Von Richard Quest, International Business Correspondent bei CNN und Moderator von „Quest Means
Business“
Wir haben San Francisco erreicht, das Ende unserer fast 4000 Kilometer langen Reise, die in Chicago begann. Hier werde ich Willie Brown treffen, der von 1996 bis 2004 Bürgermeister der Stadt und zuvor 15 Jahre lang Sprecher der gesetzgebenden Versammlung in Kalifornien war. Das Wetter ist fabelhaft. Es hat etwas über 20 Grad Celsius, was für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm ist. Die Golden Gate Bridge glitzert in der Sonne. San Francisco ist sicherlich die schönste aller Städte. Und doch darf einen die Schönheit nicht über die finanzielle Misere hinwegtäuschen, in der der Bundesstaat steckt.
Sollte Präsident Barack Obama diesen Staat an Mitt Romney verlieren, käme das einem Wahldebakel gleich. Seit 1988 hat Kalifornien keinen republikanischen Präsidentschaftskandidaten mehr gewählt. Doch der Präsident (und das Land) sollten die Entwicklung beobachten, die der Staat gerade durchlebt, denn die Geschichte beweist: Was in Kalifornien beginnt, breitet sich oft im Rest des Landes aus. Außerdem stehen entscheidende Wahlen für den Kongress an. Sollten die Demokraten hier schlecht abschneiden, könnte es für die Liberalen knapp werden, weiterhin die Mehrheit im Senat zu stellen. Den Bürgern Kaliforniens bereiten vor allem die Wirtschaft und die Situation auf dem Arbeitsmarkt große Sorgen. Die Arbeitslosenquote beträgt 10,2 Prozent und ist damit die dritthöchste des Landes. Auch die Einwanderungs- und Gesundheitspolitik zählen zu den zentralen Themen des Bundesstaates. Doch die Bürger hier sind auch an einen höheren Lebensstandard und ein ausgezeichnetes Bildungssystem gewohnt − das langsam erste Risse zeigt.
Das Haushaltsdefizit des Staates würde vielleicht sogar Europa die Schamesröte ins Gesicht treiben. Im Mai meldete Jerry Brown, der Gouverneur Kaliforniens, das Defizit liege momentan bei 16 Milliarden Dollar und drohe, noch größer zu werden, falls nicht bald Gegenmaßnahmen eingeleitet würden. So präsentiert sich das heutige Kalifornien langsam wie das von Sparmaßnahmen gebeutelte Europa.
Sehen wir uns die Fakten doch einmal genauer an: In den letzten Jahren gab es in Kalifornien tiefe Einschnitte im Bildungssektor und im sozialen Bereich. Um Geld zu sparen, wurden sogar Gefängnisinsassen frühzeitig entlassen. Zudem brachte man den Vorschlag auf, die Einkommens- und die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um das gefährlich große Haushaltsloch zu stopfen, das nicht verschwinden wird, solange die Wirtschaft stagniert.
Es gibt weitere Ähnlichkeiten. War Kalifornien früher harten Zeiten ausgesetzt, konnte man doch stets auf den Rest des Landes zählen, schließlich ist die US-Wirtschaft eine einzige, große Wachstumslokomotive.
Erlebte ein Bundesstaat in der Vergangenheit wirtschaftlich schlechte Zeiten, konnten die anderen Staaten normalerweise das Schlimmste abfedern. Das wird dieses Mal nicht passieren, da es im ganzen Land keinen wirtschaftlichen Aufschwung gibt, der dazu beitragen könnte, die Flaute zu überwinden.
In der Eurozone bietet sich das gleiche Bild: Nicht einmal die deutsche Wirtschaft, der Wachstumsmotor Europas, kann die anderen aus der Rezession reißen. Wie der Internationale Währungsfonds in seinem neuesten Weltwirtschaftsausblick festhält, versuchen momentan alle Staaten gleichzeitig, ihre Defizite zu reduzieren, was die Situation weiter verschlimmert.
Kalifornien wurde ebenso Opfer dieser Umstände wie die europäischen Länder. Allerdings möchte ich diese Analogie auch nicht zu weit treiben. Kaliforniens Wirtschaft ist grundsätzlich in einem wesentlich besseren Zustand als die vieler EU-Länder. Es sei nur darauf hingewiesen, dass die Sparpolitik Europas, die Amerika bislang kaum getroffen hat, inzwischen angekommen ist. Dieser Staat, der oft dem Rest des Landes die Zukunft weist, ist einer der ersten, der die längerfristigen Auswirkungen zu spüren bekommt, die zweifelsohne auf das ganze Land übergreifen werden − ganz gleich, wer die Wahl am Ende gewinnt.
Die Sparmaßnahmen in Kalifornien sind ein kleiner Ausblick auf die Zukunft Amerikas. Der Rest des Landes, der noch von den verschwenderischen Wahlkampfversprechen geblendet ist, hat es nur noch nicht mitbekommen.