Buchauszug aus „Vorurteile“ von Mahzarin R. Banaji und Anthony G. Greenwald

Buchauszug aus „Vorurteile – Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können“ von Mahzarin R. Banaji und Anthony G. Greenwald, beide Koryphäen der Sozialpsychologie. 

 

Banaji © Harvard University News Office.

Co-Autorin Mahzarin R. Banaji © Harvard University News Office.

Homo categoricus

Ein Vater und sein Sohn haben einen Verkehrsunfall. Der Vater stirbt noch an der Unfallstelle. Der schwer verletzte Sohn wird eilends ins Krankenhaus gefahren. Im Operationssaal blickt der diensthabende Chirurg auf den Jungen und sagt: ≫Ich kann ihn nicht operieren. Er ist mein Sohn.≪ Wie kann das sein?

Falls Sie auf diesen kurzen Bericht spontan verblüfft reagieren, liegt das daran, dass Sie automatisch an einen Mann denken, wenn Sie ≫Chirurg≪ gelesen haben. Dieses Ratsel ist im englischen Sprachraum seit Langem im Umlauf, weil es dort besser als im Deutschen funktioniert: Denn beim Begriff surgeon fur ≫Chirurg≪ oder ≫Chirurgin≪ gibt es – wie bei allen Bezeichnungen – keine eigene weibliche Form. Die Assoziation surgeon = männlich ist ein Stereotyp, das einem als ein mentaler Programmfehler den Blick verstellt. Man erkennt im Englischen nicht sofort, dass der Sammelbegriff auch das weibliche Geschlecht abdeckt und damit die Mutter des verletzten Jungen meint.

Mahzarin bekam das Rätsel schon 1985 gestellt. Dass sie nicht von alleine auf die Losung kam, erbitterte sie geradezu: Wer zutiefst überzeugt ist, dass Frauen gleiche Fähigkeiten wie Männer besitzen und gleiche Rechte genießen sollten, ärgert sich über sich selbst, wenn er – oder sie – einfach über Homo categoricus Wie zutreffend sind Stereotype?

 

Das Wort ≫Stereotyp≪ gelangte im 19. Jahrhundert über das französische »stéréotype« ins Deutsche – in derselben Wortbedeutung, in der es schon Ende der 1700er-Jahre – als stereotype – ins Englische gelangt war: ≫mit gegossenen feststehenden Typen gedruckt≪. Mit Stereotypplatten ließen sich von einzelnen Buchseiten im Druck bequem identische Kopien in beliebiger Anzahl herstellen. In Anlehnung daran prägte 1922 der US-Journalist und politische Kommentator Walter Lippmann den heutigen Begriff des Stereotyps, indem er mit ihm ≫Bilder in unserem Kopf≪ bezeichnete, die alle Mitglieder einer Gruppe mit denselben Eigenschaften darstellten – häufig auf wenig schmeichelhafte Art. Wie Lippmann es sah, kommt uns so ein fixes Bild in den Sinn, sobald wir einem Mitglied der betreffenden Gruppe begegnen.

"Vorurteile" - Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können. dtv, 285 Seiten, 16,90 Euro

„Vorurteile – Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können“ Mahzarin R.Banaji/ Anthony G. Greenwald,  dtv, 285 Seiten, 16,90 Euro: https://www.dtv.de/buch/mahzarin-r-banaji-anthony-g-greenwald-vor-urteile-26071/

 

 

Ein Körnchen Wahrheit in jedem Stereotyp

Wie zutreffend sind Stereotype? Ein paar Beispiele für Stereotype: Alte Menschen sind vergesslich. Koreaner sind schüchtern. Asiaten sind mathematisch begabt. Bostoner Autofahrer sind aggressiv. Frauen sind fürsorglich. Alle diese Aussagen assoziieren eine Gruppe mit einer Eigenschaft. Der Kern dieser Assoziationen lasst sich wieder mit einem Gleichheitszeichen ausdrucken: alt = vergesslich, Koreaner = schüchtern, Asiate = mathematisch begabt, Bostoner Autofahrer = aggressiv, Frau = fürsorglich.

Jedes Stereotyp enthält ein Körnchen Wahrheit. Um dem Rechnung zu tragen, setze man das Wort manche vor diese Aussagen. Wer wollte der Behauptung widersprechen, dass ≫manche Koreaner schüchtern sind≪? Gleichzeitig sind sämtliche Stereotype zumindest teilweise unzutreffend. Es gibt immer Gruppenmitglieder, die das Klischee sprengen. Kaum einer würde verneinen, dass es ≫viele kontaktfreudige Koreaner≪ gibt. sieht, dass surgeon im dargestellten Zusammenhang ≫Chirurgin≪ bedeutet. Feministisch eingestellte Personen ahnen selten, dass auch sie der automatischen Assoziation Chirurg = männlich auf den Leim gehen.

Betrachten wir den Fall naher: Warum stützt eine Feministin – oder ein Feminist – ihr oder sein Denken auf ein Stereotyp, das mit den eigenen Anschauungen auf Kriegsfuss steht?

Erinnern Sie sich an die optische Täuschung mit den beiden Tischen, mit der Kapitel 1 eingeleitet wurde. Als Sie die beiden Tischplatten sahen, zogen Sie unbewusst sofort den Schluss, dass es sich um völlig verschiedene Formen handele. Nicht einmal der unumstößliche Beweis, dass beide in Wahrheit identisch sind, konnte diesen ersten Eindruck auslöschen. Die Täuschung prägte sich unserem Gehirn einfach zu machtvoll ein. Entsprechend denken bei ≫Chirurgen≪ sogar die meisten von denen, die entschieden vertreten, dass Frauen für diesen – wie für jeden Beruf – genauso gut geeignet sind, spontan zunächst einmal an Männer.

Allerdings müssen wir einräumen, dass wir nicht nur auf dieses Stereotyp setzen, um das fehlerhafte mentale Programm auszulösen. Wenn man in der Geschichte die Wörter zahlt, die auf eine männliche bzw. weibliche Person verweisen, stellt man ein erdruckendes Ungleichgewicht fest:

Vater, sein, Sohn Vater, Sohn, Jungen, ihn, er, Sohn: Acht Verweise auf eine männliche Person gegenüber keinem einzigen auf eine weibliche.

Diese wiederholten Auslöser wirken bei der Aktivierung der Assoziation Chirurg = männlich sicher verstärkend mit. Wäre es in der Geschichte um eine verletzte Tochter gegangen, wäre fünf Mal auf eine weibliche Person verwiesen worden – am Ende mit: ≫Ich kann dieses Mädchen nicht operieren. Sie ist meine Tochter.≪ Dann wäre einem vielleicht schneller eingefallen, dass mit der Person, die den Jungen operieren sollte, die Mutter gemeint war. Diese zusätzlichen Auslöser in der Formulierung des Rätsels schufen einen Zusammenhang, der den automatischen Einfall von ≫männlich≪ unterstützte – so wie die kunstvoll gezeichneten Beine der Shepard-Tische ebenfalls mit dafür sorgen, dass wir automatisch zwei vollkommen unterschiedliche Tischplatten wahrnehmen.

Wenn Sie getippt haben, blättern Sie weiter: Dort finden Sie die Lösung. aggressiv sportlich fortschrittlich intelligent überheblich geschwätzig musikalisch schmuddelig tüchtig rachsüchtig fleißig familienverbunden ehrgeizig konservativ streitlustig ehrlich stur unzuverlässig ordentlich jovial gesellig wissenschaftlich denkend praktisch systematisch künstlerisch abergläubisch reserviert impulsiv konventionell witzig beharrlich faul.

Da alle Klischees teilweise zutreffen und teilweise falsch sind, erscheint ein Streit über ihren Wahrheitsgehalt müssig. Dennoch können wir sagen, dass manche Stereotypen eher zutreffen als andere. So ist Feministen = weiblich sicher zutreffender als Bostoner Autofahrer = aggressiv, und dies in so hohem Masse, dass im Deutschen fast nur der Ausdruck ≫Feministinnen ≪ auftaucht, obwohl der Sprachkonvention nach die männliche Form eigentlich der Sammelbegriff für beide Geschlechter wäre

Eine vernünftige Frage lautet, ob eines der fünf Stereotype so sehr zutrifft, dass es klug wäre, es auf eine Person anzuwenden, von der wir nichts wissen, außer, dass sie der betreffenden Gruppe angehört. Zum Beispiel, dass diese Person in Boston wohnt und Auto fährt. Wenn in Boston so rücksichtsvoll gefahren wird wie in den meisten anderen Städten, müsste das Stereotyp als unzutreffend gelten und es wäre unklug, sich davon leiten zu lassen.

Aber vielleicht hat es doch eine gewisse Aussagekraft. Vielleicht ereignen sich im Bostoner Straßenverkehr häufiger Unfälle, die sich sogar in höheren Versicherungsprämien niederschlagen. Ist es dann sinnvoll, ein solches Stereotyp zu gebrauchen? Auf diese schwierige Frage kommen wir noch zuruck.Wissenschaftliche Studien zu Stereotypen

Die erste einflussreiche wissenschaftliche Untersuchung zu Stereotypen wurde 1933 von den Psychologen Daniel Katz und Kenneth Braly von der Princeton University veröffentlicht. Die Forscher versuchten, die vorgefertigten Bilder zu beschreiben, die Hunderte der Studenten zu zehn verschiedenen nationalen oder nach der ethnischen Herkunft definierten Gruppen im Kopf hatten. Dazu legten sie ihnen eine Liste mit 84 ≫Eigenschaften≪ vor, die Menschen oft zugeschrieben werden.

In einem Teil dieser Liste (siehe unten) tauchen auch fünf Eigenschaften auf, welche die Princetoner Studenten damals am häufigsten als typisch für Deutsche nannten. Eine kleine Aufgabe: Versuchen Sie in der Liste zwei dieser fünf Eigenschaften zu erraten.

Wahrend die Eigenschaft weiblich im Stereotyp des Afroamerikaners 1933 noch fehlte  wurde sie in einer modernen Studie wahrscheinlich an herausragender Stelle auftauchen – eine zuverlässige Widerspiegelung des gesellschaftlichen Wandels, der es Afroamerikanern heute ermöglicht, Aktivitäten nachzugehen und Laufbahnen einzuschlagen, die ihnen Anfang des 20. Jahrhunderts versperrt waren. Und während die Eigenschaften wissenschaftlich und technisch damals nicht ins Klischee der Chinesen passten, wurde eine moderne Studie fast sicher zeigen, dass sie für diese Gruppe heute als typisch gelten. Das sind Beispiele für sich positiv verändernde Klischees. Das heißt aber nicht, dass ein Wandel immer mit einer Aufwertung einhergeht.

Stereotype geben gewöhnlich ein unvorteilhaftes Bild wieder. Stellen Sie sich vor, Sie gehörten einer Gruppe an, die andere als anziehend, großzügig, ehrlich, intelligent und vertrauenswürdig beurteilen – als deren fünf typischste Eigenschaften. Würden Sie dieses Gruppen-Stereotyp nicht gerne auf sich bezogen sehen? Aber so positiv ist kein Stereotyp. Um das Verhältnis zwischen positiven und negativen Einschätzungen in Stereotypen zu ermessen, befassten wir uns mit den zehn Nationalitäten-Klischees, die in der Princeton-Studie von 1933 untersucht wurden. Bei zweien (Türken und Afroamerikaner) war von den zehn Charakteristika, die der Gruppe am häufigsten zugeordnet wurden, über die Hälfte eindeutig negativ. Bei drei weiteren Klischees (Italiener, Iren und Chinesen) waren drei der zehn am häufigsten genannten Eigenschaften ebenfalls klar negativ besetzt.

Typisch deutsch

Eine Charakterisierung, in der ≫nur≪ drei von zehn Eigenschaften negativ zu werten sind, lasst eine Gruppe eigentlich nicht schlecht dastehen. Immerhin sind die übrigen sieben entweder neutral oder positiv. Dass eine stereotype Beurteilung, die zu 30 Prozent negativ ausfallt, alles andere als vorteilhaft ist, zeigt allerdings ein kurzes Beispiel:

Folgende fünf Eigenschaften nannten die Studenten am häufigsten als typisch deutsch:

wissenschaftlich denkend (78 %),

fleißig (65 %),

stur (44 %),

intelligent (32 %),

systematisch (31 %).

Die Prozentzahlen beziehen sich auf den Anteil der Studenten, die die jeweilige Eigenschaft im beschriebenen Versuch nannten.Wenn Ihre beiden Favoriten unter diesen fünf sind, haben Sie möglicherweise ein psychologisches oder historisch ausreichend gutes Gespür, um die Stereotypen der Amerikaner in den 1930er-Jahren gegenüber Deutschen richtig einzuschätzen.

Möglich wäre allerdings auch, dass sich Ihre eigenen Klischees von heute mit denen der Princeton-Studenten in den 1930er-Jahren decken. Beides ist möglich: Denn wir haben bewusst ein Klischee gewählt, das sich zwischen 1933 und einer Wiederholung der Studie 2001 kaum verändert hat. Die drei wichtigsten Eigenschaften, die für Deutsche 1933 genannt wurden, blieben 2001 dieselben: wissenschaftlich denkend, fleißig und stur.

Hervorstechende türkische Eigenschaften

Dabei bilden die Deutschen allerdings eine Ausnahme: Bei den anderen neun Gruppen, zu denen die Studie durchgeführt wurde, zeigten sich bei der Wiederholung deutliche Veränderungen: Italiener, Schwarze, Iren, Engländer, Juden, Amerikaner, Chinesen, Japaner und Turken. Ein Beispiel für diesen Wandel waren die Türken. Bei ihnen lautete 1933 die Liste der fünf hervorstechenden Eigenschaften:

grausam, tief religiös, hinterhältig, lüstern und ungehobelt (in dieser Rangfolge). 2001 fand sich von diesen Eigenschaften nur noch eine in der Liste. Genannt wurden diesmal tief religiös, extrem nationalistisch,traditionsbewusst, aufbrausend und aggressiv. Diese Liste deutet nicht darauf hin, dass heutige Amerikaner von Turken ein sehr schmeichelhaftes Bild haben, aber gegenüber den 1930er-Jahren scheint sich die Einstellung leicht verbessert zu haben.

Stereotype können sich nachweislich weiterentwickeln. Die Kategorie  ≫Wagen≪ beinhaltet so unterschiedliche Dinge wie Spielzeugautos, Straßenbahnen und Eisenbahnwaggons. Kategorien beeinflussen stark unser Verhalten, wie eine Situation deutlich macht, bei der Untereinheiten der Kategorie Wagen eine Rolle spielen: Wenn Sie mit hohem Tempo auf einer Schnellstraße fahren und sich rasch einem Wagen vor Ihnen nähern, treten Sie eher auf die Bremse, wenn Sie ihn statt als Sportwagen als Polizeifahrzeug kategorisieren. Ein weiteres Beispiel: Sie gehen mit kleinen weißen Kristallen, die Sie unter der Kategorie Zucker verbuchen, ganz anders um, als wenn Sie sie als Salz kategorisieren, obwohl Sie die beiden Arten von Kristallen auf einem Teelöffel nicht voneinander unterscheiden können.

Kategorien beeinflussen das Verhalten

Ebenso deutlich beeinflussen die Kategorien, in die wir Menschen einstufen, unser Verhalten. Dazu ein Beispiel:

• Wenn Sie in einem Geschäft einkaufen, händigen Sie einem Fremden, den sie als Verkäufer einstufen, bereitwillig Ihre Kreditkarte in dem Vertrauen darauf aus, dass er als typischer Vertreter seiner Kategorie Ihre Kontodaten nicht heimlich registriert, um sie an Dritte weiterzuverkaufen, die mit ihnen Missbrauch treiben.

• Wenn Sie in ein Krankenhaus gehen, nehmen Sie fügsam die Rolle des Patienten (eine Kategorie) ein. Ohne die Menschen dort je zuvor gesehen zu haben, befolgen Sie ihre Anweisungen ohne sie zu hinterfragen. Sie kategorisieren sie aufgrund ihrer Kleidung als Arzt oder Krankenschwester, vertrauen ihnen Ihr Leben an und sind beispielsweise bereit, sich in ihrer Gegenwart nackt auszuziehen.

• Wenn Sie Auto fahren, bleiben Sie in Ihrer Spur, richten sich nach Ampeln und hüten sich in den allermeisten Fallen, ein Stoppschild zu überfahren. Ohne einen Augenblick nachzudenken, verhalten Sie sich wie ein Mitglied der Kategorie Autofahrer. Und Sie verlassen sich darauf, dass andere Mitglieder dieser Kategorie sich genauso  erhalten. Erwagen Sie die Alternativen: Sie konnten auch von allen Verkäufern ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen, nach den Die oben abgedruckte Liste mit 32 Einträgen enthält sieben eindeutig negative Eigenschaften:

überheblich, schmuddelig, faul, streitsüchtig, rachsüchtig, abergläubisch und unzuverlässig.

Wie vielen Ihrer Freunde wurden Sie eine dieser Eigenschaften zuordnen? Möglicherweise würden Sie die eine oder andere einem oder zwei Freunden zusprechen. Aber würden Sie behaupten, dass nur eine dieser Eigenschaften alle Ihre Freunde kennzeichnet? Falls ja, sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, sich einen neuen Freundeskreis zuzulegen!

Nur ganz wenige Stereotype sind fast durchweg positiv wie das des Raketenwissenschaftlers (natürlich eines Mannes), der uns Normalsterbliche mit seiner herausragenden Intelligenz alle überflügelt. Aber die große Mehrheit der Stereotype enthält zumindest einige Charakterisierungen, die man niemandem zuschreibt, den man mag oder respektiert. Wie eine Studie von 2001 zeigte, enthielten selbst die positivsten Klischees, mit denen Amerikaner ihre Mitbürger belegten, einige negative Zuge. Dabei am häufigsten genannt wurden die halb negativen Eigenschaften individualistisch und materialistisch. Unsere Schlussfolgerung: Gruppen-Stereotype bestehen typischerweise aus Zügen, die deutlich negativer sind als diejenigen, die wir Freunden zuschreiben wurden.

Kategorien

Der Ausgangspunkt der modernen wissenschaftlichen Erforschung von Stereotypen ist anerkanntermaßen Gordon Allports Die Natur des Vorurteils, das im Original 1954 erschien. Darin schrieb Allport: ≫Der menschliche Geist muss in Kategorien denken … Einmal gebildet, sind sie die Grundlage für normale Vorurteile. Dieses Vorgehen ist unvermeidlich. Das geordnete Leben beruht darauf.≪

 

Der Ausdruck Homo categoricus tragt dem wissenschaftlichen Einfluss von Allports Sichtweise Rechnung, wonach mentalen Kategorien eine hohe Bedeutung zukomme. Eine Kategorie ist eine Zusammenstellung von Dingen, die so viel gemeinsam haben, dass sie als verwandt gelten können. Deren sieben Dimensionen entsprechen den sieben Spalten von Tabelle 5–1.

Die zehn Wörter umfassende Kennzeichnung des Subaru ist eine von Tausenden verschiedener Automobil-Kategorien, die sich beschreiben lassen, indem man Merkmale aus den sieben Spalten der unten abgedruckten Tabelle miteinander kombiniert. Dabei vollbringt unser Gehirn eine erste Meisterleistung: Es beschwört aus der großen Vielfalt der unterschiedlichen Kategorien anschauliche Bilder herauf, und dies in der Regel ohne jede Mühe und vollautomatisch. Wer mit Automobilen kaum vertraut ist, tut sich eher schwer damit, die 10-gliedrige Wortkette zu entschlüsseln, die den Subaru Baujahr 1991 bezeichnet. Falls Sie dieses Beispiel überfordert, müsste ein anderes mehr Klarheit schaffen: Mit Meisterleistung 2 lässt sich eine weitaus grössere Anzahl von Gruppen kategorisieren.

Tabelle 5–1 Generator für eine siebendimensionale Automobilkategorie

Modell Baujahr Karosserietyp Motor Kraftquelle Getriebe Antrieb

Fort Taunus 1990 Fließheck 4-Zylinder Diesel Manuell 4-Gang Front

Cadillac Seville 1991 Kombi 6-Zylinder Elektro Manuell 5-Gang Hinterrad

VW Jedda 1992 Kabrio 8-Zylinder Hybrid Automatik Allrad

                           SUV                     Benzin

Subaru Legacy 2007 Pick-up

Audi Turbo 2008 2-türige Limousine

Toyota Camry 2009 4-türige Limousine

Mercedes 550SL 2010 Van

 

(…)Abschlüssen und neueren Zertifizierungen des medizinischen Personals fragen oder sich aus Angst, unter die Räder zu kommen, nicht mehr auf die Strasse trauen. Sollten Sie derlei Vorsichtsmaßnahmen schon einmal getroffen haben, wurden Sie möglicherweise in die Kategorie paranoid oder agoraphob eingestuft – mit Konsequenzen, die sicher unerfreulicher sind, als einfach darauf zu vertrauen, dass andere das tun werden, was man ihrer Kategorie entsprechend erwartet. Betrügerische Verkäufer, Scharlatane unter den Ärzten und volltrunkene oder übermüdete Autofahrer gibt es durchaus. Aber dies ändert bemerkenswerterweise nichts daran, dass wir fast alle mit Kreditkarte zahlen, medizinische Hilfe in Anspruch nehmen und Auto fahren. Kategorien sind nicht nur äußerst praktisch, sie sind wesentlich für uns, um unseren Alltag zu bewältigen.

Ein Gehirn, das mit Kategorien arbeitet

Dass unser ≫geordnetes Leben≪, wie Allport es ausdruckte, davon abhängt, dass wir in Kategorien denken, zeigen vier der zahlreichen Meisterleistungen, die unser Gehirn mithilfe solcher geistigen Schubladen bewältigt. Und es vollbringt alle so mühelos, dass wir nicht einmal merken, wie virtuos es dabei operiert.

Meisterleistung 1: Multidimensionale Kategorien: ein Schnappschuss!

Werden Sie aus der folgenden Kette aus zehn Wörtern schlau?

1991 Subaru Legacy 4-türige Limousine mit 4-Zylinder-Motor Vorderantrieb und Automatikgetriebe

Möglicherweise verstehen Sie diese Abfolge von Wörtern auf Anhieb. Wissen Sie auch, dass diese ihre Bedeutung komplett verändert, wenn man die Wörter ≫Limousine mit Automatikgetriebe ≪ durch ≫Kombiwagen mit Standardgetriebe≪ ersetzt?

Falls Sie beide Fragen bejahen können, verfügen Sie über eine (…) Bild zu machen, ist tatsächlich so umfassend, dass wir uns auf Anhieb sogar eine Person vorstellen können, die Merkmale aus den sechs Dimensionen in einer höchst ungewöhnlichen Kombination auf sich vereint: Denken Sie an eine Schwarze muslimischen Glaubens über sechzig, eine lesbische Franzosin, die ihr Geld als Professorin verdient. Wohl kaum ein Leser kennt eine Person, auf die auch nur vier der genannten sechs Merkmale zutreffen. (Versuchen Sie, so jemanden in Ihrem Bekanntenkreis auszumachen!) Trotzdem ist eine solche Person ohne besondere Mühe vorstellbar. Aller Wahrscheinlichkeit nach können Sie sich in Gedanken leicht das Bild von so einer Person machen, die so ganz anders ist als alle, die Sie bislang kennen lernten: eine schwarze muslimische lesbische französische Professorin in den Sechzigern.

Wer mit den vier Kategorien zum Geschlecht und zur sexuellen Orientierung vertraut ist, dazu mit den fünf Rassen (die amerikanischen Ureinwohner dazugerechnet), zuzüglich annähernd fünfzig Nationalitäten oder Herkunftsregionen, um die zehn Religionen, acht Altersgruppen und vielleicht fünfzig Berufe, für den wirft die Tabelle 5–2 die schwindelerregend hohe Anzahl von 4 Millionen Personenkategorien ab. Das rasante Tempo, mit dem wir uns anhand von sechs Merkmalen von einer Personenkategorie ein Bild machen können, so gros (Fabrikarbeiter in Detroit) oder klein (französische Professorin) sie auch sein mag, belegt eindrucksvoll die meisterhafte Fähigkeit des Gehirns, sich Kategorien zu schaffen und sie einzusetzen.

Meisterleistung 3: Sprung über die verfügbare Information hinaus

Wie verarbeitet Ihr Gehirn die Information, wenn Sie erfahren, dass eine Person ≫Amerikaner≪ sei? Zum Beispiel in den Aussagen: ≫Mein Englischprofessor ist Amerikaner.≪ Oder: ≫Ein amerikanischer Passagier wurde vernommen.≪ Oder: ≫Der amerikanische Lotteriegewinner blieb anonym.≪ Versuchen Sie zum Beispiel, den anonymen Lotteriegewinner vor Ihrem geistigen Auge erstehen zu lassen. Stellen Sie sich ihn bildhaft vor, zum Beispiel in dem Augenblick, in dem er bei der Lotte- (…)

 

Meisterleistung 2: Millionen spontan gestaltbare Personenkategorien

Tafel 5–2 zeigt einen kleinen Ausschnitt aus einer sechsdimensionalen Struktur, die verschiedene Kategorien von Menschen erzeugt, wenn Begriffe aus sechs Spalten miteinander kombiniert werden. Manche Kategorien, die durch eine Aneinanderreihung aus sechs Merkmalen gekennzeichnet werden, beinhalten einen relativ großen Personenkreis. Zum Beispiel gibt es viele weise Männer mittleren Alters, die christlich geprägt sind und in Detroit in einer Fabrik arbeiten. Wer in einer anderen Stadt lebt, hat wahrscheinlich noch nie eine solche Person kennengelernt. Trotzdem haben die meisten US-Bürger auf Anhieb eine Vorstellung von einem solchen Fabrikarbeiter, wenn sie mit dieser sechsgliedrigen Beschreibung konfrontiert werden.

Das könnte daran liegen, dass ihnen ein Bericht in der Zeitung oder in anderen Medien eine solche Vorstellung vermittelt hat (zum Beispiel anlässlich einer Fabrikschließung oder eines Streiks). Vielleicht ist ihnen so ein Fabrikarbeiter auch schon als Romanfigur begegnet, oder Freunde haben ihnen von einem erzählt.

So einfach ist allerdings nicht zu erklaren, warum wir uns anhand der sechs Dimensionen von Tabelle 5–2 so mühelos Kategorien bilden können. Unsere Fähigkeit, uns auf die Art ein Bild zu machen, ist tatsächlich so umfassend, dass wir uns auf Anhieb sogar eine Person vorstellen können, die Merkmale aus den sechs Dimensionen in einer höchst ungewöhnlichen Kombination auf sich vereint (…)

Tafel 5–2 Generator für sechsdimensionale Kategorien von Personen

Rasse Religion Alter Nationalität /Region Geschlecht / Orientierung Beruf

weiß christlich Jung Frankreich männlich Professor

asiatisch muslimisch Mittleren Alters Detroit weiblich Hausfrau/-mann

schwarz jüdisch In den Sechzigern Australien schwul Flugbegleiter

hispano  zoroastrisch Alt USA lesbisch Fabrikarbeiter

Deutsche, Chinesen oder Italiener bezeichnet wurden, typische Eigenschaften zuzuordnen. Bei den Amerikanern gingen sie aller Wahrscheinlichkeit automatisch davon aus, dass sie Eigenschaften für weisse, männliche und erwachsene Amerikaner benennen sollten. Andernfalls hatten sie wohl kaum materialistisch und ehrgeizig  am häufigsten genannt: Aus damaliger Sicht waren diese Eigenschaften fur Amerikaner innen oder amerikanische Kinder sicher unpassend erschienen.

Meisterleistung 4: Kooperative Kategorisierung

Menschen senden häufig aktiv Signale aus, um anzugeben, welcher Kategorie sie angehören. Diese Signale helfen uns beispielsweise dabei, bei der ersten Begegnung zu erkennen, welchen Beruf eine Person ausübt. In der Reparaturwerkstatt gehen wir davon aus, dass ein Mann im Overall ein Mechaniker und kein Kunde ist. Im Krankenhaus erkennt man Ärzte oder Krankenschwestern an der weisen Kleidung. Seinen Beruf mit einer ≫Tracht≪ zu signalisieren, ist eine von vielen Möglichkeiten, es anderen zu erleichtern, die eigene Person in richtige Kategorien einzuordnen.

Die wahrscheinlich verbreitetste und wichtigste Strategie zur kooperativen Kategorisierung sind Signale, die anderen dabei helfen, uns als Mann oder Frau zu klassifizieren. Wenn Sie sich verblüfft fragen, wer für diese Erkenntnis schon Unterstützung brauche, dann zeigt dies nur, wie selbstverständlich und gewohnheitsmäßig fast jeder deutlich macht, ob er Mann oder Frau ist.

Obwohl unser Geschlecht an natürlichen Körpermerkmalen wie der Figur oder den Gesichtszügen leicht zu erkennen ist, verstärken wir den Eindruck noch mit vielfältigen Mitteln. Frauen tragen häufig längeres Haar als Männer. Die meisten Menschen betonen mit geschlechtstypischer Kleidung die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, heben sie mit diversen Accessoires so deutlich wie möglich hervor. Kosmetik, Maniküre, Schmuck und Gesten sind weitere Erkennungszeichen, die Männlichkeit und Weiblichkeit signalisieren, wenn nicht sogar prachtvoll in Szene setzen. Es wäre eine interessante Übung auszurechnen, welchen Anteil an ihrem Wohlstand die Bürger eines Landes dafür ausgeben, um mit Kleidung, Make-up und Accessoires die Kategorisierung als Mann oder Frau zu erleichtern. (…..) Lotteriegesellschaft anruft, um seinen Anspruch auf den Gewinn anzumelden.

Welche Eigenschaften hat diese imaginäre Person, abgesehen von der Nationalität? Sehr wahrscheinlich stellen Sie ihn sich als einen weisen erwachsenen Mann vor. Und wenn Sie sich ihn tatsächlich mit diesen drei Merkmalen vorgestellt haben, dann geschah dies wahrscheinlich ganz unwillkürlich. Man kann sich von einem Menschen kein echtes Bild machen, ohne ihm ein Geschlecht, eine Hautfarbe oder ein Alter zuzuordnen.

Theoretisch hatten Sie sich als ≫Lotteriegewinner≪ auch ein junges Mädchen mit lateinamerikanischen Wurzeln vorstellen können. Aber viel wahrscheinlicher hatten Sie das Bild eines weisen Erwachsenen vor Augen. Die Merkmale, die Sie hinzugefugt haben, können als Ihre Standardwerte mit Blick auf Hautfarbe, Geschlecht und Alter gelten, mit denen Sie sich einen typischen US-Burger vorstellen. Warum denken Sie bei einem nicht naher bezeichneten ≫Amerikaner≪ gerade an weiß, männlich und erwachsen? Wahrscheinlich deshalb, weil Ihnen in Zeitungen, Radio, Fernsehen oder in Unterhaltungen am häufigsten Amerikaner mit diesen Eigenschaften begegnen, unabhängig davon, ob dies Ihre persönliche Alltagswirklichkeit widerspiegelt.

Wenn wir uns ein geistiges Bild machen, greifen wir bei seiner Ausgestaltung auf standardisierte Eigenschaften zuruck, die weit über das hinausgehen, was uns als Information vorliegt. Und diese voreingestellten Attribute, die wir dabei hinzufugen, kommen uns so selbstverständlich und automatisch in den Sinn, dass wir unwillkürlich andere Eigenschaften angeben, wenn die vorgegebenen nicht zutreffen. Wenn man nur ≫Amerikaner≪ sagt, meint man einen weisen US-Bürger, und präzisiert, wenn es sich um einen ≫asiatischen≪ oder ≫afroamerikanischen ≪ handelt. Und wo von ≫Ingenieuren≪ die Rede ist, sind meistens Männer gemeint, wenn nicht präzisiert wird, dass auch Frauen darunter sind.

Dies erklart auch eine Auffälligkeit, die in der erwähnten Princetoner Studie zu Stereotypen von 1933 vielleicht seltsam erschien: Die studentischen Teilnehmer waren aufgefordert, Nationalitäten, die mit nur einem Wort wie Amerikaner, (…) Organisationen oder geben die Namen ihrer Hochschulen nicht oder falsch an, weil sie traditionell vor allem von Schwarzen besucht werden.

Wahrend die unkooperative Kategorisierung weit verbreitet ist, setzen viele Mitglieder diskriminierter Gruppen, die wegen ihrer ethnischen oder rassischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden, im Gegenteil besonders deutliche Signale, wo sie einzuordnen sind – ein Hinweis darauf, dass es mehr Vorteile als Nachteile hat, seine Identität klar zu stellen.

Man denke an Schwule und Lesben. Obwohl sie in der modernen US-Gesellschaft noch immer vielfach stigmatisiert und benachteiligt werden, bekennen sich viele zu ihrer sexuellen Orientierung – zumindest gegenüber anderen ihrer Kategorie, und manche auch in der Öffentlichkeit. So ein Outing unterstützt das ≫Schwulenradar≪, die Fähigkeit, die sexuelle Orientierung anderer aus der Ferne auszumachen, und beugt Missverständnissen vor, die beide Seiten in peinliche Lagen bringen können.

Wie wir Stereotype einsetzen

Die meisten von uns halten die Aussage ≫Enten legen Eier≪ für sinnvoll. Tatsächlich trifft sie aber für die große Mehrheit der Enten weltweit gerade nicht zu, und zwar aus zwei Gründen. Zum Ersten überleben das Schlüpfen weniger weibliche als männliche Küken. Deswegen sind über die Halfte der Enten auf der Welt Erpel, die eben keine Eier legen.

Zweitens sind viele der weiblichen Enten zum Legen noch zu jung. So gesehen sind Eier legende Enten klar in der Minderheit. Der Leser mag hier einwenden, dass sich die Aussage, wonach Enten Eier legen, nur auf manche, nicht alle Enten beziehe und deshalb eben doch zutreffe.

Das mag sein. Aber was ist mit der Aussage: ≫Hunde tragen Kleider.≪ Sie gilt sicher für manche Hunde. Aber hatten Sie diese Aussage ebenfalls fur zutreffend gehalten? Wahrscheinlich nicht. Nach unserem Verständnis erscheint ≫Enten legen Eier≪ Übung auszurechnen, welchen Anteil an ihrem Wohlstand die Burger eines Landes dafur ausgeben, um mit Kleidung, Make-up und Accessoires die Kategorisierung als Mann oder Frau zu erleichtern.

Als ein weiteres Merkmal ist die Hautfarbe ebenfalls schnell und ohne Hilfe identifizierbar, wird aber ebenfalls häufig durch die Wahl der Frisur, der Kleidung, der Sprache und Gestik oder mithilfe anderer Signale verdeutlicht.

Solche Signale können natürlich von anderen Gruppen vereinnahmt werden. Man denke an die weisen Teenager aus wohlhabenden Vorstädten, die ≫Ghetto-Klamotten≪ anziehen, um Eindruck zu machen. Wie wir erkennen müssen, hat das Phänomen der kooperativen Eigen-Kategorisierung auch ein unkooperatives Pendant, bei dem visuelle Signale dazu dienen, um über die eigene eigentliche Kategorie willentlich hinwegzutäuschen.

Bei der verbreitetsten Form der unkooperativen Kategorisierung bemühen sich viele, junger zu erscheinen, als sie tatsächlich sind. Viel Geld fließt in Kosmetika, Haarfärbungen, chirurgische Eingriffe und Medikamente, Mittel, die Falten glätten, Körperpartien straffen, graues oder weißes Haar verstecken oder eine verschwundene Lockenpracht ersetzen. Angesichts der Stereotype des Alters – Langsamkeit, Vergesslichkeit, Schwerhörigkeit, Schwache usw. – ist leicht zu ersehen, warum Ältere gerne den Anschein erwecken, einer jüngeren Gruppe anzugehören!

Seltener verschleiert als das Alter wird die Religion oder ethnische Abstammung, aber auch hier herrscht bei der Kategorisierung mitunter ein unkooperatives Verhalten. Es ist eine bekannte Strategie, dass Personen Namen, die ihre Abstammung verraten, durch neutraler klingendere ersetzen – so Winona Horowitz, Issur Demsky, Anna Maria Louisa Italiano oder Jacob Cohen: Winona Ryder, Kirk Douglas, Anne Bancroft und Rodney Dangerfield sind weithin bekannt. Eine kulturelle Neuerung unter den unkooperativen Kategorisierungen stellt das ≫Aufhellen≪ des Lebenslaufs dar, das manche Afroamerikaner bei Stellenbewerbungen betreiben. Sie verschweigen Mitgliedschaften und Ämter in bekannten afroamerikanischen Or (…)  heißt freilich noch nicht, es als Grundlage zu benutzen, um Einzelne zu beurteilen oder um wichtige Entscheidungen zu treffen. So kann eine Führungskraft im Unternehmen durchaus daran glauben, dass das Stereotyp Führer = männlich ganz allgemein gilt, aber trotzdem erkennen, dass eine bestimmte Frau für einen Führungsposten bestens qualifiziert ist. Um in die Position zu gelangen, muss diese wahrscheinlich deutlich höhere Hürden überwinden als männliche Konkurrenten. Ähnlich ermuntert vielleicht ein Lehrer mit dem Stereotyp Mathematik = männlich im Kopf ein besonders begabtes Madchen zum Mathematikstudium. Das ändert nichts daran, dass er die mathematischen Fähigkeiten vieler anderer Mädchen unterschätzt, während er das Potenzial in den Jungen eher erkennt und sie besser fördert.

Haben stereotype Betrachtungen einen Nutzen?

Wir können Gordon Allport zustimmen, wonach ≫der menschliche Geist in Kategorien denken≪ müsse, um ein geordnetes Leben aufrechtzuerhalten, müssen aber auch nach den Konsequenzen fragen, wenn wir Kategorien erstellen und nach ihnen unser Handeln ausrichten. Denn Allport sagte auch: ≫Einmal gebildet, sind Kategorien die Grundlage für normale Vorurteile. ≪ Anders ausgedrückt: Sie leisten Stereotypen Vorschub. So verbinden wir mit Kategorien vorab bestimmte Eigenschaften: Afrikanern liege der Rhythmus im Blut. Asiaten seien gut in Mathematik. Frauen fuhren vorsichtiger Auto, usw.

Tatsächlich sind stereotype Beurteilungen anhand sozialer Kategorien im Alltag so weit verbreitet, dass sie als ein universelles Merkmal des Menschen gelten können – wie der Ausdruck Homo categoricus in der Überschrift dieses Kapitels impliziert.

Evolutionspsychologen begreifen universelle psychische Merkmale mit Blick darauf, ob sie Anpassungen an die Umwelt darstellen und ob sie nützlich sind. Demnach sind sie auf drei Arten zu deuten: 1. als Ergebnis einer Anpassung, 2. als das Nebenprodukt einer Anpassung ohne eigenen Nutzen oder 3. als das problematische Relikt einer (einstigen) Anpassung, die einleuchtender als ≫Hunde tragen Kleider≪, weil die meisten Menschen stark dazu neigen, Ente = Eier legendes Tier zu assoziieren.

Aber wer nicht gerade ein Bewunderer der Fotos William Wegmans ist, der seine Hunde Man Ray, Fay Ray und ihre Nachfolger surreal dargestellt hat, assoziiert wahrscheinlich nicht Hund = Kleider tragendes Tier. Das Beispiel Eier legender Enten gibt einen Hinweis darauf, wie Stereotype unser Denken beeinflussen. So wie wir vielleicht irrigerweise annehmen, dass eine Ente, die wir in einem Teich schwimmen sehen, Eier lege, gehen wir möglicherweise auch fälschlich davon aus, dass ein Senior, den wir kennengelernt haben, ein schwaches Gedächtnis habe. Das Klischee alt = vergesslich trifft aber nur insofern zu, als die Alten einen höheren Anteil an Vergesslichen haben als die Jungen. Dennoch beeinflusst dieses Stereotyp womöglich unsere Einstellung gegenüber allen älteren Menschen, sogar gegenüber Senioren, deren Gedächtnis besser funktioniert als unser eigenes.

 

Unsere Neigung, in Stereotypen zu denken, illustriert ein weiteres Beispiel: Unten links sind fünf verschiedene Eigenschaften aufgelistet. Rechts finden Sie Aussagen, wonach eine Eigenschaft eher für die eine als für die andere Gruppe typisch sei. Wo wurden Sie zustimmen?

Eigenschaften –  Gruppen

Führungsstärke ist für Männer typischer als für Frauen.

Musikalisches Talent ist für Afroamerikaner typischer als für amerikanische Ureinwohner.

Juristische Fachkompetenz ist für Juden typischer als für Christen.

Mathematische Fähigkeiten sind für Asiaten typischer als für Weiße.

Kriminalität ist für Italiener typischer als für Holländer.

Jedes Ja setzt hier voraus, dass Sie ein Stereotyp im Kopf haben, das zweifellos viele teilen. Ein Klischee verinnerlicht zu haben, (…)  Sie ein, was Sie wollen: Cheerleader, Italiener, Muslime, Raketeningenieure usw.) als gleich anzusehen, müssten sie unsere Fähigkeit, in einem fremden Menschen den Einzelnen zu sehen, eher unterminieren, als sie stärken.

Wir verdanken unsere scheinbar absurde Hypothese der zweiten mentalen Meisterleistung, die der Homo categoricus vollbringt: seiner Fähigkeit, anhand von sechs (und mehr) persönlichen Merkmalen geistige Bilder vieler verschiedener Kategorien von Menschen zu erzeugen. Wendet man die Stereotype, die mit diesen sechs oder mehr Merkmalen assoziiert sind, gleichzeitig an, ergibt sich etwas völlig anderes als Lippmanns ≫identische Kopien≪.

Erinnert sei hier an die schwarze muslimische lesbische französische Professorin in den Sechzigern, die uns als Beispiel für Meisterleistung 2 diente. Alle sechs Merkmale, die sie kennzeichnen, beinhalten als einzelne einen eigenen Satz an stereotypen Zügen. Für sich genommen, kennzeichnen sie die Person nur stereotyp als schwarz, muslimisch oder mit einem der übrigen Etiketten. Aber wenn alle sechs Merkmale zusammentreten, entsteht plötzlich das Bild einer Person, die ganz anders ist als alle unsere Bekannten. Wenn auch nicht als ein ganz neuartiger Mensch, so kann diese Frau doch als ein unverwechselbares Individuum gelten.

Unsere paradoxe Erklärung mag eher einleuchten, wenn wir uns klar machen, dass wir mit spielerischer Leichtigkeit im Bruchteil einer Sekunde ein halbes Dutzend oder mehr persönliche Merkmale erfassen können. Und dies vollbringen wir ständig. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Flugzeug und eine Person geht an Ihnen vorüber. Fünf Merkmale sind fast immer auf Anhieb zu erkennen: das Geschlecht, das Alter, die Hautfarbe, die Größe und die Statur. Anhand der Kleidung erschließen Sie möglicherweise weitere Merkmale, so z.B. die Einkommensverhältnisse, die soziale Schicht, die Religion, die ethnische Zugehörigkeit oder den Beruf. Alle diese Merkmale sind fur sich genommen mit stereotypen Zügen verbunden.

Aber wenn wir sie im Kopf gleichzeitig abrufen, nehmen wir eine wildfremde Person plötzlich in reichhaltigen und komplexen Facetten wahr. Ein fluchtiger Blick versetzt uns in die Lage, ihren Nutzen wegen veränderter Umweltbedingungen eingebüßt hat. Als Erklärung für die allgemeine Verbreitung stereotyper Betrachtungsweisen herrscht gegenwärtig die These vom ≫unnützen Nebenprodukt≪ vor: Demnach sei die stereotype Betrachtung der Welt eine Art Abfallprodukt der ansonsten ungemein nützlichen menschlichen Fähigkeit, die Welt in Kategorien zu begreifen. Diese Erklärung halten zahlreiche Sozialpsychologen, darunter auch wir, für plausibel.

Daneben besteht eine Theorie, wonach Stereotype eine ≫Angepasstheit an die Gegenwart≪ darstellten. Sie seien insofern nützlich, als viele Menschen mit ihr die eigene Selbstachtung stärkten. Sie ermöglichten es ihnen, die eigene Gruppe anderen gegenüber als überlegen wahrzunehmen. Auch wenn Negativklischees über andere das eigene Selbstwertgefühl stärken können, erscheint diese Theorie kaum stichhaltig: Zum einen können Menschen auch auf vielerlei andere Weise mehr Selbstachtung gewinnen. Zum anderen weckt die Theorie eine Erwartung, die aller Wahrscheinlichkeit nach falsch ist: dass Menschen, die einen höheren sozialen Status besitzen oder die Standardmerkmale der Gesellschaft erfüllen, eher auf stereotype Bewertungen zurückgriffen als die weiter unten in der Hierarchie.

Zur Frage, welchen Nutzen stereotype Sichtweisen haben, vertreten wir hier eine neuartige (und zugegebenermaßen spekulative) Hypothese, die ebenfalls von einer ≫Angepasstheit an die Gegenwart≪ ausgeht: Stereotype haben den wünschenswerten Effekt, dass sie es uns ermöglichen, Fremde rasch als unverwechselbare Individuen wahrzunehmen.

Über den letzten Satz durfte der Leser gestolpert sein: Dass wir dank der Stereotype Fremde als unverwechselbare Individuen wahrnehmen können, mag widersinnig, ja grotesk erscheinen, wenn man sie als geistige Schubladen begreift, in die man ungeachtet aller Unterschiede sämtliche Mitglieder einer Gruppe hineinpackt. Es sei daran erinnert, wie Walter Lippmann den Begriff des Stereotyps 1922 geprägt hat: als Vergleich mit einer Druckplatte, die viele identische Kopien herstellt. Wenn uns Stereotype dazu verleiten, sämtliche ____________ setzten sondern auch von sich selbst, mitunter zum eigenen Nachteil, wie Forschungen erst in jüngerer Zeit belegten. Und dies konnte sich auch als der schädlichste Aspekt von Stereotypen erweisen:

Wenn sich Mitglieder einer Gruppe, die von stereotypen Beurteilungen betroffen sind, diese zu eigen machen, können sie damit leicht ihre Selbstachtung unterminieren. Dann kann das Klischee zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Solche Prophezeiungen können auch segensreich wirken. Das Klischee, wonach Afroamerikaner besonders gute Leichtathleten, Basketballer oder Jazz-Musiker seien, kann diese zu einer größeren Übungsdisziplin anspornen. Asiaten-Klischees können asienstämmige Amerikaner zu größeren Anstrengungen bewegen, um an ein Stipendium zu kommen und als Wissenschaftler, Mediziner oder Ingenieur Karriere zu machen.

Schaden für Betroffene, die Stereotype übernehmen

Zeichnen Stereotypen allerdings – wie viele – ein negatives Bild, fugen sich die Betroffenen, die sie übernehmen, damit selbst einen Schaden zu. Ältere, die Altersstereotype verinnerlichen, bauen schneller ab. Mädchen, die sich mit Geschlechterstereotypen identifizieren, laufen Gefahr, in mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern schlechtere Leistungen zu erbringen, als sie eigentlich konnten. Afroamerikaner, die Schwarzen-Klischees verinnerlicht haben, streben trotz ihres Potenzials möglicherweise nicht an die Hochschule.

Man muss kein (klischeehafter) Raketeningenieur sein, um die potenziell schädliche Wirkung von Stereotypen zu erkennen. sie wahrscheinlich von allen anderen zu unterscheiden, die wir im Flugzeug und später am Flughafen erblicken. Daher unser Schluss: Dank der Virtuosität, mit der wir die erwähnte Meisterleistung 2 vollbringen, können wir Stereotype so einsetzen, dass wir Fremde als unverwechselbare Individuen wahrnehmen.

Wer gebraucht Stereotype?  Wer wird stereotyp wahrgenommen?

Auf Stereotype greift jeder zuruck. Sie schwingen zu einem großen Anteil in der Bedeutung mit, die wir in Wörter wie alt, weiblich, asiatisch oder muslimisch hineinlesen. Diese unterschwelligen Bedeutungen, die wir automatisch abrufen, sprengen die üblichen Definitionen im Wörterbuch. So listet kein Lexikon in einer Definition für ≫alt≪ die Umschreibungen ≫langsam≪, ≫vergesslich ≪, ≫schwerhörig≪ oder ≫schwach≪ auf, und doch fallen diese Eigenschaften unter das Klischee, das sich an die Kategorie ≫alt≪ knüpft. Wenn uns die Stereotype fehlten, die unsere Personenkategorien mit Bedeutung erfüllen, wäre das so, als wurden wir die Wörter einer Sprache, aber nicht deren Sinn kennen.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, wer stereotyp wahrgenommen wird. Wenn man die Standardmerkmale seiner Gesellschaft erfüllt – also diejenigen, die vorausgesetzt sind, falls nichts anderes gesagt wird –, wird man weniger stereotyp wahrgenommen als andere. In dem Fall wird man von den Mitgliedern seiner Eigengruppe – die dieselben Standardmerkmale erfüllen wie man selbst – gar nicht und von Außenstehenden nur wenig stereotyp wahrgenommen. Junge Japaner werden in Japan selten stereotyp gesehen, wahrend junge Männer mit japanischen Wurzeln in den USA häufig klischeehaft betrachtet werden. Wohl deshalb, weil diejenigen, die unter die Standardkategorien ihrer Gesellschaft fallen, stereotype Beurteilungen weniger problematisch finden, da sie ja von ihnen seltener betroffen sind.

Dagegen werden diejenigen, die von der Norm abweichen, eher stereotyp wahrgenommen, und nicht nur von anderen,

 

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Alle Kommentare [1]

  1. Vielen Dank für den Artikel und den Buchauszug! Das Thema ist wirklich sehr interessant und umfangreich. Das Beispiel mit dem Chirurgen ist gut. Man muss tatsächlich etwas überlegen, bis man darauf kommt, dass hier die Mutter des Jungen gemeint ist.