Buchauszug Axel Koch: „Change mich am Arsch“

„Change mich am Arsch“ von Axel koch. Das mörderische Spiel mit dem Leben: Der Veränderungs-Kollaps

Wenn ein Changeprojekt nur noch das nächste jagt: Die Folgen des Veränderungstempos sind Change-geschwächte Belegschaften, Firmen, die sich immer weiter selbst aushöhlen – statt fit für die Zukunft zu werden. Die Deutschen steigen schon ab im Ranking der leistungsstarken Staaten – schuld sind die deutschen Manager mit ihren Praktiken wie ihren Vertuschungsmaßnahmen. Sie verheizen ihre Belegschaften wie Briketts mit ihrem stillschweigend vorangetriebenen Raubbau mit der Ressource Mitarbeiter. Der Autor Axel Koch ist Psychologe und Professor an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning bei München, aber auch Trainer und Personalentwickler mit viel Einblick in die Unternehmenswelt.

 

 

„Change mich am Arsch“ von Axel Koch: 304 Seiten, Econ Verlag bei Ullstein, 16 Euro https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/change-mich-am-arsch-9783430202459.html

 

 

»Frau Herwegger, wir haben uns Gedanken über Sie ge- macht. Leider haben Sie keine Zukunft im Personal. Ihre Stelle dort entfällt mit sofortiger Wirkung. Ich habe aber auch eine gute Nachricht: Sie können ab sofort in den Vertrieb wechseln.«
Dunja schnappt nach Luft. Abrasiert! Sie kann es nicht glauben, was ihr Geschäftsführer ihr gerade an den Kopf geknallt hat. Umsonst gehofft, dass es vielleicht nicht so schlimm werden wird: Der angekündigte Change-Prozess trifft sie mit ganzer Härte.

Sie erinnert sich an die außerordentliche Belegschaftsversammlung vor etwa vier Monaten hier am Standort mit rund 250 Mitarbeitern. Große Änderungen stehen an, hieß es damals vom neuen CEO des Mutterunternehmens. Nun ist aus dem mulmigen Gefühl schmerz hafte Gewissheit geworden. Ihr Blick wandert zu ihrer Chefin, die ebenfalls mit im Büro sitzt und wie versteinert Löcher in die Luft starrt.

Die verarschen mich doch hier, schießt es der 25-Jährigen durch den Kopf, und sie kann die Tränen nicht mehr halten. Sie ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, was jetzt passieren wird. Bisher lief es hier super mit ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau. In etwa einem halben Jahr steht die Abschlussprüfung an. Bis zu diesem Moment hat sie sich hier geborgen gefühlt. Es gab stets ein offenes Ohr für sie. Sie hatte sogar einen Mentor. Die Firma fand sie spitze. Und jetzt dieser Blattschuss. Alles eine einzige Lüge. So herzlos wie in diesem Moment hat sie ihre Firma noch nie erlebt. Sie ist schockiert.

 

An den Rest des Gesprächs kann sie sich schon Minuten später nur noch schemenhaft erinnern, als sie den Raum verlässt. Ihre Chefin will ihr gleich noch eine E-Mail schicken, um ihr mitzuteilen, welche Aufgaben sie heute noch abschließen soll und was sie alles zu übergeben hat.

Als sie die Tür hinter sich zuzieht, brechen die ganzen Gefühle endgültig aus ihr heraus. Völlig aufgelöst geht sie erst einmal auf die Toilette, um sich zu beruhigen. In ihrem Kopf hämmert es wie auf einer Baustelle, wo große dicke Stahlträger in den Boden gerammt werden. Ich will nicht in den Vertrieb. Ich will nicht. Nein. Ihr hallen die Worte einer Kollegin im Ohr, die in der Vertriebsabteilung arbeitet. Sie hat ihr erzählt, dass dort eine richtige Auftragshetzerei stattfindet. Die Kollegen kämen schon morgens in aller Frühe ins Büro und stürzten zum Fax, um für sich neue Aufträge einzuheimsen. Jeder kämpft gegen jeden. Denn wer viel verkauft, verdient mehr, und jeder will natürlich hohe Zielerreichungsprämien einheimsen. So zu arbeiten ist ganz und gar nicht ihr Ding. Never ever.
Doch sie muss, sagt eine innere Stimme in ihr. Du willst hier die Ausbildung beenden, und das Gehalt brauchst du auch. Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hat, geht sie zurück an ihren Arbeitsplatz in der Personalabteilung. Eine Kollegin in ihrem Alter sieht sie und nimmt sie wortlos in den Arm. Sie hat offenbar sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Das tut so gut. Dunja erzählt ihr, was passiert ist.

Als Dunja schließlich wieder an ihrem Schreibtisch sitzt, dauert es auch nicht lange, bis die Mail von ihrer Chefin eingeht. Doch was ist das? Die Zeilen klingen wie in Eis gemeißelt. »Sehr geehrte Frau Herwegger, …«, beginnt die Nachricht. Bisher hat ihre Chefin immer »Liebe Dunja« geschrieben. Die warme, freundliche Art, die Dunja so an ihr geschätzt hat, ist komplett verschwunden. Der einst so gute Draht ist verglüht. Alles ist nur noch distanziert, sachlich und kühl. Das tut weh. Was habe ich ihr denn getan? Wieder und wieder stellt Dunja sich diese Frage. Aber ihr fällt keine Antwort darauf ein. Hat ihre Chefin vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Versprechen gebrochen hat? Denn es hieß, sie könne nach der Ausbildung in der Personalabteilung bleiben. Oder ist das einfach nur eine Vorgabe von oben, nur noch formal mit ihr zu kommunizieren?
Die Ziele, die Dunja hier in der Firma erreichen wollte, sind zerplatzt wie eine Seifenblase. Tags drauf beginnt bereits ihre Arbeit in der Vertriebsabteilung. Sie arbeitet nun mit zwei weiteren Kolleginnen an einer Insel im Großraumbüro. Mit gemischten Gefühlen nähert sie sich ihrem neuen Arbeitsplatz und ist dann völlig überrascht. Das kann doch nicht wahr sein! Ein freudiges Grinsen macht sich auf Dunjas Gesicht breit: endlich ein Lichtblick! Denn die eine Kollegin, die da sitzt, kennt sie schon länger privat. Es ist diejenige, die ihr von der Auftragshetzerei im Vertrieb berichtet hat. Anna-Maria ist etwa in Dunjas Alter. Die beiden haben sich in der gemeinsamen Stammdisco kennengelernt.
Die andere Kollegin am selben Tisch ist die Schwester des Ge- schäftsführers. Bloß nichts Falsches sagen, sind sich Anna-Maria und Dunja nach einem kurzen Gespräch in der Teeküche einig. Dann kriegen wir das hier schon hin.
Anna-Maria hilft Dunja in der nächsten Zeit, wo sie kann. Sie nimmt sich Zeit, wenn Dunja etwas nicht versteht, und erklärt ihr alles geduldig. Denn Dunja muss sehr viel lernen. Alles ist neu. Angefangen von Prozessen und Abläufen bis hin zu technischen Aspekten des neuen Jobs. Die Firma verkauft Reinigungs- und Desinfektionsgeräte für den medizinischen Bereich. Zu Dunjas Aufgaben gehören die Bearbeitung von Anfragen, die Erstellung von Angeboten sowie die Zuarbeit für den Außendienst. Außer- dem plant sie die Montage der Geräte. Dazu gehört, Termine für die Techniker zu vereinbaren und dafür Sorge zu tragen, dass Werkzeuge und Geräte für die Installation vor Ort sind, wenn die Techniker anreisen.

 

Vertrauensarbeitszeit – die normale 50-Stunden-Woche

Erschwerend kommt hinzu, dass zeitgleich Änderungen im Medizingesetz von heute auf morgen umgesetzt werden müssen. Dabei ist Dunja im Nachteil: Ihre Kollegen haben ein halbes Jahr zuvor eine Schulung gehabt, als sie noch nicht in der Abteilung war. Und so bringt sie sich alles mühsam selbst bei. Die Tage sind lang. Sie fängt morgens früher an und geht abends später heim. Sie nimmt sich abends sogar noch Arbeit mit nach Hause. Eine 50-Stunden-Woche ist ganz normal für sie. Doch das in- teressiert keinen. Die ganzen Stunden bekommt keiner mit, weil sie Vertrauensarbeitszeit hat.

Als wenn das nicht alles schon genug wäre, landen noch zusätzliche Stapel mit Anfragen und Aufträgen auf ihrem Tisch, wenn ihre Kollegen aus Urlaubs- oder Krankheitsgründen nicht da sind. Und ein oder zwei Kollegen sind fast immer weg. Die Abteilung ist stets unterbesetzt. Dunja beginnt bald unter dem Stress zu leiden, doch sie hält tapfer durch.
Einmal fasst sie sich ein Herz und versucht, das Problem bei ihrem Chef zu platzieren. Doch der winkt nur ab: »Das ist ja nur vorübergehend, Frau Herwegger. Halb so wild.« Es scheint, als hält er ihr Feedback nur für Jammerei. Als sie Anna-Maria davon erzählt, sagt die nur: »Das hätte ich dir gleich sagen können. Andere haben das auch schon mal versucht und sind auf taube Ohren gestoßen.«
Doch der Arbeitsdruck ist nicht das einzige Problem. Schnell merkt Dunja, wie hier der Wind unter den Kollegen weht. Als sie wieder einmal eines dieser aufwändigen schriftlichen Angebote für einen Kunden erstellt, hofft sie natürlich, den Auftrag zu be- kommen. Die Provision ist nämlich ganz ansehnlich. Weil es an diesem Tag schon zu spät für die Post ist und sie am nächsten Tag für eine Woche auf Dienstreise sein wird, bittet sie ihre Kollegin Jana, den Versand des Angebots zu übernehmen.

Autor Axel Koch

 

Als sie nach einer Woche wieder zurück an ihrem Arbeitsplatz ist, prüft sie, ob das Angebot auch wirklich rausgegangen ist. Doch was sie da sieht, raubt ihr fast den Atem. Mit hochrotem Gesicht eilt sie zu Jana, um sie zur Rede zu stellen. Doch an der perlt das Gespräch ab wie Öltropfen an einer Fahrradkette. Dunja kochte vor Wut und stürzte ins Büro ihres Vertriebsleiters, wo ihre ganze Hilflosigkeit aus ihr heraussprudelt.

»Jana hat mir mein Angebot weggenommen. Ich habe es letzte Woche ausgearbeitet. Es war fix und fertig. Sie sollte es nur noch versenden. Und jetzt habe ich auf der Kopie des Angebots ihre Unterschrift vorgefunden. Es sieht so aus, als wenn sie das An- gebot erstellt hat. Und das stimmt überhaupt nicht!« Dunja merkt, wie sich ihre Stimme fast überschlägt.
»Das soll ja nicht so sein«, sagt ihr Vertriebsleiter. Für sie hört es sich an, als würde er über so etwas Belangloses wie die Fischpreise auf dem Markt sprechen. «Ich habe Ihnen allen doch schon öfter gesagt, Sie sollen sich nicht gegenseitig die Aufträge klauen.« Das Gespräch scheint ihm irgendwie unangenehm zu sein, so wie er auf seinem Drehstuhl hin und her rollt. Das alles bringt Dunja nur noch mehr auf die Palme.
»Das ist eine Frechheit. Jetzt kriegt Jana die Provision, wenn der Kunde kauft. Das kann doch nicht sein. Das ist doch unfair. Ich habe da so viel Arbeit investiert.«

»Hm, sprechen Sie doch mal mit ihr«, kommt der Rat zurück, bei dem Dunja nicht mehr stillsitzen kann und von ihrem Stuhl aufspringt. Checkt der denn gar nichts?
»Das habe ich natürlich schon längst getan! Sie sagt, sie habe ja schließlich auch noch Arbeit damit gehabt und den Auftrag finalisiert. Das stimmt alles gar nicht. Sie lügt. Das war höchstens noch ein Job von fünf Minuten.«

 

Ungerechtigkeit – und der Chef guckt weg

Diese Ungerechtigkeit. Sie weiß gar nicht wohin mit all dem Ärger. Und ihren Chef interessiert das offenbar einen Scheißdreck.»Das ist ja jetzt schwer nachweisbar«, entgegnet er sachlich. »Nehmen Sie es nicht so schwer. Ist doch nur der eine Auftrag. Und wer weiß, ob der Kunde kauft.« Damit ist das Gespräch für ihn offenbar beendet, denn er dreht sich zu seinem Computer um und beginnt irgendetwas zu lesen.
Dunja zieht hilflos von dannen. Wer solche Kollegen wie Jana hat, braucht keine Feinde. Und wer solche Chefs hat …

Nach fünf Monaten im Vertrieb fällt dann auch noch Anna-Maria als Stütze an ihrer Seite weg. Sie ist nun Mitglied eines Projektteams, das die Einführung einer neuen Software im Unternehmen unterstützen soll, und arbeitet fortan in einem anderen Bereich. Die Zeit im Vertrieb hinterlässt bei Dunja ihre Spuren. Sie leidet zunehmend unter Schlafstörungen und ist extrem gereizt. Selbst ihr Mann kann das irgendwann nicht mehr mit ansehen: »Wenn das nicht aufhört, gehe ich persönlich in die Firma und rede Tacheles!«
Doch Dunja hat ihren Urlaub vor Augen. Schon lange zählt sie die Tage bis zum ersten Urlaubstag – wie ein Inhaftierter Striche an die Wand malt, um zu wissen, wann es wieder in die Freiheit geht. Bald bekommt sie eine Verschnaufpause, und dann wird es schon wieder gehen.

 

Juhu! Beschwingt macht Dunja sich für die Arbeit zurecht. Heute ist der letzte Tag vor ihrem Urlaub. Acht Monate ist es her, seit sie im Vertrieb angefangen hat. Endlich mal richtig Pause. Nur noch einen Tag in der Tretmühle! Noch einmal die Zähne zusammenbeißen, dann ist für zwei Wochen Ruhe. Dieser Gedanke gibt ihr die nötige Kraft, als sie zu ihrem Schreibtisch geht.

Doch was ist das? Ein leerer Stuhl. Eigentlich müsste ihre Kollegin – die Schwester des Geschäftsführers – an der Insel sitzen. Sie hat die letzten zwei Wochen Urlaub gehabt. Überrascht geht Dunja zum Vertriebsleiter und fragt, was los sei. Er hat das selbst noch gar nicht mitbekommen und fragt beim Geschäftsführer nach, um ihr danach die Sachlage zurückzumelden.

»Sie kommt erst in einer Woche zurück. Sie hat den Urlaub nochmal kurzfristig verlängert.« »Bitte?« Dunja traut ihren Ohren nicht. »Sie können nicht in Urlaub gehen. Sie müssen warten, bis sie wieder da ist«, antwortet der Vertriebsleiter unbeteiligt. Der hat doch die Empathie einer Litfaßsäule, denkt Dunja entrüstet. Merkt der denn gar nichts? Blöde Frage, Dunja, korrigiert sie sich selbst: Langsam könntest du ihn kennen.
»Ja, aber, was ist denn, wenn wir was fest gebucht haben?«, würgt sie hervor. Ihr ganzer Körper ist in Schockstarre. Nur noch Leere im Kopf. »Dann kriegen Sie natürlich die Kosten erstattet.«
Sie muss hier raus. Vor ihren Augen flimmert es. So ähnlich, wie sie es schon mal erlebt hat, als sie morgens zu schnell aus dem Bett aufgestanden ist und ihr Kreislauf noch nicht richtig in Gang war. Nur diesmal ist es anders. Schlimmer. Wie ein Wirbelsturm hinter den Augen. Auch ihr Mund ist staubtrocken. Sie braucht jetzt dringend ein Glas Wasser.

Doch als Dunja ein Glas aus dem Schrank holen will, sind ihre Knie plötzlich ganz weich. Ihr Körper macht sich selbstständig, und sie knickt einfach ein. Fällt zu Boden. Was und wie genau, kriegt sie gar nicht mit. Sie spürt nur die Fliesen unter sich und diesen Nebel im Kopf. Die Tränen fließen haltlos. Und mit einem Mal sind da diese höllischen Kopfschmerzen.

 

Psychovegetative Erschöpfung

Wie durch einen Schleier bekommt Dunja mit, wie jemand aus der Nachbarabteilung in die Küche kommt und in hektische Aktivität verfällt. Sie hochhebt und fragt, wie es ihr gehe. Was passiert sei. Er bringt sie ins Krankenlager und versucht unterwegs mit ihr zu sprechen, doch Dunja heult nur und ist völlig außer sich. »Ich kann nicht mehr«, schluchzt sie mit letzter Kraft. Ein schnell herbeigeholter Arzt untersucht sie eingehend und stellt ihr Fragen zu ihrer beruflichen und privaten Situation. »Das sieht nach psychovegetativer Erschöpfung aus«, eröffnet er ihr schließlich. »Ich schreibe Sie ab sofort krank. Ruhen Sie sich erstmal aus. Sie dürfen auf keinen Fall arbeiten.«
»Was für eine Erschöpfung?«, fragt Dunja verwirrt nach. Diesen Begriff hat sie noch nie gehört. »Psychovegetative Erschöpfung. Das beschreibt einen Zusammenbruch aufgrund von psychischer Überlastung. Zu dem Krankheitsbild gehört eine Vielzahl von verschiedenen Symptomen. Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Sie haben ja von ihren Schlafstörungen und ihrer zunehmenden Müdigkeit gesprochen. Und auch, dass sie pausenlos unter Hochdruck gearbeitet haben. Auch Ihre starke Gereiztheit. Das sind alles Symptome, die zeigen, dass sie in der letzten Zeit zu viel Stress und Belastung hatten. Sie müssen wirklich auf sich aufpassen und Ihr Pensum runterfahren.«

 

Die Angst vor dem Jobverlust

O Gott, denkt Dunja, und wenn ich jetzt meinen Job verliere, was dann? Ich kann nicht einfach aufhören. Was soll aus den Angeboten werden? Wer kümmert sich um die Aufträge? Wer koordiniert die Termine? Ich kann doch nicht einfach …

Der Arzt scheint ihre Gedanken lesen zu können. »Noch ist alles nicht so schlimm bei Ihnen. Betrachten Sie es als Warnschuss Ihres Körpers. Sie können froh sein, dass Sie nicht viel ernstere Symptome haben. Aus einer Dauer-Überlastung können sich leicht psychosomatische Erkrankungen oder auch Depressionen entwickeln.«
Langsam realisiert Dunja, wie ernst die Situation ist. Ihr Zusammenbruch ist ein Zeichen. Ihr wird bewusst: Der Schlafmangel, das ständige Gefühl von Erschöpfung, das waren Signallampen. Sie hat es zwar gemerkt, aber keinen Ausweg gesehen. Und dann heute Morgen dieser Schlag ins Gesicht. Diese Hiobsbotschaft, dass ihr Urlaub wegfällt. Da war das Fass voll.
Zwischenzeitlich ist die Nachricht über Dunjas Zusammenbruch auch zu ihrem Chef, dem Vertriebsleiter, durchgedrungen. Als sie aus dem Krankenzimmer kommt, wartet er schon vor der Tür. Bevor sie nach Hause geht, will er noch mit ihr sprechen. Er bittet sie, noch kurz in sein Büro zu kommen.
»Wie geht es Ihnen? Was ist denn genau passiert«, fragt er sichtlich betroffen.
»Ich bin in der Küche zusammengebrochen.« Und sie erzählt die Einzelheiten.
»Ja, wieso sind Sie denn nicht schon früher zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass es Ihnen nicht gutgeht und dass Sie so überlastet sind?« Ihr Chef sitzt kerzengerade an seinem Schreibtisch und unterstreicht seine Frage mit einer Armbewegung, die Ratlosigkeit ausdrückt.

 

Unterbesetzung beim Chef moniert – erfolglos

»Aber ich habe Sie doch neulich, als wir wieder so unterbesetzt waren, darauf angesprochen. Und andere Kollegen haben es auch schon versucht, wie ich gehört habe. Dass wir überfordert sind und sowieso viel zu wenige Leute haben.«
»Jetzt ist Schluss. Wir müssen jetzt auf jeden Fall etwas tun«; verspricht ihr Chef mit entschlossener Stimme. Und sie merkt an seinem Gesichtsausdruck, wie leid ihm das alles tut. Ein schwacher Trost, denkt Dunja auf dem Weg nach draußen. Jetzt merkst du es? Wenn einer zusammenbricht?

Doch zu Dunjas Überraschung lässt der Vertriebsleiter seinen Worten wirklich Taten folgen und stellt eine Halbtagskraft ein. Damit gibt es wieder Luft zum Atmen. Durch die Krank- schreibung und diese Entlastung beginnt Dunja sich zu erholen.

 

Unter die Change-Räder gekommen

Irgendwann ist auch der Punkt erreicht, an dem sie sich in ihr neues Aufgabenfeld eingearbeitet hat. Ihr Traumjob wird die Stelle im Vertrieb dennoch nicht, und an der Auftragshetzerei im Team ändert sich auch nichts. Dennoch bleibt sie fast anderthalb Jahre, bis sie sich endlich zum Absprung überwinden kann und kündigt. Inzwischen ist sie an ihrem Ziel angekommen und arbeitet im Personalbereich einer anderen Firma.

Dunja ist voll unter die Change-Räder geraten. Glücklicherweise hat sie zum Schluss noch die Kurve gekriegt. Welchen Mechanismen ist Dunja zum Opfer gefallen, damit es überhaupt so weit kommen konnte?
Der erste davon springt schon zu Beginn jedes Change-Prozesses an. Und zwar in dem Moment, wenn eine Geschäftsführung eine anstehende Veränderung ankündigt. Meistens ist an diesem Punkt noch recht unkonkret, was der Change für den Einzelnen bedeuten wird. Gerüchte machen die Runde, und einzelne Mitarbeiter reagieren darauf je nach Naturell mit Unruhe, Angst und schlechter Stimmung. Unklarheit und Unsicherheit bestimmen die Situation. Je bedrohlicher die Lage erscheint, umso schlimmer ist die Gefühlslage.
Dann geht es früher oder später los: Die Veränderungen werden konkret. Es folgen Umstrukturierungen, Tätigkeits- wechsel, Stellen- und Personalabbau. Für die Mitarbeiter stellt sich spätestens an diesem Punkt die Frage: gehen oder bleiben? Und damit setzt eine Art Selektionsmechanismus ein. Welche Mitarbeiter setzen sich überhaupt dem Change-Prozess aus, und welche entziehen sich von vornherein?
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass im Durchschnitt nur ein kleinerer Teil der Belegschaft das Unternehmen verlässt – statistisch betrachtet vor allem die jüngeren Mitarbeiter bzw. die Mitarbeiter mit kurzer Firmenzugehörigkeit. Sie gehen eher, wenn sie den Eindruck haben, dass der Change schlecht für ihre beruflichen Wünsche ist oder sich nachteilig auf ihr Wohlbefinden auswirkt.

 

Je mehr Wandel, umso mehr Fluktuation

Wie groß die durchschnittliche Zahl derer ist, die sich dann aktiv etwas Neues suchen, ist schwer sagen. Laut der Studie Global Talent Monitor suchen 15 Prozent der Arbeitnehmer nach neuen Jobs in anderen Unternehmen, weil sie sich dort bessere Chancen für persönliches und professionelles Wachstum erwarten. Außerdem zeigt die Studie: je mehr Wandel, desto höher die Fluktuation. Besonders betriebliche Umstrukturierungen und Änderungen in der oberen Führungsebene frustrieren die Mit- arbeiter, weil diese Formen von Change alles infrage stellen.

Es gibt also eine kleine Gruppe von Beschäftigten, die generell wechselfreudig ist und schnell die Flucht ergreift, wenn vielleicht noch eine attraktive Abfindung im Raum steht. Sie glauben daran, schnell etwas anderes oder sogar Besseres zu finden.

Die große Mehrheit der Mitarbeiter bleibt jedoch im Unternehmen, wenn der Change kommt. So wie Dunja. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Die einen sehen in dem Change etwas Positives. Sie sehen eine Chance, dadurch zu wachsen und etwas Neues zu lernen. Sie lieben die Herausforderung.
Die anderen machen mit, weil in ihren Augen die Nachteile oder Risiken überwiegen, wenn sie das Unternehmen verlassen. Dunjas Motivation zu bleiben war, dass sie ihre Ausbildung im Unternehmen beenden wollte, und natürlich die finanzielle Sicherheit einer festen Stelle.

 

Bloß nicht rausfliegen

Diese und ähnliche Gründe reichen für die meisten Mitarbeiter, um für sich festzustellen: Ich will oder ich muss hierbleiben. Und damit ich auch ja nicht rausfliege, muss ich mich möglichst gut anpassen und den Erwartungen gerecht werden. Change, komm über mich!

Psychologisch gesprochen stellen diese Annahmen einen sogenannten »Denkrahmen« dar – also eine Haltung, von der es gefühlt kein Abweichen nach links oder rechts gibt. Es ist vergleichbar mit einem Tunnel, durch den Sie fahren: Geradeaus ist die einzige Option.

 

Übertreiben – ohne es zu merken

Lassen Sie uns nun betrachten, was Dunja in diesem »Tunnel« passiert ist. Die junge Frau musste von null auf hundert eine komplett andere Tätigkeit übernehmen. Sie musste sehr schnell funktionieren. Sie war gewillt, schnell und viel zu lernen. Und genau an diesem Punkt beginnt der nächste elementare Mechanismus zu greifen: Die im Grundsatz positiven Werte von Veränderungsbereitschaft und Flexibilität treiben den Mitarbeiter an, die geforderte Anpassung zu bewältigen. Vielen passiert dabei das, was auch Dunja zum Verhängnis geworden ist: Sie übertreiben es mit der Anpassung und merken es erst einmal gar nicht.

 

Belastung als Normalzustand ist Raubbau an sich selbst
Dunja war so stark gewillt, die geforderten Leistungen zu erbringen, dass sie sich quasi freiwillig 50-Stunden-Wochen auferlegte, die sie nicht bezahlt bekam. Sie nahm sich Arbeit mit nach Hause und opferte dafür auch ihr Privatleben. Ihr Freund litt darunter. Und sie selbst beraubte sich der Zeit für Ausgleich und Erholung. In den Worten der Erholungsforschung lässt sich sagen: Sie betrieb damit einen Raubbau an ihren eigenen Energien – zumal diese Belastung keine kurzfristige Ausnahme, sondern der Normalzustand war.

 

Nichtschwimmer ins kalte Wasser werfen – ohne Schwimmflügel
Außerdem kümmerte Dunja sich selbstverantwortlich darum, das zu lernen, was ihr fehlte. Sie ließ sich von Anna-Maria coachen und arbeitete auch die Schulungen zum neuen Medizingesetz selbstständig nach, ohne dass der Arbeitgeber sie dabei irgendwie unterstützt hätte. Nicht einmal einen Einarbeitungsplan gab es. Sie wurde einfach mitten in die Arbeit geworfen – als Nichtschwimmer ohne Schwimmflügel ins kalte Wasser.
Der Mechanismus des Leidensdrucks, den Sie im vorigen Kapitel kennengelernt haben, wirkt hier ebenfalls. Denken Sie nur daran, dass Dunjas Gehalt von Provisionen abhing: Auch aus diesem Grund musste sie schnell lernen. Eine weitere Komponente des Leidensdrucks war die ständige Unterbesetzung im Team. Und Dunja war stets bereit, die Extrameile zu gehen, um fehlende Teamkollegen zu kompensieren.

 

Führungsfehler kommen oben drauf

Dynamisierend kam noch hinzu, dass ihr Chef seine Führungsaufgaben schlecht wahrnahm. Zum einen duldete er eine Teamkultur, bei der Mitarbeiter nur auf eigene Vorteile bedacht waren, zum anderen fehlte ihm die Sensibilität für die Überlastung seiner neuen Mitarbeiterin, die als Quereinsteigerin in kurzer Zeit die volle Leistungskraft zeigen sollte. Der Führung fällt bei Veränderungen eine zentrale Rolle zu. Wenn sie nicht ausgefüllt wird, sind Mitarbeiter auf sich allein gestellt.

Zusätzlich war Dunja auch noch in einem Tätigkeitsfeld gelandet, das vom Grundsatz her nicht zu ihr passte. Ihr Herzenswunsch war die Arbeit im Personalbereich. Sie mochte Konkurrenzkampf, Ellenbogen-Mentalität und Provisionsdruck gar nicht. Hier ist ein weiterer Mechanismus am Wirken, den Sie auch schon im vorherigen Kapitel kennengelernt haben. Wenn Sie gegen Ihre innere Werte und Wünsche handeln, bedeutet das einen inneren Konflikt, der Ihnen mit zunehmender Zeit Motivation, Kraft und Leistungsfreude raubt oder sie auch krankmachen kann.

 

Vollgas geben, auf den Urlaub hoffen

Trotz alldem gab Dunja immer weiter Vollgas. Und hier sind wir schon beim nächsten heimtückischen Mechanismus. Dunja nahm nämlich die zunehmenden Warnzeichen der eigenen Überlastung nicht zur Kenntnis. Besonders die zunehmende Gereiztheit, die Schlafstörungen und die Erschöpfung. Sie machte weiter und hoffte auf ihren Urlaub.
Dunja spürte sicherlich, dass es da irgendwo in ihr eine Art Grenze gab, der sie sich bedrohlich näherte. Eine Grenze, die signalisierte, dass alles zu viel ist. Sie wusste, dass der Job eigentlich nicht zu ihr passte, und sie spürte auch die ersten Symptome der Überlastung. Doch sie ignorierte die Warnsignale ihres Körpers, bis die ersten Symptome von Anpassungsstörungen aufgrund von Stress und Belastung einsetzten.
Diese Situation konnte sie eine Zeitlang aushalten, doch irgendwann war auch bei ihr der Punkt erreicht, wo die Natur sich ihr Recht verschafft. Die lange aufrechterhaltene Fassade der Leistungskraft brach zusammen, als Dunja ihre Rettungsinsel Urlaub davonschwimmen sah, weil die Schwester des Geschäftsführers kaltschnäuzig ihren Urlaub verlängert hatte.

 

Warnsignale ausblenden, in Mechanismen hineinrutschen

Acht Monate hat es bei Dunja gedauert, bis der Kollaps kam. Wie schnell ein Zusammenbruch kommt oder sich mindestens negative psychische oder körperliche Folgen zeigen, ist individuell ganz unterschiedlich. Das hängt von vielen Faktoren ab: von Ihrer Konstitution und Vorbelastung ebenso wie von den speziellen Bedingungen in Ihrer Situation.

Sehr typisch ist am Beispiel von Dunja, dass sie mehr oder weniger unbewusst in die beschriebenen Mechanismen hineingerutscht ist. Das ist tatsächlich der Regelfall – und der Grund, warum die beschriebenen Mechanismen so gefährlich sind. Wenn sie einmal in diesem Tunnel stecken und auf Gedeih und Verderb durchhalten wollen, blenden die meisten Menschen die Warnsignale aus – zumal sich die wenigsten der Risiken bewusst sind. Und wer ahnungslos ins Verderben tappt, kann auch nicht gegensteuern.

Change-Betroffene sehen meist keine Chance, der Situation zu entweichen. Sie versuchen den Erwartungen gerecht zu werden und sich ständig selbst zu optimieren. Gleichzeitig überhören sie die Warnsignale ihres Körpers. Die Folge ist: Früher oder später sendet ihr Körper einen unüberhörbaren Warnschuss. Das kann alles Mögliche sein: von starken Hautreaktionen und Magen- Darm-Problemen über einen Tinnitus oder Migräne bis hin zum Kreislaufzusammenbruch.

 

Zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit bewirkt einen Veränderungskollaps

Dunjas Beispiel macht drastisch deutlich, was passiert, wenn Menschen zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit realisieren sollen – zumal in einem Arbeitsfeld, das nicht ihren Stärken und Neigungen entspricht. Dann schlägt der »Veränderungskollaps« erbarmungslos zu: Sie brechen zusammen, weil die Grenzen des persönlichen Veränderungstempos und -Umfangs erreicht sind.
Wenn selbst junge Menschen wie Dunja mit ihren 25 Jahren am Change zerbrechen können – was bedeutet das erst für ältere Mitarbeiter ab 50 Jahren aufwärts? Sie trifft das Veränderungstempo, besonders oft etwa durch die Beschleunigungsfalle Digi- talisierung, noch einmal in einem ganz anderen Ausmaß als die junge Generation, die zumindest mit Computer- und Internettechnologie groß geworden ist.

 

Digitalhorror statt Pensionsschock

»Was jetzt kommt, hat nur Vorteile für Sie. Ihre Provisionen fließen schneller. Die Arbeitswege sind kürzer. Und für Ihre Mandanten ist das Ganze auch viel einfacher!«, dröhnt es aus den Lautsprecherboxen des großen Saals Auf der Bühne steht der Vor- stand eines Finanzberatungsunternehmens. Seine Stimme ist voll Dynamik und Energie. Er strahlt vor Freude über die neuen Möglichkeiten, die er da propagiert. Er erinnert dabei an einen Vater, der seinen Kindern besonders dicke Pakete unter den Weihnachtsbaum legt.

Die Szenerie gleicht einer Konzertveranstaltung: helle Schein- werfer. Eine riesige Leinwand, auf der der Guruhafte Redner in Großaufnahme zu sehen ist. Unten im Publikum sitzen rund 1000 Finanzberater aus ganz Deutschland. Die meisten lassen sich mitreißen von der Botschaft, die von der Bühne schallt wie die Hymne einer olympischen Eröffnungszeremonie: Dies ist der Aufbruch in die digitale Welt. Eine Welt, in der alles besser ist! Eine Welt, die Sie alle begeistern wird!

»Was für ein Scheiß«, denkt Herbert, der irgendwo inmitten der Menge sitzt. Was soll das ganze Theater? Wieso muss jetzt alles auf papierlos umgestellt werden? Warum muss er in seinem Alter auf einem Tablet rumkloppen wie die Kiddies in der U-Bahn? Bisher ging es doch auch ohne. Läuft alles auch so beim Kunden, mit Papierantrag und Excel-Sheet auf dem Laptop. Was ihm da von der Bühne entgegendröhnt, schmeckt ihm überhaupt nicht. In Zukunft werden nämlich alle 250 Gesellschaften, mit denen die Finanzberater zusammenarbeiten, nach und nach auf papierlos umstellen, verkündet der Vorstand nunmehr in sachlichem Tonfall. Herbert schnauft verächtlich. Das hat ihm mit seinen 56 Jahren gerade noch gefehlt.
In der Kaffeepause bilden sich Grüppchen. »Wie findest du das alles?«, fragt ihn Marlies, die noch recht neu in seinem Team ist. »Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll. Alles am Tablet. Da brauchst du Kinderfinger, damit du auf der Tastatur überhaupt die Buchstaben triffst!« Demonstrativ hält er seine knubbeligen Finger hoch. »Mit den Wurstfingern hast du doch keine Chance.«
»Es gibt ja externe Tastaturen, daran wird es schon nicht scheitern. Ich finde das alles toll. Das hört sich super an«, lacht sie ihn an, und ihre langen dunklen Haare wippen dabei hin und her, als führten sie einen Freudentanz auf. »Na, ich weiß nicht.« Herbert runzelt skeptisch die Stirn.
Ein paar Tage später sitzt er im Büro und flucht mit puterrotem Kopf vor sich hin. »So ein Scheiß. So ein beschissener Scheiß«, keift er in den Raum. Ihm ist völlig egal, was seine Kollegen denken. Er kann einfach nicht an sich halten. Während er weiter auf das Tablet vor sich auf dem Tisch einprügelt, gibt er knurrende Laute von sich, die an einen Tiger im Zoo bei der Fütterung erinnern. In seinem Zorn bekommt Herbert kaum mit, wie Marlies zu ihm herüberkommt und sich zu ihm an den Schreibtisch stellt. »Was ist denn los? Dich hört man ja bis runter zur Bushaltestelle. Erzähl mal, was ist denn los, was willst du denn machen?“ »Dieser gottverdammte Scheiß. Scheiße. Scheiße, Scheiße.«

Herbert läuft innerlich Amok. Das ist ihm einfach zu viel auf seine alten Tage. Es könnte alles so schön sein. Noch ein paar ruhige Jahre bis zur Rente. Alles wie gehabt. Lief ja prima. Marlies nimmt er gar nicht richtig wahr. »Jetzt beruhige dich doch erstmal, Herbert. Was funktioniert denn nicht?« Sie holt sich einen Drehstuhl heran und setzt sich neben ihn. »Dieser Antrag hier. Wo soll ich denn klicken? Überall muss man Häkchen setzen. Ich komme nicht auf das Unterschriftenfeld.« Und er wischt das Dokument auf seinem Bildschirm hoch und runter und tippt wild darin herum, als wäre das Tablet ein störrischer Getränkeautomat. Doch es tut sich nichts. Tablets haben auch ihren Stolz.
»Komm, ich zeig dir, wie Du das mit dem Antrag machst. Das ist gar nicht so schwer«, redet Marlies geduldig auf ihn ein wie ein Rettungssanitäter, der ein traumatisiertes Unfallopfer psychisch zu stabilisieren versucht. »Das übst du bei zwei, drei Kunden, und dann hast du es drin«, sagt sie. »Kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Das geht.«
»Das krieg ich nie hin. Bin ja keine 29 mehr wie du. Wir Älteren haben hier alle unsere Probleme. Ich habe den Mist jetzt schon mehrfach versucht. Das klappt nicht.«
»Mag sein, aber dann dauert es halt etwas länger. Ich habe von anderen gehört, dass sie es auch hinbekommen. Auch wenn es erst mal schwierig war.«
»Ich versteh es einfach nicht. Verdammt. Wo muss ich klicken?« Wieder fuhrwerkt er hektisch mit seinen Fingern über den Bild- schirm. Wie hat Marlies das gerade gemacht? Das kriegt er nie in den Kopf. Wieso muss das jetzt alles noch kommen? Ihn nerven dieses Geklicke und diese Masken wie Sau. Alles unnötige Schikane. Braucht kein Mensch.
»Jetzt mach doch mal langsam. So wird das doch nichts.« Er hört an Marlies‘ Stimme, dass sie nun langsam auch kribbelig wird. Sie versteht ihn einfach nicht. Und er hört sie sagen: Darauf einlassen musst du dich aber schon.

»Jetzt reicht‘s mir. Ich hab die Schnauze voll.« Und Herbert holt seinen Laptop hervor. Klappt das vertraute Gerät auf und schickt einen Druckauftrag los, um den Antrag gleich – wie gewohnt – in der Papierversion auszufüllen. Für ihn ist klar: Den Zirkus macht er nicht mehr mit. Dann lässt er halt künftig die Gesellschaften bei Kundengesprächen raus, die unbedingt jetzt schon alles digital wollen. Nicht sein Problem. Fallen halt ein paar Produkte unter den Teppich. Ist ja immer noch genug Auswahl für die Kunden. Machen andere ältere Kollegen auch so, wie er mitbekommen hat. Merkt doch keiner. Scheiß drauf.

 

Szenen wie diese wiederholen sich in deutschen Unternehmen tagtäglich in dieser oder ähnlicher Form. Viele Mitarbeiter 50plus stehen auf Kriegsfuß mit den neuen digitalen Technologien, die vehement Einzug in den Firmen halten. Besonders hart trifft es Mitarbeiter, die bisher wenig oder gar nicht mit Computern, neuen Medien und Internettechnologie zu tun hatten. Vielleicht kennen Sie diese Situation auch von sich selbst oder haben Ähnliches mit Ihren Eltern oder Schwiegereltern erlebt. Mein Schwiegervater beispielsweise hat sich mit seinen fast 80 Jahren noch ein Auto mit einem supermodernen Navi angeschafft und ein Smartphone, damit er »up to date« ist. Ich finde es klasse, dass er dafür offen ist. Doch irgendwie bekommt er nur mühsam Zugang zu der neuen Welt. Obwohl er dazu bereit ist, das alles zu lernen, tut er sich sehr schwer damit, sich die ganzen Funktionen zu merken und abzurufen und die ganzen Neuerungen zu verstehen.
Und so kommt es zu Szenen wie diesen: Er sitzt vor der Abfahrt in seinem Auto, tippt auf das Display des Navis und fragt mich: »Wo muss ich jetzt noch mal draufdrücken?« Fast sieht es so aus, als wolle er den Touch Screen hypnotisieren, so gebannt schaut er darauf. Dann packt es ihn, und er hackt mit dem Finger auf die verschiedenen Menüpunkte ein, wie ein Buntspecht mit seinem Schnabel einen Baum traktiert. Auch etwa mit der gleichen Frequenz. Meine Schwiegermutter stellt bei alldem eine erstaunlich hohe Leidensfähigkeit unter Beweis. Sie hat meinen vollen Respekt. Denn die Programmierung des Navis dauert oft länger als die anstehende Fahrt selbst. Als es neulich dann einmal schnell gehen musste, hat ihr Mann es einfach ganz gelassen. Er ist dann nach Karte und Gefühl gefahren. So wie früher.
So ähnlich geht es Herbert: Er würde lieber dauerhaft weiter nach Karte und Gefühl fahren.

 

Vielleicht geht es Ihnen angesichts solcher Szenen wie mir: Wenn Sie das von außen sehen und Ihnen die ganzen technischen Zusammenhänge vergleichsweise leicht von der Hand gehen, wundern Sie sich, warum es den anderen so schwerfällt. Noch habe ich Hoffnung, dass ich weiter mit der technischen Entwicklung zurechtkomme. Aber ich mache mir natürlich schon Gedanken, dass es mir irgendwann gehen könnte wie meinem Schwiegervater. Schließlich bin ich gerade 50 geworden und reihe mich damit auch in die Kategorie Mitarbeiter 50plus ein. Ich habe so eine unschöne Ahnung, dass meine Enkel mich irgendwann schief anschauen und sagen: »Der Opa ist ganz schön verkalkt.« Das Gespräch, das ich kürzlich mit der Mitarbeiterin eines Telekommunikationsunternehmens geführt habe, hat mich dabei nicht eben beruhigt. Sie ist selbst 55 Jahre alt. Und sie hat mir berichtet, wie sie mit zunehmendem Alter Veränderungen an sich bemerkt, die sie nie von sich erwartet hätte.
Wenn es Ihnen geht wie mir und Sie die magische Marke 50 bereits passiert haben, müssen Sie jetzt stark sein.

 

Die hohe Kunst des Tarnens und Täuschens

Katharina hat schon einige Change-Prozesse hinter sich: Vor 12 Jahren erlebte sie die Schließung des Standortes, wo sie im Rechnungswesen gearbeitet hatte. Innerhalb von vier Wochen und aus dem Urlaub heraus musste sie sich entscheiden, ob sie künftig eine komplett andere Tätigkeit an einem mehrere hundert Kilometer entfernten Standort der Firma machen wollte. Sie musste sich in amerikanisches Recht einarbeiten und hatte plötzlich spezielle Kontrollaufgaben zu erfüllen. Eine schwere Zeit. Bis heute pendelt sie noch zwischen ihrem Zuhause am alten Standort und ihrer Arbeitsstelle am neuen Standort. Zwischenzeitlich gab es noch weitere Umstrukturierungen, die sich jedes Mal wieder auf ihre Tätigkeitsbeschreibung auswirkten. Und auch in puncto Digitalisierung hat Katharina schon einiges mitgemacht – neue Technik, neue Systeme, neue Prozesse.
Trotz allem ist Katharina bei ihrer Firma geblieben. Wegen der finanziellen Absicherung und weil es sich als schwierig erwies, ab Mitte 40 noch einen vernünftigen Job auf ihrem Level zu finden. Über die harten Zeiten während all der Change-Prozesse redet sie nur ungern. »Dann ärgere ich mich nur.«

Heute arbeitet Katharina vor allem in Projekten mit. Das findet sie spannend, weil es immer wieder neue Themen gibt. Sie ist offen für vieles. Ätzend ist nur, wenn so ein Projekt keinen Spaß macht. »Dann kann man sich nur durchwurschteln.«
Seit etwa drei Jahren macht sie nun eine Beobachtung an sich, die sie irritiert: »Bei mir hat es immer im Zeugnis geheißen: ›Sie hat eine rasche Auffassungsgabe.‹ Das Gefühl habe ich jetzt nicht mehr so ganz. Manchmal denke ich, ich habe ein Brett vor dem Kopf. Man ist nicht mehr so geistig flexibel, habe ich das Gefühl. Ich finde, ich bin schwerer von Begriff als früher. Das stört mich sehr. Ich habe das auch noch nicht so ganz akzeptiert.«

»Das kann ich kaum glauben«, gebe ich spontan zurück. »Sie wirken so energiegeladen und lebendig.“
»Ich glaub es auch selbst nicht«, sagt sie lachend. »Aber ich merke, dass es so ist, und tue mich immer schwerer noch mitzukommen. Das Rad dreht sich wirklich schneller, und die Anforderungen steigen.«

 

Gefühl der Ausgrenzung und Scham, den Anforderungen nicht zu genügen 

Und sie zählt mir verschiedene Beispiele auf, was gerade in ihrer Firma passiert. So verkündete das Unternehmen vor etwa zwei Jahren, dass es internationaler werden wolle. Viele neue ausländische Kollegen sind seither an Bord gekommen. Neuerdings finden alle Meetings auf Englisch statt, auch wenn nur ein oder zwei ausländische Teilnehmer dabei sind. Da ist sie wie auch andere Kollegen mit ihrem Schulenglisch sprachlos. Sie findet es unmöglich, dass alle von jetzt auf gleich das nötige Sprachlevel haben sollen. »Das ist ein Veränderungstempo, dem viele nicht folgen können. So eine Vorgehensweise erzeugt ein Gefühl der Ausgrenzung, Scham, den Anforderungen nicht zu genügen, Stress und Verdruss.«

 

Keine Zeit, um sich in technische Änderungen einzuarbeiten
Aber auch technisch tut sich einiges: Die Firmenleitung hat Festnetz-Telefone abgeschafft. Alles läuft nur noch über den Computer und Internet. Früher hätte sie mit so einer technischen Änderung keine Schwierigkeiten gehabt und einfach losgelegt. Doch jetzt braucht sie viel mehr Zeit, um die Details zu verstehen. So habe sie etwa lange mit einem speziellen Programm gekämpft, mit dem sie sich selbst zu Schulungen anmelden muss. Und die Zeit, sich in so etwas mühevoll einzuarbeiten, ist im Arbeitsalltag oft nicht da. So schiebt sie es nach hinten, um sich später mal intensiv mit dem Thema zu befassen. Sie kriegt es zwar irgendwann doch hin, aber es dauert. Sie empfindet das alles als super kompliziert. Genau wie die Schulungen selbst, die zunehmend nur noch aus Online-Kursen bestehen.
Das alles findet Katharina ziemlich anstrengend. Zumal es noch gar nicht lange her ist, dass es sich anders anfühlte. »Ich stelle einfach fest, dass ich zwar immer noch dazulernen will, es aber manch- mal einfach nicht mehr geht. Es ist wirklich so. Man wird mit dem Alter schwerfälliger.«

Dazu gehöre auch, dass sie mehr Erholungszeiten brauche als früher, berichtet sie ein wenig niedergeschlagen. Während sie früher einen Zehn-Stunden-Arbeitstag mit links wegsteckte und ihr auch die Reiserei zu ihrer Arbeitsstelle nichts ausmachte, sei sie nun viel schneller »platt«.

Im Alltag versucht sie das alles möglichst zu vertuschen und nicht aufzufallen. »Ich habe immer gedacht, nee, nee, bei dir nicht, Katharina. Du lässt dich vom Alter nicht aufhalten. Bei dir ist es anders. Falsch gedacht.«
Inzwischen überlegt sie sogar ernsthaft, ob sie das Angebot ihrer Firma zur Altersteilzeit annehmen soll. »Ich könnte das jetzt machen. Dann wäre ich in gut vier Jahren hier raus. So lange würde ich es hier gerade noch gut aushalten.« Entschieden hat sie sich noch nicht. Denn anderseits fühlt es sich auch komisch für sie an, wenn sie sich vorstellt, dass so bald Schluss ist. »Ich möchte hinterher nicht nur die Enten füttern.«

Die Erfahrungen, die Katharina macht, decken sich mit den Ergebnissen mehrerer Studien. Danach können viele Menschen mit zunehmendem Alter weniger schnell Informationen verarbeiten. Das liegt wohl daran, dass Ältere nicht mehr so viele Informationen im Kurzzeitgedächtnis speichern können. Hinzu kommt auch eine nachlassende Wahrnehmung. Wenngleich sich die Forschung streitet, in welchem individuellen Ausmaß und in welchem Alter diese Probleme vorhersehbar auftreten, so lässt sich weitgehend zweifelsfrei festhalten, dass die Begeisterung für Weiterbildung und Lernen im Alter nachlässt.
Nur knapp jeder Fünfte zwischen 50 und 64 Jahren nimmt pro Jahr an einer Weiterbildung teil, sagen Arbeitsmarktexperten. Je länger Menschen im Berufsleben stehen, desto seltener bilden sie sich fort. Meistens fehlt die Lust. Ein oft gehörter Satz ist: Es ging doch bisher auch so.

Angesichts des demographischen Wandels ist aber gerade die Altersgruppe der Mitarbeiter 50plus in den Firmen stark vertreten. Die Alterspyramide zeigt ihre dickste Ausbuchtung für die Altersgruppe von 50 bis 60 Jahren. Und das führt zu einer besonderen Situation, von der mir Personalverantwortliche unterschiedlichster Firmen berichtet haben: Die Lernmotivation in dieser Gruppe und auch die Aufnahmegeschwindigkeit sinken, während gleichzeitig die Digitalisierung eine höhere Lernmotivation und ein höheres Lerntempo erfordern. Hinzu kommt, dass sich besonders Ältere mit E-Learning und neuen technischen Entwicklungen schwertun, wie es Katharina beschreibt. Diese Beobachtung machen auch zahlreiche Personalentwickler. Dabei sollen ja gerade die digitalen Lernformate dazu dienen, schnell Wissenslücken zu schließen, die sich durch das Veränderungstempo ergeben.

 

50-Jährige haben noch 17 Jahre vor sich

Die Firmen stehen folglich vor einem Problem. Eine Lösungsstrategie geht dahin, dass sie mit Programmen wie Lernfitness oder Digitalkompetenz für Ältere aufrüsten, um den Engpass zu schließen. Plötzlich schießen Programme zum Thema »Personalentwicklung Mitarbeiter 50plus« aus dem Boden. Immer häufiger trifft man auch auf Konzepte wie eine lebensphasenorientierte Personalentwicklung. Denn eines ist den Firmen natürlich ebenso klar wie Ihnen und mir: Wer heute 50 Jahre alt ist, wird vermutlich noch 17 Berufsjahre vor sich haben. Und in dieser langen Zeit kann noch viel Wandel passieren.
Wie wir bereits festgestellt haben, sind es zudem gerade die Älteren, die die Firmen auch angesichts schwieriger Change- Prozesse nicht mehr verlassen. Denn andere Jobs sind in dieser Altersphase schwer zu finden. Und errungene Vorteile wie Ein- kommen, Altersabsicherung oder Status machen es zunehmend schwer zu gehen.

Als ob Change-Prozesse im Alter nicht schon belastend genug wären, zeigt eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK für seinen Fehlzeiten-Report 2017 auch noch, dass die Lebensphase zwischen 50 und 65 Jahren noch eine zusätzliche Herausforderung mit sich bringt: Mit zunehmendem Alter häufen sich nämlich Lebenskrisen. Zwei Drittel der 2000 befragten Erwerbstätigen berichtet von solchen einschneidenden Wendepunkten. Die große Mehrheit der Betroffenen hat daraufhin körperliche oder psychische Probleme zu verkraften, und ihre Leistungsfähigkeit ist vielfach eingeschränkt. Jeder Dritte meldet sich häufiger krank. Bei kleineren Unternehmen macht sich das natürlich noch viel gravierender bemerkbar als in großen Konzernen.

Angesichts dieser Gesamtsituation bleibt eigentlich nur ein Fazit, das ich als 50-Jähriger nur schweren Herzens ausspreche. Firmen müssen in Zeiten des digitalen Wandels schnell wie ein Rennwagen sein – und sie haben mit uns Mitarbeitern 50plus dabei offenbar einen Bremsklotz am Bein. Selbst wer sich die Lernfreude erhalten hat und sich mit den neuen Technologien anfreunden kann, stößt mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später an gewisse natürliche Grenzen seiner geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit. Wir können zwar auf viel Erfahrungswissen verweisen, aber bei schnellem Wandel, wo es auf rasche Anpassungsfähigkeit ankommt, sind wir oft Sand im Getriebe. »Oldies but Goldies«? Manche Firma dürfte das anders sehen.

Was heißt das für uns als Mitarbeiter 50plus? Sollen wir alle geschlossen abtreten, in Altersteilzeit gehen? Sollen wir uns am besten so früh wie möglich der Arbeit im Schrebergarten widmen, anstatt noch die Welt im Großen und Ganzen mitverändern zu wollen?
Nicht so schnell: Es gibt einen Hoffnungsschimmer. Schlimmer als das kalendarische Alter selbst sind nämlich die Vorurteile darüber und ihre Wirkung auf die Realität. Sprichwörter wie »zum alten Eisen gehören« oder »einem alten Hund bringt man keine neuen Tricks mehr bei« sprechen Bände. Laut dem Bremer Lernforscher Prof. Dr. Christian Stamov Roßnagel sind diese Defizitannahmen zum Lernen jedoch überholt. Signifikante Alterserscheinungen treten nach seinen Analysen erst bei Personen jenseits der 65 auf.
Dass wir früher an Grenzen stoßen als jüngere Kollegen, heißt also noch längst nicht, dass wir gar nicht mehr lernfähig wären. Solange auf unsere Grenzen Rücksicht genommen wird, können auch wir Menschen 50plus sehr wohl noch konstruktiv mitgestalten.

US-Studie belegt: Ältere sind ebenso veränderungswillig wie Jüngere

Noch mehr Mut kann uns die Studie von Thomas W. H. Ng von der Universität Hong Kong und seinem Kollegen Daniel C. Feldman von der Universität Georgia machen. Die beiden Forscher sichteten 418 Studien mit insgesamt über 200 000
Teilnehmern, um der Frage nachzugehen, inwiefern Vorurteile gegenüber älteren Beschäftigten in den Firmen tatsächlich nachweisbar sind. Und jetzt kommt die gute Nachricht aus dieser Meta-Studie: Es ließ sich nicht bestätigen, dass Ältere weniger bereit sind, sich an neue Anforderungen anzupassen, oder gar veränderungsresistent.

Richtig ist aber, dass sie nicht mehr so gern an Trainings- oder Karriereentwicklungsmaßnahmen teilnehmen mögen.
Danach sind es also weniger die Alterserscheinungen an sich, mit denen wir zu kämpfen haben, als vielmehr unsere Einstellungen zum Alter. Und dieser Einstellungen werden wir uns durch das Change-Tempo heute einfach viel deutlicher und mut- maßlich auch früher bewusst als in der Vergangenheit. Als Mitarbeiter 50plus sind Sie neuerdings viel mehr gezwungen, sich mit Ihrem Alter und Ihrer Anpassungsfähigkeit auseinanderzusetzen, weil eben immer mehr Veränderungsprozesse in den Firmen ablaufen.

Wenn sich – wie früher noch – oft über viele Jahre hinweg wenig innerhalb eines Unternehmens bewegt und Sie in ihren gewohnten Bahnen arbeiten können, fällt Ihnen gar nicht groß auf, inwiefern sich Ihre Leistungsfähigkeit verändert. Wenn dann aber plötzlich immer wieder Veränderung von Ihnen gefordert wird, fühlen und erleben Sie plötzlich am eigenen Leib, wie gut oder wie schlecht Sie tatsächlich noch mitkommen.
Wenn Mitarbeiter diese Erfahrung machen, ist der Schuldige schnell gefunden: Das muss am Alter liegen. Doch es muss gar nicht unbedingt das Alter sein. Vielleicht geht es einfach nur um den höheren Zeitaufwand und mangelnde Lust, sich intensiv mit einem neuen Thema zu befassen – schließlich ging es ja viele Jahre auch ohne Veränderungsdruck. Und je nachdem, ob eine neue Aufgabe den eigenen Stärkenbereich betrifft oder nicht, ist die Überwindung auch mehr oder weniger aufwändig.

Mir imponieren Menschen wie Katharina, die nicht aufgeben, sondern sich den neuen Herausforderungen stellen – auch wenn es ihr manchmal schwerer fällt als früher. In dieser Hinsicht ist Katharina von einem ganz anderen Schlag als Herbert, der das Neue lieber gänzlich meidet und sich innerlich gegen jede Veränderung sperrt.

Ich kann nicht leugnen, dass ich mir – ungeachtet unseres Alters – Sorgen mache, wie sich das Arbeitsleben angesichts des weiter steigenden Change-Tempos für uns alle entwickeln wird. Einerseits wegen Geschichten wie der von Dunja, die ich immer wieder höre. Sie machen die psychologischen Mechanismen deutlich, die uns darin begrenzen, wie viel und wie schnell wir uns verändern können.

 

Gefangen im eigenen Job

Und andererseits aufgrund der Tatsache, dass es klare Belege dafür gibt, dass es mit zunehmender Betriebszugehörigkeit und steigendem Alter immer mehr Gefangene im Job gibt, die dem Wandel mehr oder weniger unfreiwillig und zwangsweise ausgesetzt sind. Und schließlich sieht es drittens danach aus, dass keiner von uns sich dieser Entwicklung dauerhaft wird entziehen können, weil das Change-Tempo vor keiner Firma mehr Halt macht.
Kurzum: Junge und Alte sitzen im gleichen Schnellboot. Worauf rasen wir bloß zu, wenn das Change-Tempo weiter anzieht?

Endzeit? Was von Wirtschaft und Gesellschaft übrigbleibt

Ich sehe vor allem zwei zentrale Szenarien, die auf kurz oder lang vor unserer Haustür stehen:

• Szenario 1: Change-Lähmung mit explodierenden Kosten
• Szenario 2: Das Ende des Vollzeitarbeitsverhältnisses

Wenngleich sich beide in ihrer Erscheinungsform unterscheiden, so führen sie am Ende doch auf denselben Ausgang hin, der Sie als Mitarbeiter kaum erfreuen wird.

 

Firmen in der Beschleunigungsfalle

Beginnen wir mit Szenario 1, der Change-Lähmung mit explodierenden Kosten.
Wie ich Kapitel 3 bereits ausführlich beleuchtet habe, bedeutet jeder Change-Prozess durch Mehrarbeit, Arbeitsverdichtung und Anpassungsdruck vermehrten Stress für die Beschäftigten. Waren vor knapp zehn Jahren bereits etwa 50 Prozent der Firmen in einer Beschleunigungsfalle gefangen, ist heute kaum ein Unternehmen mehr davor gefeit. Immer öfter haben Mitarbeiter überhaupt keine Zeit mehr zum Durchatmen.

Damit liegen die Bedingungen für Dauerstress mit allen Variationen von Anpassungserkrankungen bereits heute vor. Angesichts der Tatsache, dass heute psychische Erkrankungen mit gut 17 Prozent auf Platz zwei aller Erkrankungen in Deutschland stehen, ist folgerichtig davon auszugehen, dass sie bald auf Platz eins liegen werden. Genauso wird auch die Zahl der Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen weiter steigen. Auch der Griff zu Neuro-Enhancern und anderen Aufputschmitteln wird nicht seltener, sondern häufiger werden – was sich längerfristig wiederum auf die Krankenzahlen auswirken wird, denn Hirn-Doping ist immer nur für einen kurzfristigen Pyrrhussieg gegen das Change-Tempo gut, macht dafür aber verlässlich krank.
Wenn immer mehr Mitarbeiter durch Krankheit ausfallen, bleibt die Change- und Arbeitslast an den robusten verbliebenen Mitarbeitern hängen. Doch auch das geht nicht ewig gut, da jeder Mensch irgendwann seine Belastungsgrenze erreicht. Das zeigt das Beispiel von Dunja, in deren Team ständig Unterbesetzung herrschte – wahrlich kein Ausnahmefall.

 

Mit jedem neuen Change sinkt das Verständnis für die Sinnhaftigkeit

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des demographischen Wandels großenteils Mitarbeiter ab 45 Jahren aufwärts in den Firmen beschäftigt sind. Menschen also, die meistens schon mehrere Change-Prozesse erlebt haben und dement- sprechend ermüdet sind. Mit jedem neuen Change lässt das Verständnis für dessen Sinnhaftigkeit nach. Einsatzwillen und Motivation sinken bei jedem weiteren Change.

 

In den Firmen sitzen immer mehr angeschlagene, demotivierte, gestresste Leute, die sich von einem Change zum nächsten aufrappeln müssen

Worauf läuft all das hinaus? Wenn das Change-Tempo steigt, werden die Unternehmen noch mehr mit Arbeitsausfällen, Erkrankungen sowie Leistungs- und Motivationsschwund zu kämpfen haben. In den Firmen sitzen also künftig immer mehr angeschlagene, gestresste, demotivierte Mitarbeiter, die sich von einem zum nächsten Change aufs Neue aufrappeln müssen, um mit den verbliebenen Kräften die Anforderungen zu stemmen.

 

Der Veränderungskollaps ist längst traurige Realität

Ein Unternehmen in diesem Zustand zuckt wie ein fiebriger Körper im Überlebenskampf am Markt. Längst gehört der Veränderungskollaps, wie Dunja ihn am eigenen Leib erlebt hat, bei den Beschäftigten zur traurigen Normalität. Mit einem derart geschwächten Unternehmens-Organismus immer neue Erfolgshöhen erklimmen zu wollen, ist ähnlich paradox, als wenn Sie einen total erschöpften Sportler zu den Weltmeisterschaften im 100-Meter-Lauf anmelden, damit dieser den Sieg holt.

Das alles treibt natürlich auch die Kosten der Krankenversicherung nach oben. Bereits heute steigen die Versicherungsbeiträge durch längere Lebensdauer und technologische Fortschritte stetig an. Vielleicht sind wir bald so weit, dass die Krankenkassen einen Change-Beitrag von den Firmen fordern, weil die Change- Dynamik die Krankenzahlen so stark nach oben treibt, dass die Solidargemeinschaft die damit verbundenen Kosten nicht mehr allein abfedern kann. Das gleiche Prinzip könnten die Rentenversicherungen für sich übernehmen, um die ganzen Frühver- rentungen bezahlen zu können.
Für Sie als Beschäftigte kann das im schlimmsten Fall bedeuten, dass die Versicherungsleistungen – so wie in den vergangenen Jahren bereits – immer weiter gekürzt werden und Ihre Beiträge steigen. Sie werden dann durch das Change-Tempo doppelt bestraft. Der Change in Ihrer Arbeit richtet Sie zugrunde, und gleichzeitig müssen Sie auch noch tiefer in die Tasche greifen, damit das Gesundheitssystem nicht auch daran zugrunde geht. Sonst läuft nämlich alles darauf hinaus, dass Ihnen die Kasse die Behandlungen für entstandene Anpassungskrankheiten gar nicht mehr oder nur noch in Teilen bezahlen kann.
Gesellschaftlich gesehen bekommt vor diesem Hintergrund das Thema Gesundheit noch eine größere Bedeutung als bisher schon. Gegentendenzen wie die Slow-Bewegung mit ihrem Versuch, die Geschwindigkeit der Gesellschaft zu reduzieren, wer- den sicherlich noch mehr Anhänger finden als heute schon, da der Wunsch nach Ruhe und Stabilität verständlicherweise steigt. Vielleicht begegnen wir irgendwann dem modifizierten Anti-Kriegs-Slogan: »Make slow, not change«.

 

Jüngere ziehen am schnellsten Konsequenzen beim überbordenden Change-Wahnsinn: Sie wechseln am schnellsten weg

Und das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Hinzu kommt, dass gerade die jüngeren Mitarbeiter bei überbordendem Change-Wahnsinn nicht unbegrenzt mitmachen. Sie verlassen die Firma eher als die Älteren, wenn ihnen die Veränderung gegen den Strich geht. Das ist umso bitterer, weil gerade die Jungen meist noch eher veränderungsfreudig und offen für Herausforderungen sind. Sie wollen sich beweisen, weiterentwickeln und weiterkommen.

Daher liegt es nahe, dass bei weiter ansteigendem Change-Tempo die jüngere Generation noch weniger Federlesens macht als bisher und immer früher die Koffer packt, wenn ein Change abzunerven droht. Klar, in der nächsten Firma wartet garantiert auch ein Change. Doch da der Arbeitsmarkt gut ist und die Jungen gefragt sind, haben sie erst einmal reichlich Wahlmöglichkeiten. Und wer fachlich auch noch richtig etwas draufhat und deshalb wertvoll für viele Unternehmen ist, hat ohnehin gute Karten.

 

Die Quittung für Unternehmen: Kündigungen wegen des Change-Wahnsinns

Für die Firmen hat das zur Folge, dass die Kosten für Rekrutierung und Einarbeitung immer weiter steigen. Problematisch ist dabei auch, dass neu gewonnene Mitarbeiter nicht wie Computer-Zubehörgeräte im Sinne von »Plug and Play« einsetzbar sind, sondern eine gewisse Zeit brauchen, um die gewünschte Leistung zu bringen und auch in Change Prozessen gute Unterstützer zu sein. So steigen die internen Kosten in den Firmen nicht nur, weil die Mitarbeiter durch Change krank werden, sondern auch, weil sie aufgrund des Change-Wahnsinns kündigen.

 

Zusammengefasst sorgen diese ganzen Entwicklungen dafür, dass Change-Prozesse noch weniger erfolgreich laufen als heute schon. Die Firmen sind angesichts der Changegeschwächten Belegschaft in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmt. Von »Survival of the Fittest« kann nicht die Rede sein, wenn keiner mehr fit ist. Durch all das steigen die Kosten für die Firmen. Und wie werden sie darauf reagieren? Natürlich so, wie sie es schon immer gemacht haben: Sie führen Restrukturierungen zur Kostensenkung durch. Mehr Change, noch mehr Change, nur noch Change!

 

Firmen höhlen sich selbst aus im Veränderungswahn

Schlussendlich höhlen sich die Unternehmen mit ihrem Veränderungswahn also immer weiter selbst aus. Die schon in einigen Studien ermittelten Folgen wie Produktivitätsverluste und Insolvenzen dürften damit zwangsläufig weiter ansteigen.
Ade, gelobter Wirtschaftsstandort Deutschland.

Doch Moment mal – wie steht es eigentlich mit Stand heute um unsere Wettbewerbsfähigkeit? Hat sich der Change-Irrsinn womöglich längst bemerkbar gemacht? Wie eine Studie des Schweizer IMD World Competitiveness Center in Lausanne auf- zeigt, sind wir tatsächlich bereits auf dem absteigenden Ast. Das IMD bewertet die Leistungskraft von Staaten anhand von rund
340 Kriterien. Im internationalen Vergleich der 63 leistungsstärksten Staaten landete die Bundesrepublik im Jahr 2017 nur noch auf dem 13. Platz. Vor vier Jahren belegten die Deutschen noch den sechsten Rang. Ein deutlicher Absturz.

 

Der Abstieg der Deutschen im Ranking der leistungsstarken Staaten – schuld sind die deutschen Manager mit ihren Vertuschungsmaßnahmen
Neben der international oft mit Skepsis beäugten deutschen Steuerpolitik sind ein weiterer wichtiger Grund für den Abstieg die Praktiken deutscher Manager. Und dazu gehört, Probleme unter den Teppich zu kehren, wie wir es unter anderem beim VW-Skandal erleben konnten. Das tut der Wirtschaft nicht gut. Und in diesem Fahrwasser solcher Vertuschungsmaßnahmen sehe ich auch den stillschweigend vorangetriebenen Raubbau mit der Ressource Mitarbeiter. Wenn Firmenchefs ihre Mitarbeiter verheizen wie Briketts, ist das weder ethisch hinnehmbar noch hilfreich, um die Leistungskraft einer Firma und am Ende eben auch einer Nation auf den vorderen Plätzen im internationalen Vergleich zu halten. Noch hat Deutschland einen sehr guten Ruf in Sachen Qualität. Noch hat das Prädikat »Made in Germany« einen Wert. Doch diese Qualität lässt sich nur mit motivierten, gesunden und leistungsstarken Mitarbeitern erreichen – und erhalten.
Noch schlechter sieht es in demselben Ranking mit Blick auf die Digitalisierung aus. Denn nach dem vom IMD erstmals erstellten Ranking zur digitalen Wettbewerbsstärke stehen wir als Europas größte Volkswirtschaft im weltweiten Vergleich lediglich auf Rang 17. Um hier vorn mitspielen zu können, sind erfolgreiche Change-Prozesse unumgänglich. Doch genau die sind angesichts dieses Szenarios nicht zu erwarten.

 

Verordnete Verschnaufpausen, Sperre für neue Projekte

Daher kann ich nur den dringenden Appell an die Unternehmen richten, ihre bisherige Change-Praxis zu überdenken. Schließlich gibt es durchaus auch Firmen, die bereits andere Wege gehen, um ihre Mitarbeiter im Zuge von Wettbewerbsdruck und Change nicht zu verheizen. Sei es, dass Firmen eine Sperre für neue Projekte verhängen, bewusst Verschnaufpausen nach Umstrukturierungen einplanen oder Erfolge zum Ende eines Projektes mit ihren Mitarbeitern feiern, damit die auch ein Gefühl dafür bekommen, dass ihre Leistung etwas wert ist. Sinnvoll finde ich auch den Einsatz von Feedbacksystemen, die sichtbar machen, ob Mitarbeiter sich selbst überlasten.
Solange Unternehmen ihre Mitarbeiter fahrlässig immer tiefer in den roten Bereich steuern, steht zu befürchten, dass Sie als Mitarbeiter eines Tages auf der Straße stehen, weil Ihre Firma die Raserei nicht überlebt hat.

 

Führung, die wie Ecstasy wirkt: Schmerzen überwinden, die eigenen Grenzen nicht mehr spüren

Diese Art Führung wirkt sich langfristig nämlich so ähnlich aus wie die Einnahme der Droge Ecstasy: Man kann damit Energiemangel und Schmerzen überwinden und spürt die eigenen Grenzen nicht mehr. Doch die Nebenwirkungen sind scheußlich, und eine Überdosis führt schnell zum Tod.
Indem sich die Unternehmen durch diesen Raubbau selbst schwächen oder gar dezimieren, schwinden nach diesem Szenario also früher oder später auch die Arbeitsplätze, und die Arbeitslosigkeitszahlen steigen.

Das hat zwar auch sein Gutes: Das Change-Tempo kann Ihnen dann erstmal nichts mehr anhaben. Dafür drücken Ihnen vermutlich recht bald finanzielle Sorgen aufs Gemüt. Denn wer weiß, ob Sie der Arbeitslosigkeit in diesem Szenario so bald wieder entfliehen können. Und wenn doch: In der nächsten Firma wartet der nächste Change …
Ich gebe zu: Bei diesem Szenario habe ich hemmungslos schwarzgemalt. Aus der Luft gegriffen ist all das aber keineswegs. Die Vorboten dieser Entwicklung stehen schwarz auf weiß bereits in zahlreichen Studien und Praxisberichten – und sind nicht zuletzt aus den realen Fallgeschichten in diesem Buch in aller Deutlichkeit ablesbar. Denn die sind nicht schwarzgemalt, sondern pure Realität.

Doch es könnte auch ganz anders kommen. Und damit wären wir bei Szenario 2: dem Ende des Vollzeitarbeitsverhältnisses.
Im ersten Szenario verhalten sich die Firmen sehr unflexibel und gehen letztlich nicht zuletzt daran möglicherweise zugrunde. Sie müssen typischerweise mit den Mitarbeitern, die sie einmal eingestellt haben, das Change-Tempo irgendwie halten und gestalten. Das Problem dabei ist, dass diese Mitarbeiter mit ihren Fähigkeiten und ihren Anpassungsmöglichkeiten leicht an ihre Grenzen stoßen bzw. nicht schnell genug hinterherkommen, wie wir verschiedentlich festgestellt haben.
Ein Ausweg aus dieser Begrenzung des Veränderungspotentials wären flexible Arbeitsverhältnisse, die einen bedarfsgerechten und variablen Einsatz von Personal erlauben, ohne dass arbeitsrechtliche oder tarifliche Beschränkungen dieser Beweglichkeit einen Riegel vorschieben würden.

 

Der Trend: Befristete Verträge – schon bei jeder zweiten Neueinstellung

In einem zusammenfassenden Bericht der Bertelsmann- Stiftung aus dem Jahr 2014 geht hervor, dass das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis in Deutschland mit etwa 60 Prozent aller Erwerbstätigen noch die vorherrschende Erwerbsform darstellt. Ein solches Arbeitsverhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass Sie Ihre Arbeitskraft einem Unternehmen zur Verfügung stellen und als Gegenleistung dauerhaft und unbefristet in Vollzeit angestellt sind. Sie bekommen damit monatlich Ihr Gehalt und sind auch durch Arbeitslosen-, Kranken-und Rentenversicherung abgesichert. Hinzu kommen Kündigungsschutz und andere arbeitsrechtliche bzw. tariflich abgesicherte Regelungen.
Doch diese Beschäftigungsform bröckelt bereits, weil sie im ständigen Wandel den Nachteil hat, dass ein Unternehmen nicht schnell genug auf veränderten Personalbedarf reagieren kann. Zum einen lässt sich deshalb ein Trend zu befristeten Verträgen beobachten. Hier zeigt sich, dass fast jeder Zweite, der neu eingestellt wird, nur noch einen befristeten Vertrag bekommt.
Allerdings gibt es hier rechtliche Beschränkungen. Denn befristete Verträge können nur innerhalb gewisser Grenzen eingesetzt werden, um eine dauerhafte Ausbeutung von Mitarbeitern gegen geringe Gehälter und Sicherheiten zu verhindern.
Ähnlich verhält es sich mit dem Trend zu sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen, die den Firmen ebenfalls mehr Flexibilität schenken. Dazu zählen sogenannte reduzierte Normarbeitsverhältnisse wie Minijobs oder Beschäftigungen auf Stundenbasis. Weiterhin sind auch Werkverträge oder der Einsatz von Leiharbeitern in diesem Zusammenhang zu nennen. Ebenfalls beliebt ist das Outsourcing von Tätigkeiten und Prozessen an externe Dienstleister oder der Einsatz von selbstständigen Spezialisten bzw. Freiberuflern.
Während einerseits Vollzeitarbeitsverhältnisse auf dem Prüfstand stehen, lässt sich anderseits der Wandel von hierarchischen und funktionalen Unternehmensgebilden hin zu Netzwerkorganisationen beobachten. Die Idee ist, unternehmensintern und unternehmensübergreifend netzwerkartige Strukturen aufzubauen und so die Kompetenzen zu bündeln, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

Ein Netzwerk kann dabei aus einzelnen Personen, Gruppen oder auch Organisationen bestehen. Solch ein Netzwerk kann zum Beispiel eine Einheit im Unternehmen sein, die sich mit Produktentwicklung befasst. Und Teil eines solchen Netzwerkes wären dann unter anderen auch Kunden, wie es schon heute beim Crowdsourcing der Fall ist. Dabei entwickeln Kunden oder andere Interessierte Produkte mit, ohne in einem klassischen Vertragsverhältnis mit der Firma zu stehen.
Solche Netzwerke können sich immer wieder bedarfsgerecht bilden und verfeinern. So haben Unternehmen die Möglichkeit, auf externes Expertenwissen zurückzugreifen, ohne dass sie diese Kompetenzen aufwändig und kostenintensiv selbst auf- bauen müssten. Die Experten arbeiten meist an verschiedenen Arbeitsplätzen, zum Teil auch quer über den Globus verteilt, und schließen sich per Internet zu einem Wissens-Netzwerk zusammen.
Fällt Ihnen etwas auf? Flexible Arbeitsverhältnisse passen genau zum Trend von Netzwerkorganisationen. Nicht zuletzt deshalb sind sie längst auf dem Vormarsch.
Angesichts dieser Trends liegt der Gedanke nahe, dass Unternehmen dem Change-Tempo dadurch begegnen, dass sie die klassische Beschäftigungsform Festanstellung immer weiter reduzieren – gerade in den Unternehmensteilen, die vom Wandel immer wieder stark betroffen sind.
Eine historisch gute Chance für diesen Umbruch bietet der demografische Wandel. Denn in den nächsten Jahren tritt eine große Zahl von Mitarbeitern aus Altersgründen aus den Unternehmen aus, die noch klassische Vollzeitarbeitsverträge haben. Ihre Nachfolger – oder wenigstens ein großer Teil von ihnen – werden möglicherweise nur noch flexible Beschäftigungsverhältnisse erhalten.

Sollte dies Szenario wahr werden, ist ein neuer Mitarbeitertypus gefragt: der Arbeitskraftunternehmer. Das ist ein Begriff, den die Soziologen Gerd-Günter Voss und Hans J. Pongratz im Jahr 1998 geprägt haben. Bereits damals ging es um die Frage, wie angesichts der sich wandelnden Anforderungen an die Unternehmen eine Flexibilisierung der Arbeit aussehen könnte. Nur war damals das Change-Tempo noch vergleichsweise gering.
Der Arbeitskraftunternehmer ist eine Art Zwischending zwischen einem Unternehmer und dem klassisch angestellten Arbeitnehmer. Typisch für ihn ist, dass er seine Ware »Arbeitskraft« wie ein Unternehmer verkauft. Diese Situation ist Freiberuflern und Selbstständigen nur zu vertraut. Doch unter der Annahme, dass flexible Arbeitsformen zur Normalität werden, wird bei diesem Szenario jeder Mitarbeiter im Sinne des Arbeitskraftunternehmers unterwegs sein müssen, damit er noch einen »Job« hat.

 

Sinkende Identifikation der Mitarbeiter mit den Unternehmen

Diese neue Art zu arbeiten hat natürlich Folgen für alle Beteiligten. Die Identifikation mit den Firmen sinkt. Im Vordergrund steht die Arbeit selbst. Der Arbeitnehmer hat dann die besondere Verantwortung, sich selbst kontinuierlich beruflich weiterzuentwickeln und an die Marktanforderungen anzupassen. Wer das nicht kann bzw. keine guten Referenzen und Qualifikationen anzubieten hat, fliegt schnell wieder raus oder wird gar nicht erst
»gebucht«.
Nun ist anzunehmen, dass die wenigsten Beschäftigten sich permanent in einer unsicheren Jobsituation aufhalten wollen. Denn entgegen früheren Unkenrufen über die jungen Generationen lässt sich inzwischen sagen, dass sie gesicherte Arbeitsverhältnisse mit unbefristeten Verträgen bevorzugen. Folglich hat die Aussicht auf ein Arbeitskraftunternehmer-Modell eine starke stressauslösende Komponente für den Arbeitnehmer. Der Arbeitskraftunternehmer hat nicht nur den ständigen Anpassungsdruck im Genick, sondern leidet unter einer hohen Job-Unsicherheit. Und nicht nur das: Bereits heute bringen befristete Verträge häufig das Risiko mit sich, später in Altersarmut oder Arbeitslosigkeit abzurutschen. Denn wer keine Anstellung findet, arbeitet zwangsläufig weniger und zahlt damit auch weniger in die Rentenkassen ein.

Für die Firmen würde sich aus diesem Szenario vor allem die Notwendigkeit ergeben, schnell passende Arbeitskraftunternehmer zu finden und einzuarbeiten. Angesichts der Vielzahl schon vorhandener Plattformen, die Menschen, Dienstleistungen und Unternehmen gemäß ihrem speziellen Bedarf zusammenbringen, ist allerdings davon auszugehen, dass sich hierfür gut funktionierende Lösungen entwickeln werden. Insofern werden die Firmen mit diesem Ansatz das Change-Tempo sehr wahrscheinlich besser meistern können als mit Vollzeitarbeitnehmern – nicht zuletzt deshalb, weil die Rekrutierung der Mitarbeiter auf diesem Wege global ausgeweitet werden kann und virtuelle Formen der Zusammenarbeit die nötige räumliche Flexibilität ermöglichen.

Sollte dieses Szenario kommen, ist unser Bildungssystem darauf allerdings ganz und gar nicht ausgerichtet. Denn dann müssten in den Lehrplänen neue Kompetenzen verankert werden – etwa wie sich junge Berufstätige als Arbeitskraftunternehmer auf- stellen können. Schon an diesem Punkt würde sicherlich sehr schnell eine natürlich Grenze sichtbar werden: Nicht jeder bringt das Zeug mit, als Arbeitskraftunternehmer seinen Weg zu ma- chen. So zeichnet sich am Horizont dieses Szenarios das düstere Bild ab, dass wir als Solidargemeinschaft vermutlich eine große Zahl schlecht gebuchter Arbeitskraftunternehmer finanzieren müssten, die in prekären Verhältnissen leben.

Jetzt kommt die schlechte Nachricht. Beide Szenarien laufen für Sie als Mitarbeiter auf ein und dasselbe Fazit hinaus: Der Verlierer ist der Mitarbeiter, der sich nicht schnell und gut genug anpassen kann und auf Change zu rasch mit Stress und Anpas- sungserkrankungen reagiert. Wenn auch nur eines dieser beiden Szenarien mehr oder weniger präzise so eintritt, steuern wir sehenden Auges auf eine Change-geschwächte Gesellschaft zu, die an höheren Kranken- und Rentenversicherungskosten laboriert und mit ernsthaften Verteilungsproblemen zu kämpfen hat.
Versuchen wir uns einmal vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn sich das Change-Tempo weiterhin rasant erhöht. Kleine Vorwarnung: Schnallen Sie sich lieber an.

Wenn das Change-Tempo weiter rast: Die Reise in einem verrückten Flugzeug

Sie gehen an Bord des Airbus A 320, grüßen die Stewardessen im Eingangsbereich und setzen sich auf Ihren Platz. Sie hören die vertraute Begrüßung des Flugkapitäns. Sie lassen die Sicherheitsunterweisungen über sich ergehen, und kurze Zeit später hebt der Vogel ab.
In Gedanken versunken lesen Sie Ihre Zeitung. – Doch was ist das? Plötzlich spüren Sie einen starken Ruck. Die Maschine wackelt wie ein Papierdrachen im Herbstwind. Die Stewardessen eilen hektisch zu ihren Plätzen. Die Stimme des Kapitäns tönt brüchig durch die Lautsprecher. »Bitte nehmen Sie die Sicherheitshaltung ein.« Schnell beugen Sie sich nach vorne und legen den Kopf auf die Knie. Panik steigt in Ihnen hoch.
»Achtung, wir versuchen jetzt, die Lage zu stabilisieren«, hören Sie gleich darauf aus dem Cockpit. Und Sie merken, wie das Flugzeug auf einmal scharf nach rechts zieht. Es fühlt sich nach einer 90-Grad- Kurve an. Sie spüren Druck auf den Ohren. Hilfe, was ist denn hier los? Der Pilot wird schon wissen, was er tut, oder? Ihre Hände sind feucht. Ihr Herz rast. Ihr Blutdruck sprengt die Skala. Sie versuchen sich Mut zuzusprechen. Alles wird gut.

»Das hat nicht geholfen«, scheppert es wenige Minuten später durch den Lautsprecher. Sie können sich gerade noch an Ihrem Sitznachbarn festkrallen. Denn jetzt geht es unvermittelt scharf nach links. Sie hoffen, dass es genug Spucktüten an Bord gibt. Und dann, wenige Minuten später, schon die nächste Kurve: Noch einmal geht es scharf nach rechts. Es ist wie in diesen Karussells auf den Jahrmärkten, die ständig die Richtung wechseln, dass Ihnen das Genick wehtut.
Der Pilot sagt inzwischen nichts mehr. Macht auch keinen Sinn. Sie als Passagier spüren den Schlingerkurs ja auch so. Sie versuchen sich abzulenken. Blicken aus dem Fenster. Weiße Wölkchen ziehen vorbei. Grelle gelbe Sonnenstrahlen und das weite Blau des Himmels. Idyllisch. Es könnte alles so friedlich sein. Doch es ist der blanke Horror. Das Flugzeug holpert durch die Luft wie auf Eisenbahn- schwellen, nur ohne die Schienen. Jetzt ist es endgültig vorbei mit Ihrer Beherrschung. Der Würgereiz überkommt Sie mit aller Macht, und in letzter Sekunde greifen Sie nach dem Tütchen in der Sitztasche vor Ihnen.

Mit tränenden Augen und diesem säuerlichen Geschmack auf der Zunge vernehmen Sie wie durch einen Wattebausch die bebende Stimme einer Stewardess, die in den Innenraum brüllt: »Wir haben ein Problem. Unsere Piloten sind ausgefallen. Wir fliegen nur noch auf Autopilot. Kann jemand übernehmen?«
»Ich«, tönt es von irgendwo hinten. Und Sie sehen, wie ein flippiger Typ an Ihnen vorbei in Richtung Cockpit schlendert, soweit man bei dieser Fluglage von Schlendern sprechen kann. Gelfrisur. Kaum 30. O Gott. Wenn der so fliegt, wie er aussieht … »Das kriege ich schon hin«, tönt der Kerl mit breitem Grinsen und in Messias-Pose an die gesamte Kabine gerichtet, bevor er im Cockpit verschwindet.
»Wäre ja gelacht, wenn ich die Kiste nicht heil runterbringe. Kann ja auch nicht groß anders sein als bei einer Cessna mit vier Sitzen.«
Plötzlich erinnern Sie sich, dass Sie irgendwann einmal getauft wurden und trotz Kirchensteuern und all den Geschichten über pädophile Geistliche den Glauben offiziell noch immer nicht abgelegt haben. Na dann: Zeit zu beten.
Ihr Sitznachbar ist nur noch ein wimmernder Haufen Elend und gar nicht mehr ansprechbar. Fünf Minuten später folgt ein neues Kommando vom Kabinenpersonal: »Wir bitten Sie, schnell aufzustehen und die Plätze zu wechseln. Und zwar so, dass Sie gleichmäßig im Flugzeug verteilt sitzen. Hopp, hopp! Wir haben keine Zeit für Diskussionen! Es geht um jede Sekunde!«

Nachdem das gerade geschafft ist, kommt kurz darauf schon wieder eine Durchsage: »Wir bitten die Passagiere der hinteren fünf Reihen, nach vorn zu kommen.« Was bedeutet das nun wieder? Aber hey, gerade nochmal gutgegangen. Sie sitzen nämlich in der sechsten Reihe von hinten.
»Wir bitten um Verständnis für diese Maßnahme«, hören Sie aus dem Lautsprecher. »Leider müssen wir uns jetzt von Ihnen verabschieden.« Und dann beobachten Sie, wie die Passagiere aus den hinteren fünf Reihen, sagen wir, aus dem Flugzeug »gesprungen werden«, damit der Vogel leichter wird und die Chance besteht, mit der verbliebenen Mannschaft noch heil am Zielflughafen anzukommen.
Interessant. Sie wussten bisher gar nicht, welches Spektrum an Gefühlen und Reaktionen der menschliche Körper besitzt. Wenn noch eine Brechtüte da wäre, könnten Sie jetzt reinatmen, um die Hyperventilation zu überwinden, aber die Tüten sind längst ausgegangen.
Und dann passiert erst einmal nicht mehr viel. Über sieben Minuten Ruhe, wie ein Blick auf die Uhr zeigt. Mal abgesehen davon, dass der Pilot zwischendurch noch ein paarmal die Richtung gewechselt hat. Rechts, links, rechts. Der neue Pilot fliegt auch nicht besser als der alte. Irgendwann haben Sie aber aufgehört, die Richtungswechsel zu zählen. Das macht alles sowieso keinen Sinn mehr.
Und dann, endlich, knistert es wieder in der Leitung. »Wir brauchen drei Passagiere, die ab sofort drei unserer Stewardessen ersetzen. Die sind leider in Ohnmacht gefallen und nicht mehr wachzukriegen. Freiwillige bitte vor.«

Natürlich bewegt sich keiner. Wahrscheinlich, weil alle Beine wie Blei haben. Mit rotem Kopf hastet die letzte verbliebene Stewardess durch die Kabine. »Sie und Sie und Sie. Mitkommen. Kostüm an. Finden Sie hier vorne.« Was sie zu tun haben, zeigt sie den »Freiwilligen« anscheinend vorn in der Galley hinter verschlossenem Vorhang. Was soll’s – irgendwer muss ja jetzt schnell lernen, wie das Flugzeug im Notfall evakuiert wird.
Das wird aber wohl nicht mehr nötig sein. Da haben die »Freiwilligen« noch mal Schwein gehabt. Denn jetzt scheint es abwärts zu gehen. Ein gutes Zeichen: der Landeanflug. Sie hören diese typischen surrenden Geräusche. Wobei es dieses Mal doch merklich rasanter runtergeht als sonst.
Sie krallen sich in die Sitzlehne, dass die Fingerknöchel weiß wer- den. Das wird ja immer schneller, schneller, schneller … Sie haben gerade noch Zeit zu denken: »Das war’s dann wohl«, bevor das Flugzeug am Boden zerschellt und in Flammen aufgeht.
Das war definitiv die letzte überraschende Wendung in Ihrem Leben.

Sie können Ihren Sitzgurt jetzt wieder öffnen: War alles nur ein böser Traum. Vorerst jedenfalls. Kommen wir für den Moment mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Raus aus dem Flugzeugwrack und zurück in die vergleichsweise noch ganz er- trägliche Realität. Durchatmen. Und dann: Nachdenken – dieses Mal aus der Vogelperspektive anstatt aus dem Inneren des Flugzeugs.
Stellen Sie sich vor, in den Firmen ginge es so rasant zu wie in dem beschriebenen Flugzeug. Wie würde sich das anfühlen, wenn das Tempo in Ihrem Unternehmen sich noch einmal verdoppelt oder verdreifacht?

 

Malen Sie sich das einmal konkret für Ihren Arbeitsplatz aus. Vor lauter Change-Tempo würden in Ihrer Firma die Stühle und Tische ständig von links nach rechts wandern. Sie müssten die Möbel am Boden festtackern, damit diese gespenstische Wanderung aufhört. Ständig käme eine Durchsage von der Firmenleitung, was jetzt wieder anders läuft, noch bevor Sie die letzte Maßnahme verkraftet haben. Wie würde sich das anfühlen? Wie erginge es Ihnen mit noch mehr Tempo?

 

Veränderungsleichen als Opfer von zu viel und zu schnellem Wandel

Und nun stellen Sie sich vor, wie Ihre Firma mit Karacho auf dem Boden aufschlägt wie jenes Flugzeug, das am Ende nicht die Sonne grüßt, sondern den Boden küsst. Zurück bleibt eine beeindruckende Rauchsäule, die sich über den Trümmern des Change-Wahnsinns ausbreitet. Und am Boden verstreut, so weit das Auge blickt, liegen die Veränderungsleichen. Die Opfer von zu viel und zu schnellem Wandel.
Gibt es überhaupt noch eine Chance, dass wir nicht alle so enden wie die Passagiere in dem verrückten Flugzeug?

 

 

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