Unterfangen gewesen sein, denn die Stadt ist von Sanddünen eingekreist, die jeden Schwertransport zu einem Abenteuer machen. Auch die Stadt ist auf Sand gebaut und auf ein bisschen Erdkrume, das die Bauern mühsam zusammenkratzen für ihren Gemüseanbau.

„Ahmed Baba“, erklärt uns Assoura den Namen des islamischen Zentrums, „war er größte Gelehrte, den Timbuktu in seiner Geschichte hervorgebracht hat.“ Wir werden in die Eingangshalle geführt, in der uns von der Wand ein in großen roten Lettern gemalter Ausspruch Ahmed Babas auf Arabisch und Französisch entgegen leuchtet: „An dich, der du nach Gao kommst, mache einen Umweg über Timbuktu. Wispere meinen Namen gegenüber meinen Freunden und überbringe ihnen den vom Exil durchtränkten Gruß des Verbannten, der sich nach dem Land sehnt, wo seine Freunde, seine Familie und seine Nachbarn wohnen.“ (Die Stadt Gao liegt etwa 400 Kilometer nigerabwärts, westlich von Timbuktu.)

Welch ein Stolz auf seine Heimat und welche Wehmut sprechen aus diesen Worten, die heute, angesichts der Realität, seltsam überhöht erscheinen für diesen Flecken am Rande der Wüste. Aus den einst 80 000 Einwohnern sind heute etwa 20 000 geworden. Das sind aber immerhin deutlich mehr als jene 5000 bis 6000 Einwohner, die in den 1950er Jahren in Timbuktu lebten.
(Vor der Besetzung der Stadt durch islamische Terroristen im Jahr 2012 lebten etwas über 50 000 Menschen in Timbuktu. Das seit unserm Besuch 1987 ausgebaute und erweiterte Ahmed-Baba-Zentrum wurde von den Islamisten in Brand gesteckt; nur ein Teil der Manuskripte konnten in Malis Hauptstadt Bamako in Sicherheit gebracht werden.)

Der große Gelehrte Ahmed Baba erblickte das Licht der Welt am 26. Oktober 1556 in Arouan, 300 Kilometer nördlich Timbuktus an der Straße zu den Salzminen von Teghaza. Zehn Tagesreisen brauchten damals die Kamel-Karawanen für die Strecke. Die Reise des Gelehrten zur Weisheit dauerte länger, er studierte zehn Jahre lang alle wichtigen Bereiche der islamischen Wissenschaften. Das Pensum reichte von der arabischen Sprache, die Rhetorik und das Recht bis hin zur Auslegung des Koran, Geschichte und Geographie. Dann erst erhielt er die Lehrerlaubnis und begann an der Sankoré-Universität in Timbuktu zu unterrichten.

Jäh unterbrochen wurde seine Karriere im Jahr 1593, das einen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt brachte. Der Sultan von Fès, Ahmed Mansur, hatte seit langem ein Auge auf die reiche Stadt geworfen. Seit 1590 rückten seine Truppen nach Süden vor. Schließlich kam es in jenem Schicksalsjahr für Timbuktu beim Ort Tondibi, 50 Kilometer nördlich von Gao, zur entscheidenden Schlacht zwischen den marokkanischen Heerscharen und den Kriegern des Songhay-Reiches, zu dem Timbuktu gehörte. Die mit Feuerwaffen ausgerüsteten Soldaten des Sultans hatte leichtes Spiel mit den nur Schwerter und Lanzen führenden Reitern des der Songhay.

Damit verloren die Gelehrten von Timbuktu ihr wissenschaftliches Zentrum. Die Besatzer beschlagnahmten das Vermögen der wohlhabenden Familien und verschleppten die Mächtigen des Wortes und der Wissenschaften nach Marrakesch. Zu diesen Opfern gehörte auch Ahmed Baba. Viele seiner Leidensgenossen starben an den Entbehrungen auf dem Marsch durch die Wüste. Ahmed Baba aber überlebte und trauerte in den folgenden 19 Jahren der verlorenen Heimat nach. Erst als alter Mann konnte er nach Timbuktu zurückkehren, wo er 1827, 71jährig, starb. Da hatte der Verfall der Stadt längst begonnen. Die marokkanischen Soldaten hatten in ihrer Zerstörungswut auch von den Büchern und Bibliotheken nicht halt gemacht. (Das Wissen hatte den Herrschenden damals nicht weniger Angst gemacht als heute.)

Doch nicht alle Spuren der Gelehrsamkeit in Timbuktu wurden vernichtet. Es muss, davon sind wir überzeugt, Reste davon immer noch in der Stadt geben. Geleitet von Assoura machen wir uns auf die Suche. Wieder geht es hinaus in die Hitze, quer durch Timbuktu in den nördlich gelegenen Stadtteil Sankoré, wo einst die Universität war. Doch unser Führer macht es spannend. Abrupt biegt er in eine schmale Seitengasse ein und stellt uns erst einmal einen Schreiner vor. Der alte Mann beherrscht noch die Kunst, die für Timbuktu typischen Türen herzustellen. Sie werden aus massivem Dattelpalmenholz gearbeitet und mit feingemusterten Metallbeschlägen verziert. Schon bei unserem ersten Rundgang durch die Stadt waren uns diese Türen aufgefallen.

Der Tischler beschäftigte in seiner Werkstatt noch einige Gesellen und Lehrlinge, die seine Kunst in die Zukunft tragen können. Der Alte jedenfalls schien von seinem Beruf nicht schlecht zu leben. Sogar nach Europa hatte er schon einmal eine Tür geliefert, wie er uns stolz berichtet. Auch das noble Azalai-Hotel hat seine Türen dekorativ eingesetzt. Aus ähnlichen Gründen, nämlich wegen des besseren Aussehens, setzt der Tischlermeister nun sein Gebiss in den Unterkiefer. Auf dem Gruppenfoto strahlt eine Reihe blitzendweißer Zähne, die in krassem Gegensatz stehen zu den beiden schwarzgelben Stümpfen im Oberkiefer. Auch Assoura hat seinen Spaß an der Darbietung. Nun aber sollen wir, sozusagen im Gegensatz zum alten Schreiner, eine jungen Gelehrten kennenlernen.

Wir kommen zum Haus des Adil Mahmoud Mohammed. Der junge Mann trägt einen Turban, der es schwer macht, sein Alter zu schätzen. Wahrscheinlich ist er noch keine 30 Jahre alt. Das Zimmer, in dem er uns empfängt, ist etwa zehn Meter lang und fünf Meter breit, die Wände sind blau getüncht, weiß verputzte Balken tragen die Decke. An den Wänden sind die Bücher des Hausherrn auf Tischen aufgeschichtet. Seine Bibliothek umfasst einige hundert Bände, die ältesten stammen aus dem 14. Jahrhundert. Die Werke, zumeist theologische und juristische Schriften, sind in bemerkenswert gutem Zustand.

Adil kennt sich in der Materie aus, er restauriert auch im Zentrum des Ahmed Baba die Bücher. Nie aber würde er seine Sammlung an das islamische Zentrum weiterreichen. „Das Erbe meines Vaters weggeben?“ – das ist für ihn unvorstellbar. Nur im allergrößten Notfall trennt sich ein Bürger Timbuktus von seinen über viele Generationen hinweg vererbten Büchern.

Wir haben uns auf den Boden gesetzt und machen es uns in der angenehmen Kühle des fensterlosen Raumes bequem. Ein Junge reicht Tee, in dem Erdnüsse schwimmen. Die Konversation beginnt mit den üblichen Ritualen. Adil fragt nach unserem Befinden, der Befinden der Familien und der Kinder. Höflich erwidern wir die Fragen. Assoura schlürft gelangweilt seinen Tee. Nachdem wir die Bücher und Manuskripte gebührend gewürdigt haben, zieht unser Gastgeber noch einen Pappkarton aus einem Regal. Als er ihn öffnet, sehen wir vergilbte Zeitungsausschnitte und alte Fotos. Adil kramt eines der Bilder hervor. Es zeigt Charles de Gaulle. Der General hat es Adils Vater gewidmet. Ein anderes, brüchig aussehendes Papier entpuppt sich als der Bericht einer marokkanischen Zeitung, in dem vom Besuch des Vaters in Marokko die Rede ist.

Ohne Frage hält der Sohn diese Erinnerungsstücke in hohen Ehren. Doch Einzelheiten sind aus Adils Rede nicht zu entnehmen. Er erzählt zwar in seinem mühsamen Französisch von den Reisen seiner Vorfahren in die islamische Welt. Wir gewinnen den Eindruck, dass er uns zu verstehen geben will, welch wichtige Rolle die Familie für Timbuktu im Laufe der Geschichte gespielt hat. Doch der Bericht verliert sich im unbestimmten. Klarheit ist aus seiner Rede beim besten Willen nicht zu gewinnen.

Assoura gibt uns Zeichen zum Aufbruch. Merkt er, dass wir unbefriedigt vom Ergebnis seiner Führung sind? Bevor wir uns von dem jungen Marokkaner verabschieden, stellt er uns noch seine Mutter und seine Kinder vor, seine Frau bleibt in den Tiefen des Hauses verborgen. Wir scheiden in dem Bewusstsein, dass die freundlichen Leute uns einfach nicht teilhaben lassen wollen an dem, was ihr Leben ausmacht.

Ist das Bild nicht ein wenig lächerlich? Zwei Schritte vor uns Assoura im wallenden Gewand, mit langen Schritten einem neuen Ziel entgegensteuernd. Dahinter stolpern wir beiden Gestalten im Gänsemarsch durch den Sand, den Kopf voll mit dem, was wir über Timbuktu gelesen haben. Assoura verlangsamt wieder einmal das Tempo. Sein Gebaren wird plötzlich ganz gravitätisch, seien Miene deutet an, dass wir uns nun dem Höhepunkt unserer Exkursion nähern.

Wir stehen vor dem Haus des ehrwürdigen Greises Ahmed Boularaf. Der Gelehrte ist 100 Jahre alt, behauptet Assoura, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Junge hat unser Kommen bereits gemeldet. Durch einen Innenhof gelangen wir zu eine schmalen Stiege, die zur Bibliothek im ersten Stock führt. Der Alte empfängt uns mit einem freundlichen Lächeln und einigen arabischen Worten. „Er spricht kein Französisch“, wispert uns Assoura zu, der dem Greis mit höchster Hochachtung begegnet. Noch vor wenigen Jahren hat Ahmet Boularaf Arabisch unterrichtet und seine Schüler im Islam unterwiesen. Jetzt lebt er zurückgezogen inmitten seiner Bücher.

Die Werke sind in zwei armseligen Räumen offen in Regalen gestapelt. Zu dicken Bündeln zusammengeschnürt sind sie dem trockenen, heißen Klima ausgesetzt. Eine dicke Schicht Staub bedeckt die Werke. Aber auch der betagte Gelehrte denkt nicht im Traum daran, seine Schätze im Centre Islamique vor dem Verfall in Sicherheit zu bringen.
Der Greis tappt an den Regalen entlang. Er ist zwar praktisch blind, doch die Standorte seiner Bücher weiß er auswendig. Er holt ein besonders wertvolles Manuskript aus einem finsteren Winkel. Es ist eine Lebensbeschreibung des Propheten Mohammed. Als er es aufschlägt, steigt eine Wolke von Staub empor. Ein in seiner Ruhe gestörter Käfer krabbelt erschrocken zwischen den Seiten hervor. Voll Stolz hält und der Alte das Buch entgegen. Die Blätter werden nur noch lose vom Einband gehalten. Wie er so dasteht, armselig und doch voll Würde, inmitten seiner vermodernden Schätze, ohne den Verfall wahrzunehmen, erscheint er wie ein Sinnbild der Stadt Timbuktu.

Nur noch wenige Jahre, und Trockenheit, Staub und Hitze und die unermüdlichen Käfer werden nichts mehr übrig gelassen haben von der alten Herrlichkeit. Nur der Mythos lebt weiter, die Sterne über Timbuktu strahlen fort bis in die Ewigkeit.
Beim Abschied zieht uns Assoura diskret zur Seite. Wir müssen dem Gelehrten aus Achtung vor seinem Alter und seiner Weisheit ein Geldgeschenk geben, meint er. Versteht sich, dass der Betrag sowohl der hohen Zahl an Jahren als auch der Unendlichkeit seiner Weisheit entsprechen muss.
Nachdenklich treten wir auf die Straße hinaus.

 

Abschied vom Timbuktu

Seit Tagen laufen unsere Bemühungen, die Abreise von Timbuktu auf einigermaßen komfortable Weise zu gestalten. Nach den Abenteuern mit dem Lastwagen, die unsere Anreise zu eindrucksvoll und unvergesslich gestalteten, sind wir wenig erpicht auf eine Wiederholung.

Angeblich soll Air Mali weiterhelfen. Sie unterhält ein Büro in den Arkaden am Marktplatz. Nicht etwa, dass Aussicht bestünde, einen Platz in einem Flugzeug der Gesellschaft zu ergattern. Zum einen sind die Gefahren einer Flugreise im Innern des Landes wirklich nicht zu unterschätzen. Gerade erst haben wir von Entwicklungshelfern gehört, die vor Jahren ihren Flugversuch mit dem Leben bezahlten.  Zum anderen verfügt Air Mali im Moment über kein einziges Flugzeug, was viele in der Tat für einen bemerkenswerten Beitrag zur internationalen Flugsicherheit werten.

Nein, das Büro der Air Mali verkauft keine Flugtickets – sondern vermittelt Mitfahrgelegenheiten auf Lastwagen.  Uns treibt die Hoffnung, Plätze in der Fahrerkabine eines Lastwagens ergattern zu können, der uns nach Gao bringt. Doch die grüne Tür am örtlichen Stützpunkt von Malis nicht existierender Luftflotte bleibt fast immer geschlossen. Nie gelingt es uns, dort jemandem unsere Wünsche vorzutragen.  Aber das macht nichts. Die Nachrichtenbörse funktioniert auch in Timbuktu  mit gewohnter Zuverlässigkeit. Da wir etwas kaufen wollen, nämlich Transportleistungen, findet sich auch jemand, der das Gewünschte zu verkaufen hat. Oder es jedenfalls behauptet. Tagelang werden wir von den Lkw-Managern vertröstet, doch sicher wird die Stunde schlagen,  in der sich endlich ein Lkw-Fahrer auf die schwierige Piste wagt. Vorerst freilich weiß niemand, wann das sein könnte.

Der Zufall eilt uns schließlich wieder einmal zur Hilfe. Die bescheidene Regierungsherberge,  in die wir mittlerweile umgezogen waren, hat hohe Gäste bekommen. Touristen sind wichtig, doch sie sind nichts, wenn wirklich bedeutende Leute eintreffen. Mit zwei Geländewagen – einem ziemlich neuen Toyota-Landcruiser und einem älteren britischen Land Rover – hat ein Trupp Agrarinspektoren auf der Durchreise nach Gao in Timbuktu Station gemacht.

Die drei Herren aus der Hauptstadt Bamako werden begleitet von zwei Fahrern, einem Manager und Aufseher für die Fahrzeuge sowie einem Hilfsburschen, der unterwegs das Benzin aus den mitgeführten Kanistern in die Tanks einfüllt und auch andere, ähnlich niedere Arbeiten verrichtet. Sieben Leute für zwei geräumige Fahrzeuge – da ist doch sicher noch Platz für zwei mittellose Passagiere, folgern wir erst einmal für uns.

Wir sprechen die Herren mit der gebotenen Höflichkeit an. Schnell stellt sich heraus, dass die Agrarwirtschaftler über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. Zwei der Männer haben in Stuttgart-Hohenheim Landwirtschaft studiert, der dritte, ihr Vorgesetzter, hat seine Studien in der DDR betrieben.

Die beiden, mit denen wir reden, können nicht entscheiden, ob wir mitfahren dürfen. Ihr Boss ist in der Stadt unterwegs. Er wird später gnädig mit dem Kopf nicken, und die Sache ist geregelt. Ohnehin ist große Vertraulichkeit mit wildfremden Europäern nicht Sache der malischen Führungseliten.

Wir sind einfach Bittsteller, mit denen man nicht große Worte macht. Immerhin erzählt der Chef der Gruppe am Abend in heiterer Stimmung ein wenig von seinem Werdegang. Nach seinem Studium in Leipzig hatte er zunächst als Wissenschaftler in einem Institut in Bamako gearbeitet. „Heute leite ich das Institut“, bricht es schließlich aus ihm hervor, während er selbstzufrieden-verschmitzt vor sich hin lacht.

Früh um sieben beginnt die Fahrt entlang des Nigerbogens durch die südlichen Randgebiete der großen Wüste. Als wir uns, wie verabredet, zeitig im Speisesaal der Herberge einfinden, sitzen die sieben Herren beim ausgedehnten Frühstück. Die Traditionsspeise Reis mit Soße wird hier zu zeitiger Stunde genossen.

Die Güte des Gerichts wird von der Soße bestimmt. Arme Leute können sich tatsächlich nur eine dünne Flüssigkeit  leisten, die bestenfalls mit ein paar winzigen Stückchen Fisch angereichert ist. Doch die Regierungsangestellten hier sind besser dran. Ordentliche Stücke von Rindfleisch, oben auf den Reisberg gehäuft, werden mit der rechten Hand in den Mund geschoben. Die Linke kommt dafür auf keinen Fall in Frage, sie ist unrein.

Der kleine Trupp nimmt an diesem Morgen kaum Notiz von uns. Erst  unmittelbar vor der Abfahrt gibt der Boss seinem Transportchef ein paar knappe Anweisungen. Unser Gepäck wird in den Land Rover geladen. Hier bekommen auch wir unsere Plätze angewiesen. Mit  im Fahrzeug sitzen außer uns und dem Fahrer noch der Manager des Fuhrparks sowie der Benzin- und Besorgungsbursche.

Acht Stunden sind wir unterwegs, um die 420 Kilometer nach Gao zu bewältigen. Das ist eine gute Zeit, die nur der Vierradantrieb unserer Fahrzeuge und der forcierte Vorwärtsdrang der erfahrenen Wüstenreisenden möglich machen. Vorneweg fährt der weiße Landcruiser, so schnell es eben die Strecke möglich macht. In unserem Fahrzeug keilen wir uns mit den Händen zwischen Sitzbank und Fahrzeugdach fest, um die wilden Stöße der Rüttelpiste abzufangen.  Der Transportchef dirigiert den Fahrer mit knappen Handbewegungen durch die vielen Möglichkeiten, die von der meist weit auseinander laufenden Piste angeboten werden. Ähnlich hatte auch Machmud Maiga auf seiner Piroge dem Steuermann Anweisungen gegeben und das Boot an den Untiefen des Niger so gut es ging vorbeigelotst.

Der beste Weg ist nicht immer der kürzeste, jeder kann seine Wahl treffen, wie er am besten vorwärts kommt. Auch das Bild der Dünen und Sandwellen, das sich ständig wechselnd vor uns ausbreitet, erlaubt unterschiedliche Deutungen über die Tragfähigkeit des Untergrunds. Wir folgen keineswegs immer der Spur unseres Führungswagens. Der Weiser des Weges bei uns zieht seine eigenen Schlüsse auch aus dem Verhalten des Wagens vor uns und entscheidet sich oft anders als dort der Lenker.

Und als der dann tatsächlich einmal mit seinem Auto im Sand stecken bleibt, schlägt die Stunde dessen, der sonst immer zurückbleiben muss. Wir überholen, mit kühnem Schwung die gefährliche Stelle umfahrend. Sowie sicherer Grund erreicht ist, wird angehalten. Der Besatzung des Chef-Fahrzeuges ist ausgestiegen, der Chef selbst schlendert ein wenig zur Seite. Wir anderen graben die Räder frei und schieben das Auto aus der Falle im Sand. Verglichen mit der mühseligen Prozedur bei unserer Anreise nach Timbuktu ist das alles nur ein Kinderspiel.

Bei der Ortschaft Bourem, knapp 100 Kilometer vor Gao, stößt von Norden eine der Transsahara-Pisten auf die Strecken. An zunehmendem Verkehr merkt man das nicht, doch werden die Dörfer längs des Weges häufiger. Die Piste wird allmählich fast zur befestigten Straße. Bald sind wir in Gao.

Das erste kalte Bier trinken wir, während die Verhandlungen für unser Zimmer im Hotel Atlantide noch andauern. Auch die Reisegesellschaft der Regierungsleute steigt in diesem Hotel ab. Abends sitzen wir dann auf dem Innenhof des Hotels und leeren noch ein paar der unvermeidlichen Halbliterflaschen. Der Sternenhimmel funkelt wie eh und je, unzählbare glitzernde Punkte im schwarzen Schimmer der Unendlichkeit.

 

 

 

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