Buchauszug (1): Benno Heussens „Interessante Zeiten“ – ein Urgestein unter den deutschen Anwälten

 

Benno Heussen, ein Urgestein unter den deutschen Anwälten, hat in seinem neuen – sehr persönlichem – Buch „Interessante Zeiten“ 29 Reportagen veröffentlicht. Als Spezialist für Computerrecht und als Managing-Partner der Heussen Rechtsanwaltsgesellschaft war er Prozessanwalt, Schiedsrichter, Gutachter, Mitglied im Vorstand des Deutschen Anwaltvereins.

Er hat aufgeschrieben, wie sich das Recht entwickelt hat in den vergangenen knapp 50 Jahren: Heussen über Anwälte, Richter, Politiker, Professoren und viele andere Menschen, denen er begegnet ist. Und über Zusammenhänge und Hintergründe, die nicht auf Anhieb erkennbar sind.

 

Benno Heussen

Benno Heussen

Buchauszug:

Das Fusionsfieber war vorbei, der Lerneffekt gewaltig. Wir waren sensibilisiert für die Entwicklung, hatten eine gewisse Vorstellung darüber gewonnen, wie  andere Büros ihre Strategie bildeten, und versuchten einstweilen, eine Strategie für uns zu finden.

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Cambridge

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1992 sprach uns Lewis Isaacs, ein älterer Partner von Hewitson Becke (Cambridge) an, ob wir Interesse daran hätten, gemeinsam mit ihnen ein europäisches und vielleicht internationales Netzwerk aufzubauen. Reiner Ponschab nahm sich der Sache an. Hewitson betrieb mit etwa achtzig Anwälten überwiegend in Südengland vier Büros außerhalb der City of London. Viele Partner waren aus größeren Firmen in London dorthin gewechselt, weil ausden großen Londoner Anwaltsbüros seit etwa 1970 Konzerne geworden waren, die dem klassischen Anwaltsbild nur noch wenig entsprachen. Es wurde gewaltig verdient, aber der Stil hatte sich vollkommen verändert. Diese Entwicklung hat sich in den folgenden Jahren noch umso mehr verstärkt, als all diese Büros nun international aufgestellt sind.

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Ich hatte Gelegenheit gehabt, mit einem 56-jährigen Kollegen zu sprechen, der ein Jahr zuvor aus einer der Firmen des Magic Circle in Pension geschickt worden war. Ich fand den Zeitpunkt sehr früh, aber sollte schnell begreifen, wie das System funktionierte: »Die meisten von uns fangen mit 25 Jahren an, zehn Jahre später werden Sie Partner, in weiteren zehn Jahren erreichen Sie die Spitze der Gewinnverteilung. Würden diese hoch bezahlten Partner nicht mit 55 Jahren ausscheiden, könnte der Nachwuchs nicht mehr finanziert werden.« »Haben Sie denn genügend Rücklagen, um in der Zukunft gut durchzukommen?« »Wir rechnen damit, in diesen 20 Jahren ungefähr 5 Millionen € nach Steuern zurückzulegen, und wenn wir die vernünftig anlegen, gibt es keine Probleme«, meinte der englische Kollege cool.

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Freshfields hat im Jahr 2010 1,59 Millionen durchschnittlich pro Partner ausgeschüttet. Wenn nach Steuern 800.000 € überbleiben, kann man ohne weiteres 200.000 € pro Jahr sparen. Und warum sah der reiche Anwalt dann so traurig aus? Die Partner in Cambridge wussten es: »Er war völlig ausgebrannt und hat sich nie darum bemüht, sich zu überlegen, wie das Leben nach dem Tod aussieht – das soll uns nicht passieren!« Sie wollten genauso wie wir lieber 40 Jahre arbeiten.

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In Cambridge hatte sich ähnlich wie in München rund um die Universität eine Vielzahl von IT-Firmen angesiedelt. IT-Recht war auch einer der Schwerpunkte von Hewitson, aber auch die anderen Probleme der Branche wurden vom Gesellschaftsrecht bis zum Arbeitsrecht abgedeckt. Es war die erste englische Firma, die eine professionelle Zwangsvollstreckung betrieb, und zwar international! Wir waren erheblich kleiner, hatten aber viel miteinander gemeinsam.

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Auch ein niederländisches und ein französisches Büro, Procopio Cory Hargreaves (San Diego) und Gould & Ratner (Chicago) gehörten bereits zum Netzwerk Law Exchange. Als wir die Franzosen in Montpellier besuchten, zeigte sich ein hochmodernes, mit den besten Computern ausgestattetes Büro. Auch sie waren im IT-Recht tätig und wiederum im Dunstkreis der Universität. Mit der Zustimmung zögerten wir nicht lange, denn auch die anderen Büros machen einen guten Eindruck. Es gab nur wenige, sehr einfache Regeln wie z. B.: Jeder konnte auch mit anderen Korrespondenzanwälten zusammenarbeiten, sollte sich aber fairerweise vorher erkundigen, ob es in den zu Law Exchange gehörenden Sozietäten nicht einen geeigneten Spezialisten gab. Diese Grundregel ist es, die Netzwerke zusammenhält: Wo immer versucht wird, eine Exklusivität zu erzwingen, die man im Interesse des Mandanten nicht akzeptieren kann, brechen sie auseinander. Wir sahen auch ein wirksames Kostenmanagement, was bei manchen Netzwerken fehlt.

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Kanzleien nach Gutsherrenart

Bei den britischen Büros war auf den ersten Blick zu sehen, dass sie uns in allen Managementfragen weit überlegen waren. Wir selbst waren am Anfang der Neunzigerjahre schon nicht schlecht aufgestellt, aber hier konnte man vieles sehen, was uns nützlich sein würde. Einige ältere Sozietäten in Deutschland, deren starke Mandate ihnen auch ein starkes Selbstbewusstsein verschaffte, waren allzu oft nur nach Gutsherrenart organisiert. Sie haben bei ihren Fusionen schwer gelitten, wenn die englischen Kollegen ihre Managementstrukturen über ihnen ausrollten wie eine Luftlandedivision. Immer gab es einen Kern der deutschen Partner, der das begrüßte, andere flohen und es gab große Lücken. Die Engländer schien das nicht zu kümmern. Eine Zusammenarbeit im Netzwerk würden solche Schwierigkeiten gar nicht erst entstehen lassen.

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Lewis Isaacs konzentrierte sich in den nächsten Jahren mehr und mehr auf seine Aufgaben im Netzwerk. Die anderen Sozietäten halfen ihm mit Empfehlungen und Berichten über geeignete Büros im Ausland. Bald kamen Schottland, Dänemark, Griechenland und Italien dazu. Nach einer überschlägigen Schätzung hatten wir nach etwa fünf Jahren 2 % unseres Umsatzes daraus gezogen, was die Kosten bei weitem rechtfertigte. Heute reicht das Netzwerk weltweit (bis nach China, Mexiko und Australien) und umfasst 25 Sozietäten, die teilweise seit Jahrzehnten zusammenarbeiten. Wir mussten Law Exchange im Jahr 2000 verlassen, weil das internationale Anwaltsnetzwerk von PriceWaterhouseCoopers mit etwa 3000 Anwälten Exklusivität verlangte.

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San Diego, Chicago, Washington: Gefährliche Gesetze

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Bis dahin hatte ich überwiegend mit Clemens Kochinke (Berliner, Corchoran & Rowe) in Washington zusammengearbeitet. Er war nicht nur der Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft, sondern auch ein ausgezeichneter Computerrechtler. Jetzt kamen die IT-Anwälte im Netzwerk dazu, darunter vor allem Steven J. Untiedt aus San Diego und Fred Tannenbaum aus Chicago. Jetzt sollten sich meine Erkenntnisse über die USA überraschend vertiefen.

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Der verhaftete Papierhersteller aus dem Rheinland

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Das bewährte sich an einem der ersten Fälle, die wir mit Gould & Ratner in die Hand nahmen. Gunter Braun beriet seit langem einen rheinischen Papierhersteller, der sich auf besonders leichte Papiere spezialisiert hatte, die in den USA nachgefragt waren. Mit seinem amerikanischen Handelsvertreter war er nicht zufrieden, kündigte ihm und schloss einen neuen Vertrag ab. Dabei wurden Briefe, Telefaxe usw. über die Grenzen mehrerer US-Staaten verschickt. Niemand wusste, dass es seit Anfang der 70-er Jahre ein Gesetz gab, das man zur Verfolgung von Mafia und Drogenhandel erfunden hatte, den Rico-Act. Jede grenzüberschreitende Aktivität konnte als formaler Verstoß gegen dieses Gesetz gedeutet werden, wenn eine rechtswidrige Absicht dahinterstand. Das war es, was der Handelsvertreter bei einem örtlichen Staatsanwalt, der ihm wohlgesonnen war, behauptete. Der Haftbefehl gegen den deutschen Geschäftsführer folgte sofort, denn man wusste, dass er bald eine Messe in den USA besuchen würde. Noch auf dem Flughafen wurde er verhaftet: Er sah sich nicht nur mit dem Handelsvertreter konfrontiert, sondern auch mit Zollproblemen, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Das waren drei extrem unerfreuliche Tage für ihn. Wir fühlten uns an die Zeit der strengen Embargo-Bestimmungen während des Kalten Krieges erinnert, die auf den National Security Act vom 26. Juli 1947 folgten, und unsere Kollegen in Chicago mussten arbeiten wie die Teufel, um den Mann wieder freizubekommen. Solche Situationen wird es in den USA immer geben, weil im Wirtschaftskrieg dort mit allen Waffen gefochten wird, die ursprünglich für ganz andere Zwecke entwickelt worden sind. Auch der USA Patriot Act vom 26. Oktober 2001, der auf das Attentat vom 11. September 2001 reagierte, hat zu vielfältigen Vorsichtsmaßnahmen im Wirtschaftsrecht geführt. Es wäre aber völlig aussichtslos, Mandanten in Deutschland verlässliche Verhaltensempfehlungen für die USA zu geben. Das müssen die amerikanischen Kollegen tun.

Systeme und Fairness: Civil law und common law

Das europäische Rechtsdenken verwirklicht sich in der Konstruktion von Systemen, die das Allgemeine vom Besonderen unterscheiden, einheitliche Begriffe verwenden, Regeln und Ausnahmen definieren und es auf diese Weise fertig bringen, auch neue und unbekannte Konflikte mit den bekannten Werkzeugen zu regeln: »Es ist die ureigenste Aufgabe des Juristen, aus scheinbar sich widersprechenden Rechtsgedanken ein System zu schaffen.« Ich zitiere hier Franz L. Neumann und nicht andere, noch berühmtere Rechtslehrer wie Hans Kelsen, die solche Systeme geschaffen haben, um zu zeigen, dass dieses Denken für europäische Juristen selbstverständlich ist. Es ist nach griechischen Vorläufern im Wesentlichen im klassischen Rom (ca. 100 n. Chr.) entstanden, veränderte sich dann durch Einflüsse aus dem jüdischen und christlichen Rechtsdenken und wurde durch die Berührung mit lokalen Rechten (leges barbarorum ca. 600–800 n. Chr.) verfeinert.

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Rechtsschulen in Bologna (1088 n. Chr.) und Paris (1200 n. Chr.) brachten Juristen hervor, die diesen Denkstil selbstverständlich benutzten. Im angloamerikanischen Rechtskreis nennt man ihn Civil Law. Der Versuch, ihn nach England zu übertragen, ist im Wesentlichen daran gescheitert, dass sich in England und Wales seit 1066 (Wilhelm der Eroberer) bereits ein königliches Gerichtssystem entwickelt hatte – und damit gleichzeitig Juristen, die damit umgehen konnten. Ausgehend von den hergebrachten Rechten der Angeln und Sachsen stützt sich das Common Law auf die Kraft der einzelnen Entscheidung, die sich als vorbildlich bewährt hat (Präjudizien). Sie sollte so lange unter allen Umständen gelten (stare decisis), bis das Gericht sie selbst ändern würde. Dabei geht es in erster Linie um die Absicherung eines fairen Verfahrens (z. B. die habeas-corpus-Regel), denn das Common Law ist sich der Relativität der Inhalte des materiellen Rechts bewusster als das Civil Law. Deshalb vermeidet es Systeme und konzentriert sich auf den Einzelfall.

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Daraus können erstaunliche Differenzen zu unseren Rechtsauffassungen entstehen: In einem Wiener Fall, den wir begleiteten, hatte das Gericht ein Feststellungsurteil getroffen. Ein solches Urteil hat keinerlei vollstreckbaren Inhalt, weil es nur die Rechtslage klärt. Das hinderte den Londoner Richter nicht, darauf einen Arrest zu stützen, ohne das näher zu begründen. Der systematische Unterschied zwischen Feststellung und Verurteilung war ihm gleichgültig. Das alte Europa sucht an der Kralle den Löwen zu erkennen – das Common Law zeigt daran wenig Interesse, wenn es für den konkreten Fall ausreicht zu erkennen, wie gefährlich die Kralle ist. Logische Widersprüche werden weit großzügiger hingenommen, als wir das tolerieren würden, Nachlässigkeiten bei der Darstellung des Sachverhalts hingegen nicht. Der Kern der anwaltlichen Arbeit besteht hier im Nachweis, dass der Sachverhalt sich mit dem des Präjudizes deckt (oder mit ihm nichts zu tun hat). Ein solches System stößt in Grenzfällen auf das Problem, dass es keine faire Entscheidung ermöglicht. Also haben sich Equity-Regeln (Treu und Glauben) etabliert, die im Einzelfall Korrekturen erlauben. Auch das Gesetzesrecht gewinnt immer mehr Raum, aber weil die Handwerkszeuge für die Gesetze fehlen, kommen am Ende seltsame Dinge dabei heraus. So versucht etwa der Montana Code Annotated Auslegungsgrundsätze zu definieren, die wie folgt lauten:

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Gelehrte Richter und Schöffen

Niemand soll sein Ziel auf Kosten eines anderen erstreben (§ 1-3-203).

Niemand soll für die Handlung eines anderen büßen (§ 1-3-211).

Was nicht als Existenz nachgewiesen werden kann, gilt als nicht existent (§ 1-3-221).

Größeres schließt Geringeres ein (§ 1-3-227).

Eine Rechtsnorm sollte dann keine Anwendung mehr finden, wenn sie ihren Sinn verloren hat (§ 1-3-201) usw.

Für den Entwurf der Verträge hat dieses eklektische Denken erhebliche Konsequenzen. Begriffe wie letter of intent, letter of comfort, memorandum of understanding etc. können die unterschiedlichsten Bedeutungen haben.

Deshalb werden sie in jedem Vertrag in einem eigenen Abschnitt, der die Definitionen enthält, im Einzelnen festgelegt. So entsteht erst einmal ein heftiger Kampf um Begriffe, den man sich in den deutschen und europäischen Systemen sparen kann.

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Rentner und Hausfrauen als typische Mehrheiten

Ein weiterer tief greifender Unterschied findet sich im Prozessrecht. In den USA kann jede Partei beantragen, dass der Rechtsstreit durch eine Jury und nicht durch den Berufsrichter entschieden werden muss. Die Geschworenen werden ebenso wie bei uns aus einer Liste ermittelt, können das Amt aber ablehnen, wenn sie schwerwiegende Gründe (zum Beispiel berufliche Nachteile) haben. Rentner, Arbeitslose, Hausfrauen usw. bilden daher die typischen Mehrheiten. Vom Wirtschaftsrecht, besonders von Lizenzen usw. haben sie keine Ahnung.

Die Amerikaner sehen das nicht als Nachteil an – im Gegenteil. Sie sagen sich, die Art und Weise, wie das Recht Konflikte regelt, muss von jedermann und nicht nur von Fachleuten begriffen werden
können.
Man sieht das Problem in einem berühmten Fall der englischen Rechtsgeschichte, jenem von William Penn, dem Gründer der Glaubensgemeinschaft der Quäker, der sich 1670 in London ereignete. Angeklagt wegen verbotener Gottdienste nahm er im Gerichtssaal wie gewohnt seinen Hut ab (er war selbst Anwalt), erhielt von dem Gerichtsbeamten aber die Weisung, ihn wieder aufzusetzen. Als der Richter ihn so sah, verurteilte er ihn wegen Respektlosigkeit nach Common Law. »Wo steht dieses Common Law?«, fragte Penn. »Du bist ein impertinenter Geselle«, sagte der Richter. »Du willst dem Gericht beibringen, was Recht ist? Das ist ›ungeschriebenes Recht‹, für das manche 30–40 Jahre Studium brauchen, und du willst mir zumuten, dir das in einer Sekunde zu erklären?« Penn: »Na, wenn das Common Law so schwierig zu verstehen ist, dann ist es von ›common‹ ziemlich weit
entfernt!«

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William Penn wanderte später nach Amerika aus und sorgte als Erstes in Pennsylvania dafür, dass der Einzelrichter durch die Geschworenen ersetzt wurde. Das Geschick der Anwälte besteht bei Prozessen vor der Jury also im Wesentlichen darin, auch komplexe Sachverhalte auf diesen Kern zu reduzieren. Die Entscheidung durch die Geschworenen hat aus amerikanischer Sicht einen zweiten Vorteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass man Geschworene bestechen kann, ist äußerst gering. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Richters war im alten England durch bekannte Bestechungsfälle untergraben. In den amerikanischen Kolonien wollte man das vermeiden. Deshalb werden in den USA die Richter in politischen Verfahren gewählt und können auch abgewählt werden. Nur beim Supreme Court werden sie lebenslang bestellt. Wir sehen – anders als die Amerikaner – gerade darin die Möglichkeit, sich politisch willfährige Richter zu besorgen. Eine Jury kann man zwar nicht bestechen, aber durch die Medien und die Umgebungsbedingungen massiv beeinflussen.
Aus all diesen Gründen kann man von englischen oder amerikanischen Anwälten keine Prognosen darüber bekommen, wie ein Gericht eine einzelne Definition oder Vertragsklausel »im Allgemeinen« beurteilen wird. Dazu können sie nichts Vernünftiges sagen, weil es immer auf die Beurteilung im konkreten Fall ankommen wird. Besonders gilt das, wenn eine Jury bestellt ist. Wenn ich fragte, ob das Gericht unsere Position in einem Streitfall wohl akzeptieren würde, lautete der Kommentar ziemlich häufig: »God knows.«

Irgendwann gab ich dann auf. Ich fand die Idee interessant, innerhalb von Law Exchange ein Koordinationsbüro in New York aufzumachen, wie es einer unsere jungen Kollegen, Georg F. Schröder, dann 2010 tatsächlich gemacht hat. Andere, wie Christoph Rückel, der bei Rolf Bossi Strafverteidigung gelernt hat, haben noch in späteren Jahren den großen Schritt in die USA getan. Wir kennen uns gut, weil er eine Zeit lang mit uns in München in Bürogemeinschaft gearbeitet hatte.

http://www.1215.org/lawnotes/lawnotes/penntrial.htm

In den USA (Atlanta) konzentrierte Rückel sich auf das Wirtschaftsrecht. Irgendwann 1995 rief ich ihm zu, dass der unter dem Schutz seiner Perücke geflohene Frankfurter Ex-Baulöwe Dr. (Graz) Utz Juergen »Peanuts« Schneider in Miami verhaftet worden war. Der Grund: Er hatte sich entschlossen, die Altstadt von Leipzig zu rekonstruieren, und weil ihm dazu die Mittel fehlten, hatte er die Deutsche Bank und die Bauhandwerker betrogen. Jetzt zeigten ihn uns die Illustrierten mit kahlem Kopf in einem amerikanischen Gefängnis, wie Tom Wolfe es geschildert hat, und daraus befreite Christoph Rückel ihn alsbald in einen deutschen Knast hinein. In einer solchen Situation reagieren wir Anwälte wie das Zirkuspferd auf die Trompete, auch wenn die letzten Strafverteidigungen schon Jahre zurückliegen.

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Anwälte und Mandanten in den USA

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Ganz in den Anfängen hatten wir uns über jeden Mandanten sehr gefreut, der auf irgendeinem Weg aus den USA zu uns fand. An »Rigolettos Pizza « werde ich mich immer erinnern. Drei Manager löcherten Gunther und mich zwei Tage lang mit hunderten von Fragen aus ihren Checklisten, die so detailliert waren, dass man sicher sein konnte, wirkliche Fachleute vor sich zu haben. Sie wollten mit ihrem Franchisesystem den großen Sprung nach Europa wagen. Am Ende sagen sie munter: »Just send the bill« und waren wie vom Erdboden verschlungen. Die Telefonnummern auf ihren Visitenkarten gab es nicht. Geld haben wir nie gesehen. Law Exchange hat uns solche Risiken erspart. In 3–4 Stunden hatte man Auskünfte über jede Firma und jeden Begriff, der sich auf einer Visitenkarte fand, und wenn es keine Auskünfte gibt, ist das die schlechteste Auskunft! Wenn jetzt die jüngeren Partner wieder einmal stolz mit einem neuen Mandanten aus den USA anrücken, müssen sie sich fragen lassen: »Schon wieder so ein Just-send-the-bill-Typ«?

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Reaktionsschnell – aber keine konkreten Antworten

Durch die intensive Arbeit mit den US-Anwälten lernten wir besser, mit solchen Situationen umzugehen. Bisher hatten wir uns darauf beschränken müssen, den richtigen Korrespondenzanwalt auszusuchen und, wenn dessen Rechnung kommt, die Hand des Mandanten so lange zu halten, bis der Schmerz vorbei ist: Auf dieser Rechnung wird er nämlich auch die Pizza finden, die sein Anwalt nach 19 Uhr gegessen hat, wenn er wegen des Falles so lange im Büro bleiben musste! Jetzt konnten wir den amerikanischen Anwälten auf den Schreibtisch sehen, erhielten eine Fülle von Hintergrundinformationen, beobachteten sie bei der Entwicklung von Strategien und konnten in groben Zügen nachvollziehen, worauf sie ihre jeweiligen Empfehlungen stützten. Ihre Reaktionsschnelligkeit habe ich immer bewundert, aber wenn es um rechtliche Inhalte geht, bleibt der Fall schnell stecken. Selbst einfachste Fragen, über die kein Anwalt in Europa lange nachdenken würde, wollen sie nicht sofort beantworten, und das hat einen einfachen Grund: Selbst das, was sie bis heute sicher gewusst haben, hat sich vielleicht am gleichen Tag verändert, wenn ein uraltes Präjudiz aufgehoben und durch ein neues ersetzt worden ist.

Man muss es recherchieren. Dazu braucht man Überstunden und die werden oft nachts geleistet. Hier zeigt sich der große Vorteil des Zeitunterschieds zwischen München und San Diego: Wenn man abends um 20 Uhr noch eine letzte Frage auf das Telefax legte, war sie am anderen Morgen beantwortet und Steven Untiedt lag schon wieder im Bett. Nur umgekehrt ist es furchtbar: Wenn von dort eine Frage kommt und man nicht zufällig bis 12 Uhr nachts im Büro ist, müssen die US-Kollegen warten – und das tun sie nicht gern.

Berufswechsel
 

Amerikaner interessieren sich weit mehr als wir für den persönlichen Hintergrund eines Anwalts, mit dem sie zusammenarbeiten. Mich hat das immer interessiert, und so bin ich auf eine Besonderheit gestoßen, die amerikanischen Juristen in ihrem Berufsleben viel mehr Flexibilität gönnt, als wir es gewöhnt sind: Man kann zwischen den Berufen des Staatsanwalts, des Richters, des Anwalts, des Syndikus oder auch des Managers und Politikers viel einfacher und unbefangener wechseln, als das in Europa möglich wäre. In der Karriere von Christine Lagarde, die lange Jahre Partnerin und dann Managing-Partner von Baker & McKenzie war, deuten sich neue Entwicklungen an, die in den USA ihren Ursprung haben. Der langjährige Chef der CIA, Allen Dulles, war fast genauso viele Jahre Partner bei Sullivan & Cromwell, der in Deutschland in der Nachkriegszeit bekannte John McCloy Partner bei Milbank Tweed, Richard Nixon bei Mudge Rose Guthrie. Das war eine der ältesten Anwaltsfirmen der USA (gegründet 1869), die zeitweise seinen Namen (selbstverständlich an erster Stelle!) getragen hatte.

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Ich betrat das Büro für eine Verhandlung lange nach seinem Rücktritt. Jetzt hatte man den Namen wieder geändert, und trotzdem hielt man ihm im 34. Stock ein Eckzimmer mit beeindruckendem Blick über New York bis zur Küste offen, für den Fall, dass er einmal dort zu tun hätte. All das zeigte wie Geßlers Hut augenfällig die Aura der Macht, die auch ein gefallener Präsident noch hat. Wenige Jahre später zerbrach die Sozietät an den Meinungsverschiedenheiten ihrer Partner über die richtige Strategie.

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Law-Firm-Management und das Gerichtssystem

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Ich habe hier etwas weiter ausgeholt, weil man nur auf diesem Hintergrund und dem oben skizzierten System des Common Law verstehen kann, wie Rechtsanwälte in den USA arbeiten und wie rechtliche Konflikte sich dort praktisch auswirken. Es gibt in den USA bezogen auf die Bevölkerungszahl etwa viermal mehr Rechtsanwälte als bei uns – derzeit etwa 1,2 Mio. Man kann diese Zahl etwas relativieren, weil dort auch Juristen als Anwälte bezeichnet werden, die bei uns keine Zulassung brauchen, aber im Kern liegt es auf der Hand, dass ein System, in dem das geltende Recht am jeweils konkreten Fall bestimmt werden muss, sehr viel mehr Arbeit erfordert als die
europäischen Systeme.
Diese Arbeit muss man gut organisieren, wenn sie Erfolg haben soll. Peter Delmonico hatte beiläufig erwähnt, die Universität von Utah unterhalte als Einzige in den USA einen eigenen Lehrstuhl für das Management von Sozietäten, und das Material, das sie wie auch die örtlichen Anwaltskammern veröffentlichten, sei jedermann zugänglich (heute gibt es an den meisten amerikanischen Universitäten Kurse in Law Firm Management). Für alle Tätigkeiten im Büro gab es Formulare, damit die Mitarbeiter ihre Tätigkeiten strukturieren und ihre Arbeit leichter kontrolliert werden konnte. Ich war beeindruckt und forderte mir alles mögliche an, darunter Sätze von Formularen und Mustern, die mit wenigen Abänderungen auch bei uns gut brauchbar waren – vor allem im Bereich des Zeitmanagements und der Kostenerfassung.

Daraus entstand langsam das interne Managementhandbuch, das uns seit etwa 1990 begleitet. Und damit man bei allem Formalismus auch etwas zu lachen hatte, zeigte er mir die beste Anleitung, die ich je gesehen habe, um Honorarrechnungen zu schreiben.

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Grundbücher für Kuba

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Wenn Procopio einen Fall nicht übernehmen konnten, oder es örtlich absolut nicht passte, weil der Fall tief im Mittelwesten oder an der Ostküste spielte, empfahlen sie uns gute Büros in anderen US-Bundesstaaten. Bei dem Erbfall eines Deutschen, der in Florida seinen Lebensabend verbrachte, lernten wir auch dort Kollegen kennen. Als sie davon erfuhren, dass ich seit 1992 in Berlin tätig war, bekamen wir viel Beifall für die saubere juristische Konstruktion der Restitutionsansprüche. Sie planten, einige Spezialisten nach Berlin zu schicken, um sich die praktische Umsetzung anzusehen. Wozu das?

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»Wenn Castro stirbt, wird halb Miami leer stehen, weil dann die Emigranten alle nach Kuba zurückgehen. Die wollen ihre Grundstücke wiederhaben. Aber ohne unsere Hilfe werden sie sie nicht bekommen!« Vermutlich gibt es in Kuba kein Grundbuch, aber die Katasterakten werden in den USA soweit möglich für den Tag der Abrechnung rekonstruiert. So warten wir geduldig auf die Aufträge, das deutsche Grundbuchwesen in Kuba einzuführen, nachdem Griechenland diese Idee uninteressiert zurückgewiesen hat.

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Kurve der Dankbarkeit

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Zurück im Büro nach der Verhandlung: Sie haben meine Firma gerettet. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann?!

Nach dem erfolgreichen Urteil: Das hätte ich nicht erwartet!

Nach der ersten Verhandlung: Hat das Gericht wirklich alles verstanden?

Nach der Beweisaufnahme: Hoffen wir das Beste!

Nachdem die Klageerwiderung vorliegt: Sieht schlecht aus. Kriegen wir das hin?

Erste Besprechung: Ich werde alles verlieren, wenn wir nicht sofort klagen!

1 Stunde Telefonkonferenz

Anruf beim Anwalt (21 Uhr abends): Kann ich Sie sofort sehen?

Richtige Zeit für Gebührenvereinbarung!

Richtiger Moment um bei Festpreisen (RVG) die Schlussrechnung zu stellen!

Zwangsvollstreckung begonnen: Bevor wir kein Geld haben, sieht auch der Anwalt nichts!

Einen Tag später: Unsere Zeugen waren die Richtigen.

Eine Woche später: Die hatten niemals eine Chance.

Gesetzliche Gebühren hätten gut gereicht.

Einen Monat später: Es war so einfach:

Das hätte ich selbst machen können!

Die Honorarrechnung wird geprüft: Die ist doch ein bisschen hoch!

Zwangsvollstreckung erfolgreich: Soll er sich sein Geld doch erst beim Gegner holen, da gibt’s genug.

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