Buchauszug Michael Neumann / Jörg Forthmann/ Roland Heintze: „So überleben Unternehmen im Schraubstock von Profit und Nachhaltigkeit
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Jörg Fortmann (l.) und Roland Heintze (r.) (Foto: Privat)
Konfliktlösung: von der „Licence to Operate“ zum „Gesellschaftsvertrag“
Im Sommer 2021 bringt die damalige Kanzlerkandidatin der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock, einen Vorschlag ins Gespräch, der einen (neuen) Weg für den Klimaschutz aufzeigen will. Baerbock propagiert einen „Pakt zwischen Industrie und Politik“ („FAZ“, 16. Juni 2021). Ein Schwerpunkt sollen Klimaschutzverträge sein. Partner dieser Kontrakte sind der Staat und die Steuerzahler auf der einen und Unternehmen auf der anderen Seite. Das Geben und Nehmen gestaltet sich so: Die Betriebe und Konzerne verpflichten sich, konkrete Minderungsziele für ihren CO2-Ausstoß zu erreichen. Entstehen dadurch Kosten, die über den Preis für die ansonsten nötigen CO2-Emissionszertifikate hinausgehen, gleicht der Staat den Fehlbetrag aus. Deshalb spricht man von „Differenzverträgen“ („Carbon Contracts for Difference“). Das CO2-Einsparen gelingt für die Unternehmen auf diese Weise kostenneutral im Vergleich zum herkömmlichen Wirtschaften. Gleichzeitig subventioniert der Staat Investitionen in Klimaschutztechnik, die sich für eine ganze Branche und schlussendlich die ganze Volkswirtschaft auszahlen und so am Ende der gesamten Gesellschaft nützen sollen. Die Laufzeit der Verträge erstreckt sich auf 15 bis 20 Jahre.
Neu ist dieser Vorschlag nicht, wenden Kritiker ein. Einige Fachleute plädieren seit langem für solche Modelle. Die Bundesregierung arbeitet inzwischen an Konzepten. Das Bundeswirtschaftsministerium hat Pilotprojekte begonnen, und die EU bereitet einen Gesetzentwurf für einen europäischen CO2-Grenzausgleich vor. Was die Kosten für den Staat betrifft, erwartet Baerbock Milliardensummen, so in einem Gespräch mit dem „Handelsblatt“ (zit. nach Hörfunk). Die Erfahrung mit der Durchsetzung internationaler Umweltschutzpflichten lehrt, dass man „Umweltqualitätsziele“ für Volkswirtschaften errechnen und bis auf die einzelnen Betriebe herunterbrechen sollte. Einfacher als individuelle Vereinbarungen wären Marktmechanismen wie der CO2-Emissionshandel. Ob sie – allein – genauso effektiv sind, ist umstritten. Sicher ist: Je konkreter und je näher am Verursacher, desto einfacher ist eine Umweltschutzpflicht zu kontrollieren, desto einfacher ist sie durchzusetzen.
Praxisfall Wohnungskonzerne: Entzug der „Licence to Operate“ in Berlin
Ziel solcher „Pakte“ ist letztlich das ökologisch verantwortliche und sozial verträgliche Management knapper und weiter schrumpfender CO2-Budgets. Dieser Gedanke lässt sich auf den Bereich Soziales übertragen. Nehmen wir die Wohnungskonzerne Vonovia (ehemals Deutsche Annington) und Deutsche Wohnen (DW) während des ersten Halbjahres 2021. Sie bieten ein Gut an, das insbesondere in Großstädten knapp, begehrt und notwendig ist. Als börsennotierte Unternehmen, beide sind zu dieser Zeit im Dax 30 gelistet, sind sie auf Gewinn und Rendite ausgerichtet, müssen also Shareholder Value liefern in Form von Kursgewinnen und Dividenden. Wie wir in „Weckruf für Kommunikatoren und ihre Chefs …“ Ende 2020 beschrieben haben, ist bei diesen Unternehmen nach ihrer Struktur (börsennotierte Aktiengesellschaft) und ihrer Reputation im Markt („Luxus“-Sanierungen, Mieterhöhungen, hohe Nebenkosten) kein Purpose oder ESG-Programm erkennbar. Wenn diese Firmen dem Risiko von Mietpreisdeckeln entgehen und die Rufe nach Verstaatlichung ihrer Wohnungsbestände zum Verstummen bringen wollen, müssen sie ihr Geschäftsmodell so erweitern, dass es einen Purpose und ein ESG-Programm umfasst. Der Wirtschaftsprofessor Manfred Schwaiger von der Ludwig-Maximilians-Universität München warnt im Juli 2021: „Keinen Purpose zu haben, wäre im Moment ein Managementversagen erster Güte“ („SZ“, 24./25. Juli 2021).
Wie geht man die Erweiterung des Geschäftsmodells um Purpose und ESG praktisch an? Das Management müsste einen Dreiklang entwickeln aus (1) Unternehmenskennzahlen, (2) einem erklärenden und schlüssigen Narrativ dazu sowie (3) einer Beschreibung zum Nutzen des Geschäftsmodells für Mitarbeiter, Gesellschaft, Umwelt und weitere Bezugsgruppen, kurz: Zahlen – Narrativ – Purpose/ESG, wobei die Reihenfolge und Gewichtung der drei „Töne“ variieren kann wie bei den Umkehrungen von Akkorden. Laura-Marie Töpfer von dem Berliner Venture-Capital-Fonds Extantia sagt, um ein attraktives Investment zu sein, müssten Gründer und ihre Förderer sicherstellen, dass ESG „is baked into firms from day one“ („Economist“, 21. Aug. 2021). Neben dem Kerngeschäft etwas Gutes, Gemeinnütziges zu tun, das keine Verbindung zum Geschäftsmodell des Unternehmens hat, wird auf Dauer nicht reichen und schon gar nicht automatisch funktionieren. Jedenfalls erhöht die strukturelle Trennung von Geschäftsmodell und Gemein-/Umweltnutzen das (finanzielle) Unternehmensrisiko. Darauf deuten erste Praxiserfahrungen hin.
Bei den Wohnungskonzernen könnte das in der Praxis so funktionieren: Sie gründen eine gemeinnützige Tochter, Stiftung oder andere Institution, die von ihnen finanziert wird. Die Töchter bieten Unterkünfte für Obdachlose und Sozialwohnungen an. Betreiber könnte im ersten Fall eine kirchliche oder gemeinnützige Organisation sein. Dazu müssten die Wohnungskonzerne einen Vertrag mit dem Betreiber schließen. Sofort kommt der Einwand, das sei ein Ablassbrief, ein Feigenblatt, mehr nicht. „Peinlich: Konzern XY erhöht die Preise für seine Mieter bis über die Schmerzgrenze und steckt die Wohnungslosen dann in Obdachlosenunterkünfte.“ Der Schuss ginge eher nach hinten los. Stimmt vermutlich, wenn es dabei bliebe.
Das Vertragsmodell als Umsetzung von Purpose und S-Programm
Damit aus dem angestrickten und in das Geschäftsmodell integrierten Purpose/ESG-Programm ein insgesamt tragfähiges Ganzes wird, müsste DW wohl die öffentliche Hand mit ins Boot holen. Hier kommen die Verträge zwischen Wirtschaft und Staat ins Spiel, die Annalena Baerbock für den Klimaschutz propagiert. Das könnte im ersten Schritt so ablaufen: Konzern X, evtl. die gemeinnützige Gesellschaft, und bspw. das Land Berlin schließen einen Vertrag über den Bau von Sozialwohnungen, die vom Land kofinanziert (gefördert) werden. Eventuell übernimmt X die Bauleitung, wenn das Unternehmen dafür Kompetenz besitzt und nicht nur Bestand aufkauft. (In der Realität will das Land Berlin den Konzernen Wohnungen aus deren Bestand abkaufen.) Die Verwaltung von Sozialwohnungen obliegt in der Regel der öffentlichen Hand bzw. einer ihrer Wohnungsverwaltungsbetriebe oder -gesellschaften. Denkbar ist aber auch, dass der private Partner das übernimmt. Solche Muster gibt es bereits für den Bau von Sozialwohnungen. Neue sind während der Arbeit an diesem Buch entstanden oder bekannt geworden.
Das übergeordnete gedankliche Konstrukt eines Gesellschaftsvertrags für das 21. Jahrhundert müsste allerdings ein paar Schritte weitergehen. Die ursprüngliche Idee stammt aus dem 17./18. Jahrhundert. Philosophen wie John Locke, Thomas Hobbes, Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau waren der Ansicht, die Menschen seien im Naturzustand frei. Um den sozialen Frieden zu sichern, verzichteten sie in einem gedachten Vertrag gegenseitig auf Gewalt und übertrügen das Gewaltmonopol einer abstrakten Herrschaft. Ein Volk, das auf einem bestimmten Gebiet lebt, unterwirft sich so einvernehmlich einer Regierung. Damit entsteht ein Staat. Weil ein Staat ohne Wirtschaft nicht funktioniert, schon gar kein moderner Sozialstaat, könnte man die Unternehmen in das Modell mit einbeziehen. Das Recht, in einem Staat einen Betrieb bis hin zum Konzern aufzubauen und mit dem Volk Geld zu verdienen, wäre dann verbunden mit der Verpflichtung, der staatlichen Gemeinschaft (ESG-konform) zu dienen, und dem Verbot, ihr zu schaden.
Gesetzlich sind die Unternehmen bereits weitgehend in diesem Sinne eingebunden. Nach dem Grundgesetz „verpflichtet“ Eigentum: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Zudem müssen Betriebe spezielle Grenzen ihrer Geschäftstätigkeit beachten wie Umweltrecht, Immissions- und Arbeitsschutz, außerdem müssen sie Steuern und Sozialabgaben zahlen. ESG kommt neuerdings hinzu. Der Gedanke, Firmen zu Partnern eines Gesellschaftsvertrags zu machen, würde die Sozialbindung zunächst einmal nur philosophisch auf eine neue Stufe heben.
Wenn es an die Vereinbarung und Umsetzung einzelner Projekte geht, drängt sich ein Vergleich mit Public Private Partnerships (PPP) auf. Traditionell handelt es sich um einen Vertrag zwischen einer staatlichen Einheit und einem oder mehreren Unternehmen, mit dem die öffentliche Hand eine Aufgabe, die nicht notwendig hoheitlich erfüllt werden muss, auf Private überträgt. Beispiele sind Vorfinanzierung, Bau und Betrieb öffentlicher Infrastruktur wie Fernstraßen, Schulen und Gefängnisse. Die Erfahrungen mit PPP waren in Deutschland allerdings nicht sehr ermutigend. Die anfängliche Euphorie um das angelsächsische Modell verebbte schnell.
Reform des Gesellschaftsvertrags und neue soziale Rollen von Frauen
Es gibt indes zu der Zeit, in der sich unsere Diskussion entwickelt, weitere Gründe, über eine Reform der Gesellschaftsverträge alten Musters nachzudenken. Die Direktorin der London School of Economics und ehemalige Weltbank-Vizepräsidentin Nemat „Minouche“ Shafik nennt als zwei wichtige Motive die veränderte Rolle der Frau im sozialen Sektor und die alternden Gesellschaften. Früher hätten sich Frauen „kostenlos um die Jungen und Alten“ gekümmert. Heute seien sie gut ausgebildet, berufstätig und wollten Gesellschaft und Staat mitgestalten. Frauen setzen dabei tendenziell andere Schwerpunkte als Männer. Um Chancengleichheit zu schaffen, müsse das Verhältnis von Beruf zu Familie neu austariert werden und es sei eine hochwertige Ganztagsbetreuung für Kinder anzubieten („FAZ“, 11. Nov. 2021). Außerdem müssten die Menschen länger arbeiten, damit das Rentensystem finanzierbar bleibe. Lebenslanges Lernen werde zur Regel. Der Staat müsse dafür einen Rahmen setzen, der soziale Sicherheit gewährleiste (Shafik, 2021; „Capital“ [Nr. 1], Jan. 2022). Unter einem „Gesellschaftsvertrag“ in diesem Sinne versteht Shafik einen „partnerschaftlichen Beitrag von Individuen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat zu einem System des kollektiven Nutzens“ – ganz im Sinne von Purpose und ESG.
In Deutschland belebt „Generation Greta“ die Debatte über neue soziale Vereinbarungen. „Fridays for Future“-Aktivistin Carla Reemtsma fragt im Gespräch mit Vertretern institutioneller Kapitalanleger und der Wissenschaft: „Muss es für Bereiche wie Wohnen oder Energieversorgung nicht politische Entscheidungen geben, die wir demokratisch in der Gesellschaft bestimmen?“ („FAZ“, 3. Nov. 2021). Während die Frauen auf Wandel durch Konsens drängen, reden Männer der Gewalt das Wort. Der Aktivist und Publizist Tadzio Müller (46)[i] befürchtet, aus dem Frust der Klimaschützer über die Untätigkeit von Politik und Wirtschaft könne eine „grüne RAF“ entstehen („Tagesspiegel“, 23. Nov. 2021). Gemeint ist eine Terrororganisation nach dem Vorbild der „Roten-Armee-Fraktion“, die in den 1970er bis 1990er Jahren gesellschaftliche Veränderungen in Deutschland mit Geiselnahmen, Bomben- und Mordanschlägen erzwingen wollte.
Zu dieser Radikalisierung kam es auch, weil die erste Generation der Terroristen das Gefühl hatte, sie werde mit berechtigten Anliegen nicht gehört. Die Klimaschutz-Aktivisten von „Ende Gelände“ billigen, um sich Gehör zu verschaffen, „zivilen Ungehorsam“, der nach dem Verständnis von Beobachtern bis zur Sachbeschädigung reicht („SZ“, 13./14./15. Aug. 2022; vgl. auch „Spiegel“, 20. Aug. 2022: „Kinder des Zorns“). Der schwedische Soziologe und Klimaschützer Andreas Malm hält es für legitim, Pipelines zu sprengen („Spiegel“, 21. Mai 2022). Dann vielleicht lieber das „weibliche“ Modell eines neuen Gesellschaftsvertrags für notwendige Gemeingüter wie Umwelt und Wohnen.
„Gesellschaftsvertrag“ angewendet auf den Berliner Wohnungsstreit
Zurück zu unserem Beispiel für die Gesellschaftsverträge neuen Typs und den Berliner Wohnungskonzernen. Mit einer Vereinbarung zum Berliner Wohnungsmarkt könnte am Beispiel Vonovia ein Dreieck entstehen aus (1) Wohnungen für Wohlhabende, deren Mietpreis sich aus dem freien Spiel der Marktkräfte ergibt, in alleiniger Regie von Vonovia, aus (2) Sozialwohnungen, die vom Land kofinanziert werden, und (3) Obdachlosenunterkünften, die von Vonovia und dem Land kofinanziert und beispielsweise von Hilfsorganisationen betrieben werden. Das Ergebnis sollte sein: Wohnen für alle, an dem sich alle Marktteilnehmer beteiligen, wenngleich unterschiedlich stark. Stadt und Vonovia könnten dazu unter anderem Beteiligungsquoten vereinbaren, Entscheidungsrechte und Szenarien, was passiert, wenn eine der Parteien ihre Verpflichtungen nicht erfüllt. Steuerliche Vorteile für Wohnungsunternehmen, die sich an Gemeinschaftsaufgaben beteiligen, könnten Wettbewerbsnachteile im Vergleich zu eigennützigen Wohnungsunternehmen ausgleichen.[ii] Viel Arbeit und Bruchstellen liegen im Detail. Aber der Aufwand könnte sich lohnen.
Alternative Szenarien bewegen sich zwischen Verstaatlichung der Vonovia-Wohnungen und einem Weiter-wie-bisher gegen stärker werdenden gesellschaftlichen Gegenwind. Große Wohnungsbestände in staatlicher Hand gab es schon mal in Deutschland: in der DDR. Nur wollte nach der Wende kaum noch jemand in die oft hässlichen Plattenbauten einziehen. Der Leerstand war hoch und ist es in Gegenden wie Halle-Neustadt bis zur Niederschrift dieses Buchs immer noch. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) plädiert trotzdem Anfang 2022 für Neubauten nach altem ostdeutschen Vorbild („taz“, 8./9. Jan. 2022; „FAS“, 9. Jan. 2022). Das ist vermutlich keine gute Idee. Andererseits birgt ein Weiter-so das Risiko, dass irgendwann das Fass überläuft und es zu Eingriffen wie einer Mietpreisbindung (einen gescheiterten, verfassungswidrigen Versuch gab es schon in Berlin) oder zur Verstaatlichung kommt.
Auf wirtschaftliche Vernunft darf man sich beim Thema Wohnungsmarktregulierung nicht verlassen. Die Politik fühlt sich von Mehrheiten in der Bevölkerung oft zu symbolischem Handeln getrieben. Wissenschaftler warnen hingegen, dass Mietpreisdeckel zu viele unbeabsichtigte Folgen haben („too many unintended consequences“, „Economist“, 27. Aug. 2022): Der Bau von Mietwohnungen stagniert, bestehende werden in Eigentumswohnungen umgewandelt, das Gesamtangebot an Mietwohnungen schrumpft, die Mieten für Luxuswohnungen steigen weiter, den größten finanziellen Vorteil aus den Mietendeckeln haben schließlich die Wohlhabenden. Der „Economist“ beruft sich dabei auf eine Studie der Universität Stanford aus dem Jahr 2019 über den Wohnungsmarkt in San Francisco sowie auf ein „working paper“ von Kenneth Ahern und Marco Giacoletti von der University of Southern California über den Wohnungsmarkt in St. Paul, Minnesota. Trotz dieser Erkenntnisse gibt es eine Tendenz in vielen Bundesstaaten der USA, Mietpreise zu begrenzen.
Genügend Stimmen: Volksbegehren zur Vergesellschaftung wird eingeleitet
Schauen wir uns die gesellschaftliche Debatte in Berlin chronologisch an. Am 1. Juli 2021 hat die Berliner Bevölkerung der Landesregierung und den Wohnungskonzernen die ersten Weichenstellungen abgenommen. Wie die Landeswahlleitung an diesem Tag bekannt gibt, hat ein Begehren auf einen Volksentscheid zur Frage der Enteignung genügend Unterschriften erhalten („taz“, 21. Juli 2021). Das bedeutet: Die Berliner haben am 26. September 2021 – zusammen mit der Bundestagswahl – darüber abgestimmt, ob Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen, das sind insgesamt 15 in Berlin („FAS“, 5. Sept. 2021), per Gesetz vergesellschaftet werden sollen („Tagesspiegel“, 2. Juli 2021).
Dabei sollte man wissen, dass Vergesellschaftung (Sozialisierung) und Enteignung im Recht nicht dasselbe sind. Enteignung meint „die Beschaffung oder sonstige Inanspruchnahme eines sonst nicht für ein notwendiges öffentliches Interesse erwerbbaren privaten Rechtes“. Die Vergesellschaftung zielt dagegen „auf eine wirtschaftsverfassungsrechtliche, im Fall des Art. 15 GG auf eine staatlich organisierte ‚gemeinwirtschaftliche‘ Umformung des produktiven Eigentums. Die äußerlich einer Enteignung ähnelnde Wegnahme oder Einschränkung des privaten Eigentums ist hier nur eine Technik im Dienste des weitergreifenden Gestaltungswillens für die Einrichtung einer das kapitalistische Eigentum und das privatwirtschaftliche Erwerbsprinzip überwindenden Wirtschaftsverfassung des vergesellschafteten Arbeits- und Produktionsprozesses“. Es geht also nicht nur um einen Eigentums-, sondern auch um einen Systemwechsel im Berliner Wohnungsmarkt.
Nach dem Wortlaut des Begehrens sollen die Berliner Bürger den Senat auffordern, „alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind“ („Tagesspiegel“, 11. Sept. 2021). Konkretes Ziel der Initiative ist es, 226.000 bis 240.000 Wohnungen in kommunales Eigentum zu überführen, gehalten von einer Anstalt des öffentlichen Rechts, als Sozialwohnungen zu vermieten und damit günstige Wohnungen und soziale Vielfalt auch in teuren Innenstadtlagen zu erhalten. Vorbild ist Österreichs Hauptstadt Wien. Insgesamt gibt es rund zwei Millionen Mietwohnungen in Berlin („Tagesspiegel“, 11. Sept. 2021).
Rechtlich zulässig wäre eine Vergesellschaftung nur unter der Voraussetzung, dass die enteignende Körperschaft, hier das Land Berlin, die Konzerne entschädigt. Artikel 15 Grundgesetz (GG) sagt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 […]“, d. h.: „Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung [diskutiert wird über eine Spanne von einem bis 36 Milliarden Euro, Anm. d. Verf.] steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“
Der Rechtswissenschaftler Christian Waldhoff, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität, ist allerdings der Auffassung, dass Berlin das Verfahren nach Artikel 15 GG gar nicht nutzen kann, weil die Berliner Landesverfassung keine Vergesellschaftung vorsieht („Tagesspiegel“, 11. Sept. 2021). „Bundesrecht bricht [zwar, Anm. d. Verf.] Landesrecht“ (Artikel 31 GG), gibt aber nach Waldhoffs Auffassung offenbar keine Eingriffsrechte in Rechtspositionen der Bürger, die das Landesrecht nicht schon vorsieht. Der Weg ist also unsicher; das Verfahren wird vermutlich lange Auseinandersetzungen vor Gericht provozieren.
Rechtlich bindend wäre das Ergebnis des Volksbegehrens laut Berliner Landesverfassung ohnehin nicht. Die Abgeordneten können auch nach einem Votum weiterhin frei entscheiden. Aber wie könnte man den Quell aller Staatsgewalt (Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 GG), den Souverän, erst zu einer derart schwerwiegenden Entscheidung befragen, um danach seinen Willen zu ignorieren? Das würde anmuten wie eine Entmündigung der Bürger.
Andererseits: Bei der Befragung 2017, ob der Berliner Flughafen Tegel weiterbetrieben werden soll, setzte sich die rot-rot-grüne Senatsmehrheit auch über die Bevölkerungsmehrheit hinweg. Die – damals noch – SPD-Spitzenkandidatin für den Posten der Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, ließ laut „FAZ“ schon „durchblicken, dass sie dieses Vorhaben [die Enteignung, Anm. d. Verf.] nicht verfolgen würde“ („FAZ“, 10. Sept. 2021). Die Berliner könnten in diesem Fall einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf zur Volksabstimmung stellen. Dieser würde, sofern er eine Mehrheit bekommt, unmittelbar Gesetzeskraft erlangen („FAZ“, 10. Sept. 2021; „taz“, 22. Sept. 2021). Die letzte Eskalationsstufe wäre ein Volksentscheid zur Abwahl des Senats. Von den politischen Parteien unterstützt nur „Die Linke“ die Vergesellschaftung („taz“, 22. Sept. 2021).
Wohnungskonzerne schärfen S-Profil mit „Härtefallmanagement“
Anfang Juli 2021 gehen die drei Wohnungskonzerne tatsächlich einen Schritt auf verschiedene Bezugsgruppen zu, wie es die theoretischen Erwägungen am Anfang dieses Kapitels nahelegen. Sie verabschieden einen Leitfaden für das Härtefallmanagement bei Modernisierungen. Damit stärken sie die Elemente Soziales und Umwelt in ihrem Profil und in ihrem Geschäftsmodell („FAZ“, 7. Juli 2021). Der Hintergrund ist: Um das Klima zu schützen, müssen Wohnungen so schnell wie möglich und bestmöglich isoliert sowie mit effizientester Heiz- und Warmwassertechnik ausgerüstet werden. Die Kosten legen Vermieter üblicherweise auf die Mieter um. Die daraus folgenden Mieterhöhungen könnten sich aber nicht alle leisten.
An dieser Stelle setzt das Härtefallmanagement ein, das Vonovia, LEG und Vivawest zusammen mit der Interessenvertretung der Mieter entwickelt haben. Vor Beginn der Modernisierung prüfen die Vermieter anhand von Einkommensnachweisen, ob alle Mieter die Folgekosten der geplanten Modernisierung tragen können. Falls nicht, beraten die Vermieter ihre Mieter zu Sozialleistungen oder mindern die Miete. Ein Umzug in eine günstigere Wohnung soll die absolute Notlösung sein. Ein weiterer Bestandteil des „Zukunfts- und Sozialpakts Wohnen“ ist ein freiwilliger Mietendeckel: „Wir werden die Mietentwicklung für unsere Berliner Mieterinnen und Mieter bis 2026 begrenzen“, bestätigt Vonovia-Vorstandschef Rolf Buch Ende Juli unisono mit Deutsche Wohnen. Auch das „Angebot an das Land Berlin, von uns Wohnungen zu kaufen, stehe weiterhin („Tagesspiegel“, 27. Juli 2021).
Das Härtefallmanagement von Vonovia, LEG und Vivawest federt Kritik ab, wie sie von der Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor erhoben wird. In ihrem Buch „Der Code des Kapitals“ beklagt die Professorin der New Yorker Columbia-Universität, Reiche würden mit Hilfe von Anwälten die Gestaltungsspielräume des Privatrechts nutzen (oder: missbrauchen), um ihren Wohlstand zu Lasten der Armen zu mehren. Das Aufräumen der Schäden überließen sie dem Sozialstaat und damit der Allgemeinheit. In einer Podiumsdiskussion mit ihrem Berufskollegen Hans-Bernd Schäfer plädiert Pistor dafür, „die Flexibilität des Privatrechts zurückzuschrauben, um die Steuerungsfähigkeit staatlicher Systeme wieder zu verbessern“. Schäfer ist spezialisiert auf die ökonomische Analyse des Rechts und lehrt an der Bucerius Law School in Hamburg. Der Autor eines Berichts über das Streitgespräch, Wolfgang Krischke, schreibt pointiert vom „Staat als Reparaturbetrieb des Kapitalismus“ („FAZ“, 9. Juni 2021).
Ob die Bemühungen um das Härtefallmanagement allerdings reichen werden, um das „S“ in den Augen der Berliner Bevölkerung angemessen zu stärken? Vermutlich nicht. Dafür ist das Bild, das die professionellen Vermieter abgeben, zu reich an Schatten. Zur selben Zeit nämlich, in der Berlin über eine Verstaatlichung privater Wohnungsbestände diskutiert, verhandeln Deutsche Wohnen und Vonovia über eine Fusion. Deutschlands größter gewinnorientierter Wohnungskonzern (Vonovia) mit Sitz in Bochum will den Berliner Marktführer (Deutsche Wohnen) übernehmen („SZ“, „FAZ“, jew. 27. Juli 2021). Das soll im Wege eines Anteilskaufs (Share Deal) geschehen. Dies wiederum bedeutet, dass Vonovia eine Mehrheit des aktienrechtlichen Grundkapitals der Deutsche Wohnen AG erwirbt – im Gegensatz zum Kauf von Vermögensgegenständen (Asset Deal), bei dem Vonovia die Immobilien und sonstigen Wertgegenstände von Deutsche Wohnen einzeln übernommen hätte.
Stein des öffentlichen Anstoßes ist: Bei einem Anteilskauf spart sich Vonovia Grunderwerbsteuer in Höhe von einer Milliarde Euro („taz“, 21. Juli 2021), sofern der Konzern weniger als 90 Prozent der Anteile erwirbt. Die Immobilien wechseln dann nach gesetzlicher Festlegung nicht (komplett) den Eigentümer („FAZ“, „SZ“, jew. 3. Aug. 2021). Die Abwägung zwischen den beiden Transaktionsformen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen ist tägliches Brot im Immobiliengeschäft. Im konkreten Fall kommt indes noch ein ausgetüfteltes Steuersparmodell hinzu, eine sogenannte Drittbankvereinbarung. Wenn Vonovia auf ihr öffentliches Angebot über die Börse mehr als 90 Prozent der Aktien angedient bekommt und dann kaufen muss, springt eine Bank als Käufer der Prozente ein, die über 90 hinausgehen. Diese Gestaltung dient allem Anschein nach allein dazu, die Grunderwerbsteuer zu sparen. Die öffentliche Erregung darüber hält sich in Grenzen. Für breite Empörung ist das Thema zu kompliziert.
Vertragsmodell im Entstehen: Politik reagiert mit Gegenvorschlag
Ende Juli 2021 meldet sich die Politik mit einem Vorschlag, wie das „S“ konkret ausgestaltet werden könnte. Die Berliner „Grünen“ legen einen Entwurf vor für eine Vereinbarung zwischen Senat und Wohnungswirtschaft („Tagesspiegel“, 29. Juli 2021: „Abschirmen und bauen“ und „Grüne wollen mit Wohnungskonzernen kooperieren“; „FAZ“, 29. Juli 2021). Federführend ist die Spitzenkandidatin für die Wahl zum Abgeordnetenhaus, Bettina Jarasch. Ihr Ziel ist es, jede zweite Wohnung in Berlin zu „gemeinwohlorientierten“ Konditionen anzubieten. Die Vermieter sollen dazu beitragen, indem sie einen Teil ihrer Bestände bestimmten Regeln unterwerfen: (1) Mieterhöhungsstopp für fünf Jahre, (2) Wiedervermietung „sozial“ ausrichten (nur Inflationsausgleich), (3) keine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, (4) Recht auf Tausch der Wohnung innerhalb des Bestands, (5) „faire“ Umlage der Kosten energetischer Modernisierung (Obergrenze) und (6) dreijähriger Verzicht auf Ausschüttung von Dividenden, stattdessen Investition der Überschüsse in Neubau und Instandsetzung.
Im Gegenzug beteiligt sich das Land Berlin – im Fall eines Wahlsiegs und einer Regierungsbeteiligung der Grünen, versteht sich –, indem es (1) Grundstücke mit Erbbaurecht zu einem vergünstigten Erbbauzins bereitstellt, (2) Zuschüsse gibt, (3) Bürgschaften übernimmt und (4) ersten Zugriff auf Wohnungen gibt, die das Land über sein Vorkaufsrecht von Dritten erwirbt. Ein bisschen Erpressung ist dabei auch im Spiel. Als quasi fünftes Zugeständnis der öffentlichen Hand schwingt der Verzicht auf Enteignungen mit. Jarasch nennt ihren Vorschlag für den „Pakt“ einen „neuen politischen Weg“, um schnell und rechtssicher an mehr Wohnraum zu kommen („FAZ“, 29. Aug. 2021). In dieser Momentaufnahme aus Berlin zeigt sich, wie die im Grundgesetz festgeschriebene Sozialbindung des Eigentums austariert werden kann (s. oben, Artikel 14 II: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“).
Nach Ansicht des Philosophen Daniel Loick, Associate Professor für politische Philosophie in Amsterdam, steckt in dem Berliner Volksbegehren „viel Potenzial“ für gesellschaftliche Veränderung, und zwar sowohl unter dem Aspekt der Vergesellschaftung von Eigentum als auch unter dem Aspekt der kommunalen demokratischen Selbstverwaltung („Zeit“, 12. Aug. 2021). Der Volksentscheid schaffe „zur alten Frontstellung ‚Privat oder Staat‘ eine dritte Alternative, nämlich die gemeinsame, zivilgesellschaftliche Regierung des Gemeinsamen“, sagt er im Gespräch mit der „Zeit“ (ebd., 12. Aug. 2021). Der Interviewer Martin Eimermacher verweist zudem in einer Frage auf „ökonomische Spitzenintellektuelle wie Mariana Mazzucato“, die „das Prinzip ‚Privat vor Staat‘ für ein überkommenes Relikt der Vergangenheit“ halten (ebd., 12. Aug. 2021).
Unternehmen könnten von jungen Aktivisten und Lobbyisten lernen
Die Berliner Enteignungsinitiative hat viel erreicht. Ein Enteignungsverfahren nach Artikel 15 Grundgesetz wäre eine Premiere, von der viele glaubten, dass sie so etwas in Deutschland niemals erleben würden. Zudem zeigt die demokratietheoretische und die juristische Diskussion über das Verfahren, dass zumindest gedanklich viel in Bewegung geraten ist.
Die Unternehmensberaterin Kathrin Stürmer, die über „Lobbyismus im digitalen Zeitalter“ promoviert hat, benennt Faktoren, weshalb die heutigen Aktivisten stärkere Interessenvertreter sind als die klassischen (Wirtschafts-)Verbände, Gewerkschaften oder NGOs wie Greenpeace, World Wide Fund For Nature, Attac usw. („FAZ“, 29. Juli 2021). Ihrer Ansicht nach sind die modernen Lobbyisten mit dem Paradebeispiel „Fridays for Future“ (FFF) (1) einander in persönlicher Identität verbunden (sie verfolgen nicht nur ein gemeinsames Ziel, sondern sind Schwestern und Brüder in der Sache), (2) sie nutzen die Öffentlichkeit stärker als bisherige Organisationen und sind somit in ihren Zielen transparent, (3) sie stellen den Gemeinwohlaspekt in den Vordergrund und (4) sie nutzen alle medialen Kanäle für ihre Zwecke, besonders stark die digitalen. Sie setzen also weniger auf persönliche Verbindungen und Zugang zu Entscheidungsträgern, sondern mobilisieren politische Mehrheiten über die Öffentlichkeit. Außerdem rufen sie die Justiz an, die dritte Gewalt im Staate, wo es Erfolg verspricht.
Diese Entwicklung bei Aktivisten (und Lobbyisten) sollte Unternehmen dazu veranlassen, ihre wichtigsten Bezugsgruppen ebenfalls in Netzwerken um sich herum zu organisieren. Wenn das gelingt, verfügen sie über eigenständige Kommunikationskanäle, die es ihnen ermöglichen, eine Attacke jederzeit im unmittelbaren Dialog mit den Adressaten der Botschaften zu parieren und die Folgen der Attacke abzumildern oder zu neutralisieren. Ebenso schützt die gut strukturierte, organisierte Gemeinschaft gegen Eingriffe eines autoritären Staates in die Medienberichterstattung über ein Unternehmen. Eine lebendige Vernetzung mit den wesentlichen Bezugsgruppen ist eine gute Vorbeugung gegen Schäden, die Unternehmen infolge von Krisen erleiden können. Wir werden diese Empfehlung später wiederholen, gestützt auf weitere Argumente.
Vonovia wirbt mit „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“
Zurück zum Geschehen in Berlin: Im Zuge des dritten Versuchs, den Konkurrenten Deutsche Wohnen zu übernehmen, gelobt Vonovia finanzielle Bescheidenheit. Der Konzern will seine Mieter, Politik und Gesellschaft wohlwollend stimmen und Vertrauen gewinnen, das lässt sich erkennen. Laut dem „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“ sollen in den kommenden drei Jahren (2022 bis 2024) die Mieten um höchstens ein Prozent pro Jahr steigen. In den beiden Folgejahren (2025/26) bildet die Inflationsrate die Obergrenze. Kosten für energetische Sanierung werden nicht voll auf die Mieter umgelegt. Ein symbolträchtiger Akt von Vonovia ist auch der Verzicht auf Nachzahlung von Mieten, die zu wenig gezahlt wurden, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner „Mietendeckel“ für nichtig erklärt hatte.
Die Politik reagiert trotz der freiwilligen Zugeständnisse mit Regulierung: Eine Rechtsverordnung der rot-rot-grünen Regierung erklärt das gesamte Stadtgebiet mit Wirkung vom 3. August 2021 zum „angespannten Wohnungsmarkt“. Hauseigentümer benötigen nun in allen Stadtteilen eine Genehmigung, wenn sie Miet- in Eigentumswohnungen umwandeln wollen. Vorher galt dieser Vorbehalt nur in sogenannten Milieuschutzgebieten. Rechtsgrundlage für die Verordnung ist eine Änderung im Bundesbaugesetz von Mitte Juni 2021, die bis Ende 2025 gilt („Tagesspiegel“, 4. Aug. 2021). Die stärkere Sozialbindung ist also nicht notwendig eine rein Berliner Angelegenheit.
Die Parteien Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke ziehen überdies mit dem Konzept einer „Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit“ in den Wahlkampf 2021. Konkret bedeutet das: Der Staat bietet gewerblichen Vermietern finanzielle Förderung und Steuerersparnis. Im Gegenzug gewährt der Vermieter seinen Mietern langjährige Mietpreis- und Belegungsbindungen. Andere Stimmen plädieren für „Gemeinwohlwohnungen“. Die Formel lautet hier: Wenn der Vermieter den Mietzins 15 Prozent unter dem Mietspiegel hält, sind die Erträge aus der Wohnungsvermietung steuerfrei.
S-Symbol: Deutsche Wohnen rettet Buchladen vor gierigem Investor
Deutsche Wohnen scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Der Konzern redet nicht nur mit seinem gesellschaftlichen Umfeld, er schreitet sogar zur nachbarschaftsfreundlichen Tat. Im August 2021 steht der Berliner Buchladen „Kisch & Co.“ vor dem Aus. Seit 24 Jahren verkauft die „Kiezinstitution“ in Kreuzberg Lesestoff. Nun will der Vermieter den Gewerbemietvertrag nicht mehr verlängern. Hintergrund ist ein Eigentümerwechsel: Die Immobilie ist an eine Vermögensverwaltungsgesellschaft mit Sitz in Luxemburg verkauft worden, die „Victoria Immo Properties V S.à r.l.“, die offenbar mehr Geld mit der Ladenfläche verdienen will. (Der Unternehmenssitz weckt den Verdacht, dass der Vermögensverwalter nicht nur seine Einnahmen maximiert, sondern auch seine Steuern minimiert.) In dieser Notlage erscheint Deutsche Wohnen als weißer Ritter und bietet „Kisch & Co.“ ein Ausweichobjekt aus ihrem Bestand an: etwas kleiner, dafür deutlich günstiger als die alte Bleibe. Der „Tagesspiegel“ lästert über „Bookwashing“ in Anlehnung an „Greenwashing“, das Vortäuschen ökologisch verantwortlichen Handelns. Doch so böse sollte man vielleicht nicht urteilen, wenn ein 19 Milliarden Euro schwerer Konzern[iii] einem kleinen Buchladen die Hand reicht.
Die Geschichte hätte vielleicht einen versöhnlichen Verlauf nehmen können. Stattdessen liefert die „Victoria Immo Properties“ ein Beispiel dafür, wie man den Ausgleich von Interessen in der Öffentlichkeit auf keinen Fall angehen sollte. Plumpe Versuche der Schönfärberei illustrieren, warum Zweige der Immobilienbranche zu Recht einen zwielichtigen Ruf besitzen. Laut „SZ“ unterbreitete die Neuvermieterin aus Luxemburg ihrer Mieterin „Kisch & Co.“ einen Mietvertragszusatz, wonach Victoria einen Rabatt bei der Miete gewährt, wenn Kisch sich im Gegenzug „verpflichtet, über das vom Vermieter mit diesem Nachtrag manifeste Entgegenkommen durch einen Beitrag bei Youtube und Mitteilung gegenüber [hier folgt eine ziemlich lange Liste mit Namen von Lokalpolitikern und Journalisten, Anm. d. Verf.] entsprechend positiv zu berichten. Der Mieter wird den Beitrag und die Mitteilungen mit dem Vermieter vorher abstimmen“ („SZ“, 25. Aug. 2021). Trotz dieses Wunschs nach Öffentlichkeit sollte sich Kisch laut dem Mietvertragszusatz verpflichten, die Anonymität des Vermieters zu wahren. Ein bizarrer Erpressungsversuch. Das Ergebnis für Auftraggeber und PR-Berater war nicht das angestrebte, aber dafür das verdiente: Aufwändige Recherchen bringen ans Licht, dass die natürlichen Personen, die sich hinter den internationalen Stellvertreterkonstruktionen von Victoria verbergen, Erben des schwedischen Tetra-Pak-Gründers Ruben Rausing sind. Sie wollten als Investoren eigentlich anonym bleiben.
Im September äußert sich Vonovia-Chef Rolf Buch im Sinne eines neuen Konsenses zwischen Wohnungskonzernen und öffentlicher Hand. Im Interview mit der „Zeit“ wird er angesprochen auf Anschläge von Aktivisten, die regelmäßig Servicefahrzeuge von Vonovia in Brand setzen. „Allein an einem Tag im August waren es fünf Stück“, sagt er: „Wir müssen die Lage befrieden. Gemeinsam können wir ein besserer Partner für die Berliner Bürgerinnen und Bürger und auch für die Stadt sein. Einem Unternehmen allein kann es nicht gelingen, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen“ („Zeit“, 2. Sept. 2021). Als Beispiele für erfolgreiches Zusammenwirken gegen Wohnungsnot in gesellschaftlicher Verantwortung nennt Buch Hamburg und Nordrhein-Westfalen, ausgenommen Düsseldorf und Köln.
Möglicherweise bieten die beiden Bundesländer Inspirationen für Wohnungsgesellschaften und andere kommerzielle Anbieter zu Leistungen der Daseinsvorsorge (Grundversorgung), wie man sein Geschäftsmodell in diesem sensiblen Bereich um Purpose und ESG erweitert. Fast jedes Ergebnis wäre besser als ein Enteignungsverfahren. Einige Rechtswissenschaftler sehen das anders. Sie halten Vergesellschaftung für einen geeigneten Weg, Eigentum und Freiheit zu verbinden: Wo das Privateigentum die Freiheit des Einzelnen sei, da sei sinngemäß das vergesellschaftete Eigentum die Freiheit der Vielen („SZ“, 25./26. Sept. 2021). Es wäre riskant, die Enteignungsinitiative als einen isolierten Klub sozialromantischer Spinner abzutun.
Berliner Streitgespräch erzählt von Fronten statt von Lösungen
Kurz vor den Landtagswahlen in Berlin und der Abstimmung über das Volksbegehren streitet die Berliner Spitzenkandidatin der Grünen Bettina Jarasch öffentlich mit dem Berliner Bauunternehmer Christoph Gröner („Zeit“, 16. Sept. 2021). Gröners Unternehmen, die Gröner Group, hält rund 300 Mietwohnungen in Berlin. Einige Äußerungen Jaraschs machen deutlich, wie Vertragsverhandlungen zwischen Staat und Unternehmen in Zukunft aussehen könnten. „Wir wollen ihn [den Volksentscheid, Anm. d. Verf.] als Druckmittel nutzen“, erklärt Jarasch, „um einen Pakt mit den Wohnungsunternehmen zu erreichen, der ihnen einiges abverlangt beim Mieterschutz. Erst wenn dieser Pakt zustande kommt, nehme ich die Vergesellschaftung vom Tisch. Sie kann nur das letzte Mittel sein.“ Ziel sei es, „das Primat der Politik“ wiederzugewinnen. Das letzte Wort dürfte indes die Justiz haben, namentlich das Bundesverfassungsgericht. Nach Ansicht des „Economist“ stehen die Chancen für die Immobiliengesellschaften dort gut. „[They, Anm. d. Verf.] are likely to prevail in the federal constitutional court“, erwartet das britische Wirtschaftsmagazin, ohne seine Prognose zu begründen („Economist“, 9. Okt. 2021).
Das Streitgespräch erzählt – teils ausgesprochen, teils unausgesprochen – von verhärteten Fronten. Hilfreicher könnte es für beide Seiten sein, Lösungen in den Mittelpunkt zu stellen. Warum nicht Modelle diskutieren, die in anderen Ländern zum Erfolg geführt haben? In Singapur besitzt der Staat nahezu ein Monopol für die Bereitstellung von Baugrund, und zwar seit den 1960er Jahren. Zudem ist die öffentliche Hand als Bauherrin aktiv. Das Ergebnis: 80 Prozent der Singapurer leben in staatlichen Wohnungen, die Mieten sind niedrig. Der russische Staat baut seit dem Jahr 2000 im großen Stil Wohnungen. Die Zahl der öffentlichen Neubauten pro Jahr hat sich seitdem verdreifacht („FAZ“, 5. Jan. 2022). Das hätten Argumente für Jarasch sein können. In Israel erhalten Eigentümer von Immobilien Bauentwicklungsrechte für ihre Liegenschaften, die sie an Investoren verkaufen können. So können sie Wohnraum schaffen (lassen), ohne eigenes Kapital einsetzen zu müssen. Das wäre vielleicht ein Punkt für Gröner gewesen. Außerdem gibt es in Tokio, Sydney und São Paulo erfolgreiche städtische Bauinitiativen, von denen man sich möglicherweise etwas abgucken könnte („Economist“, 11. Sept. 2021: „How the YIMBYs can win“). Was im internationalen Vergleich laut Langzeitstudien nicht funktioniert, sind Mietendeckel: in Berlin genauso wenig wie in der nordspanischen Region Katalonien („Economist“, 25. Sept. 2021). In Deutschland schlagen Professoren „Neue [ESG-konforme, Anm. d. Verf.] Wege für die Wohnungspolitik“ vor. Es gibt demnach sowohl erprobte Ansätze für sicherheitsorientierte Politiker als auch neu erdachte, innovative für die wagemutigen.
Unterdessen kauft das Land Berlin 14.750 Mietwohnungen von Deutsche Wohnen und Vonovia zum Preis von 2,46 Milliarden Euro. Laut Finanzsenat entspricht dieser Betrag dem Ertragswert der Immobilien minus Sanierungsbedarf („FAZ“, 18. Sept. 2021). Die Rechnung darf als Vorschau auf die Kalkulation der Entschädigung gesehen werden, die bei einer Vergesellschaftung von Wohnungen zu zahlen wäre. Begleichen müssen die Rechnung drei städtische Wohnungsunternehmen: Berlinovo, Degewo und Howoge. Sie sollen die Verwaltung der Immobilien übernehmen („Tagesspiegel“, 18. Sept. 2021). Neben den Mietwohnungen erwirbt das Land Berlin auch 450 Gewerbeimmobilien („FAZ“, 18. Sept. 2021). Der „Economist“ sieht in dem Deal eine Art Ablasshandel. „They [Deutsche Wohnen, Anm. d. Verf.] portrayed it as a friendly gesture. But it was also a thinly veiled attempt to stop being stripped of the keys to their own homes“ (ebd., 25. Sept. 2021).
Berliner stimmen für Enteignung: zu spät für Vertragslösung?
Die Entscheidung der Berliner Bevölkerung am 26. September 2021 fällt deutlich pro Vergesellschaftung aus: 56,4 Prozent stimmen dafür, 39 Prozent dagegen („FAZ“, 28. Sept. 2021). In einer ersten Stellungnahme sagt die Berliner SPD-Spitzenkandidatin und Wahlsiegerin der Senatswahl, Franziska Giffey: „Es muss jetzt auch die Erarbeitung eines solchen Gesetzentwurfs erfolgen.“[iv] Vor der Abstimmung hatte sich nur die Partei „Die Linke“ für eine Vergesellschaftung ausgesprochen („FAZ“, 28. Sept. 2021). Laut dem Beschluss soll der nach der Wahl neu gebildete Senat nun „alle Maßnahmen ergreifen, um auf Grundlage von Artikel 15 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen zu erlassen“, betont noch einmal der Mitinitiator des Entscheids, Rouzbeh Taheri („Tagesspiegel“, 29. Sept. 2021). Auf einen Pakt, einen „Gesellschaftsvertrag“ mit den Wohnungskonzernen, will sich die Initiative nach ihrem Sieg nicht mehr einlassen (a. a. O.).
Die Immobilienlobby war gewarnt. Taheri beschreibt die Entwicklung zum Sieg so: „Erst haben sie uns ignoriert, dann unterschätzt, nun sind sie immer einen Schritt hinter uns.“ Der Chef von Haus & Grund, dem Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer, gesteht das ein. „Ich habe das nicht erwartet“, sagt Kai Warnecke mit Bezug auf das Votum für die Berliner Initiative („Focus“ [Nr. 40], 2. Okt. 2021). Auch wenn Taheris Bilanz stimmt, ob seine Schlussfolgerungen und Prophezeiungen auch zutreffen, muss sich erst noch zeigen. „Wenn wir Erfolg haben, wird das weltweit Nachahmer finden“, meint er („taz“, 22. Sept. 2021). Was genau bedeutet Erfolg und für wen? Unternehmen sollten daraus jedenfalls lernen, was ihnen nicht passieren darf: dass sie von gesellschaftlichen Bewegungen überrascht und in die Defensive gedrängt werden.
In Hamburg gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits einen „Fast Follower“ in Gestalt von „Hamburg – wann enteignen wir?“. Die Startbedingungen dort sind jedoch anders, und die Erfolgsaussichten sind schlechter („taz“, 1 Okt. 2021).[v] Zudem liest man Berichte von Hausgemeinschaften, die sich erfolgreich gegen den Kauf des von ihnen bewohnten Mietshauses durch einen Luxusimmobilieninvestor wehren („SZ“, 30./31. Okt. 2021). Konstantin Lüttger von dem Immobiliendienstleister CBRE wiederum berichtet aus seinen Kreisen, die Enteignungsinitiative in Berlin werde von internationalen Investoren kaum ernst genommen. Der Berliner Markt sei zu attraktiv, als dass sich die Branche abschrecken lasse („FAZ“, 28. Sept. 2021).
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Gewerbliche Vermieter und andere Unternehmen mit schwachem Purpose und schwachem „S“ sollten mit wachsendem Widerstand gegen ihr Geschäftsmodell rechnen, auch wenn er aktuell noch nicht spürbar ist. Beobachter der Generation Z attestieren den jungen Leuten einen „Wunsch […] nach Struktur und Sicherheit auch im Bereich der sozialen Gerechtigkeit oder der Gleichberechtigung“. Der Berliner Volksentscheid habe „besonders bei jungen Menschen Anklang“ gefunden, dies sei „nur ein besonders sichtbarer Ausschlag. Überall wird nach mehr Regeln gerufen“ („Tagesspiegel“, 14. Nov. 2021).
Vonovia übernimmt Deutsche Wohnen: neuer Anlauf für Vertragslösung
Ende September 2021 ist die Übernahme von Deutsche Wohnen durch Vonovia in trockenen Tüchern. Ein Deal der Superlative. Das Volumen von 24,8 Milliarden Euro bildet den Spitzenwert für M&A-Transaktionen mit deutscher Beteiligung im Jahr 2021 („FAZ“, 5. Okt. 2021). Die mit der Übernahme neu firmierte Vonovia SE ist nun Europas größter Immobilienkonzern („FAZ“, 28. Sept. u. 8. Okt. 2021). Wichtige Eckdaten sind 570.000 Wohnungen im Wert von mehr als 80 Milliarden Euro. Für Deutschland lautet ein Ziel, man wolle größter privater Entwickler von Wohnungen werden.
Kaum eine Woche nach der Fusion nimmt das Modell eines „Gesellschaftsvertrags“ zwischen Vonovia und den Berlinern weiter Konturen an. Der Wohnungsriese versucht mit folgendem Angebot die Wogen zu glätten: Mieterhöhungen für die 157.000 Berliner Wohnungen des Konzerns werden bis 2026 begrenzt. In den kommenden drei Jahren, 2022 bis 2024, steigen die Mieten um höchstens ein Prozent jährlich. Danach orientieren sich Erhöhungen am Anstieg der Preise, sprich an der Inflationsrate. Die Kosten für Modernisierungen werden bis maximal zwei Euro pro Quadratmeter auf die Mieter umgelegt. Zudem will der Konzern 13.000 neue Wohnungen in der Stadt errichten, von denen ein Drittel öffentlich geförderte Sozialwohnungen sein sollen, also für Personen mit geringem Einkommen und Wohnberechtigungsschein („Tagesspiegel“, 8. Okt. 2021). „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“ lautet der Titel des Verzichtsprogramms. Als unausgesprochene Gegenleistung erwartet Vonovia die Akzeptanz seines Geschäftsmodells in Berlin durch Öffentlichkeit und Gesellschaft, die „Licence to Operate“ (LTO). Eine sicherlich willkommene Beigabe wäre ein Verzicht auf die Vergesellschaftung der Berliner Wohnungen. Ein Vorschlag für einen solchen „Handel“ war abzusehen. Was hätte der Wohnungskonzern anderes anbieten können, was hätte er sonst als wichtigstes Anliegen fordern sollen?
Reputations-Spagat: gutes S-Profil, aber hohe Gewinne mit Wohnungen
Ein Glück oder Verdienst für Vonovia ist folgendes: Im Vergleich zur früheren Wettbewerberin Deutsche Wohnen besitzt man eine höhere Glaubwürdigkeit und eine stärkere ESG-Reputation. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel, ein Landesgesetz, für verfassungswidrig und damit für (rückwirkend von Anfang an) nichtig erklärt hatte, forderte Deutsche Wohnen die zu wenig gezahlten Mieten nach. Vonovia indes zeigte sich kulant und verzichtete darauf. Während Deutsche Wohnen gegen den Mietspiegel anklagte und hartnäckig höhere Mieten vor Gericht durchzusetzen versuchte, hielt sich Vonovia an die Richtwerte („Tagesspiegel“, 8. Okt. 2021). Das stärkere Profil im Bereich „S“ dürfte sich für Vonovia – vorerst – ausgezahlt haben, auch wenn der monetäre Wert der besseren Reputation und der quantitative Vorsprung vor Wettbewerbern in diesem konkreten Fall schwer zu bestimmen sind.
Die Gegner bleiben gleichwohl angriffslustig. Vonovia muss stetig Strategien bereithalten, um dem Pranger zu entschlüpfen. Ein Angriff kommt Anfang November 2021 vom Mieterbund. Über acht Seiten erhebt der Verein Vorwürfe wie: Bei den börsennotierten Vermietern steigen die Mieten stärker als auf dem Gesamtmarkt; Unterhalt, Modernisierung und laufende Kosten werden intransparent und systematisch falsch abgerechnet; konzerneigene Dienstleistungstöchter treiben die (Neben-)Kosten in die Höhe. Laut dem Präsidenten des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten, sind die Wohnungskonzerne „primär ihren Aktionären und deren Gewinnerwartungen verpflichtet“ („SZ“, 5. Nov. 2021). Das könnte man übersetzen in den Vorwurf, Shareholder Value gehe vor Stakeholder Value, ganz nach der Vorstellung aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Oder plakativer: Die Wohnungskonzerne, wenn sie sich denn überhaupt mit ESG zu profilieren versuchen, betrieben „ESG-Washing“.
Das Geschäftsergebnis von Vonovia 2021 ist eine Einladung an ihre Gegner, eine Umverteilung von Überschüssen zu fordern. Der operative Gewinn wuchs um 24 Prozent auf 1,67 Milliarden Euro. Die Mieten stiegen im Durchschnitt um 2,4 Prozent („FAZ“, 19. März 2022). Um die Zahlen seriös bewerten zu können, müsste man jedoch mögliche Sondereffekte herausrechnen, etwa reine Buchgewinne aus der Immobilienbewertung, und Investitionen bspw. in Modernisierung oder in Neubauten berücksichtigen. In den Zeitungsberichten steht dazu wenig. Das lässt aus Sicht von Vonovia befürchten, dass auch Gegner des Konzerns verkürzend mit einigen wenigen Zahlen arbeiten.
An sich fair ist es beispielsweise, Quadratmeterpreise zu vergleichen. So macht es die linke Wochenzeitung „Kontext“ (ebd., 1. Okt. 2022, S. 2). Sie stellt fest: „So offeriert Vonovia eine 68 Quadratmeter große Dachgeschoss-Wohnung in Stuttgart-Untertürkheim für 878 Euro Kaltmiete. Dies entspricht rund 12,90 Euro pro Quadratmeter. Die durchschnittliche ortsübliche Vergleichsmiete ist 9,70 Euro, so das Ergebnis des Mietspiegelrechners.“ Solche Vergleiche festigen den schlechten Ruf des Unternehmens als Ausbeuterbetrieb. Was man nicht erfährt und vielleicht auch „Kontext“ nicht weiß: Gibt es Unterschiede in der Ausstattung oder der Lage der Wohnungen, die den Preisunterschied rechtfertigen? Muss nicht sein, kann aber sein.
„Keine wohnungs-, sondern eine gesellschaftspolitische Initiative“
Die Berliner Volksabstimmung ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein Unternehmen seine gesellschaftliche LTO aus S-Gründen verlieren kann. Betroffen ist zwar nur eine geografische Region aus dem Tätigkeitsgebiet des Unternehmens, in diesem Fall Berlin. Aber die Mechanik lässt sich genauso gut auf ein Bundesland, ganz Deutschland oder einen internationalen Raum übertragen. Kai Warnecke von Haus & Grund sagt zu Recht: „Das war keine wohnungs-, sondern eine gesellschaftspolitische Initiative zu Eigentum und Freiheit des Einzelnen und zur Vergemeinschaftung des Wohnungswesens“ („Focus“ [Nr. 40], 2. Okt. 2021).
Bei der Umsetzung des Volkswillens tut sich die neue Berliner Landesregierung schwer. Die Koalition aus SPD, Grünen und Linken vereinbart in ihrem Koalitionsvertrag Ende November, zunächst eine Expertenkommission einzusetzen, die „Möglichkeiten, Wege und Voraussetzung der Umsetzung des Volksbegehrens“ prüfen soll („Tagesspiegel“, 24. Nov. 2021; „SZ“, 24. Nov. 2021). In den ersten 100 Tagen der Landesregierung, bis Ende März 2022, soll die Kommission ihre Arbeit aufnehmen. Von da an wird sie ein Jahr lang Zeit haben, um entweder ein Gutachten zu erstellen, das als Grundlage für einen Gesetzentwurf dient, oder um selbst ein Gesetz zu entwerfen (a. a. O.; vgl. auch „Tagesspiegel“, 27. Nov. u. 29. Dez. 2021). Die großen Vermieter und der Senat haben erst einmal Zeit gewonnen.
Die Verhandlungsführerin der SPD, Franziska Giffey, bezeichnet den Umgang mit dem Ergebnis des Volksentscheids als „größte Herausforderung im Rahmen der Koalitionsverhandlungen“ („Tagesspiegel“, 24. Nov. 2021). Zur Umsetzung der Pläne bereitet sie ein „Bündnis für den Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ vor. Daran sollen beteiligt sein: die Berliner „Bezirke, die landeseigenen und die privaten Wohnungsunternehmen, die Genossenschaften und die Zivilgesellschaft“ („SZ“, 15./16. Jan. 2022). Das klingt schon sehr nach einem institutionalisierten Zusammenwirken von Privatwirtschaft, Gesellschaft und öffentlicher Hand beim Lösen einer Gemeinwohlaufgabe.
Im Mai dringen Zwischenergebnisse aus der „Arbeitsgruppe Mieten“ des Bündnisses an die Öffentlichkeit. Mieter sollen nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen, lautet eine Zielvorgabe der Berliner Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Ob netto oder brutto bleibt offen. Gemeint ist vermutlich das verfügbare Haushaltseinkommen, also netto. Die jährlichen Mieterhöhungen sollen gedeckelt werden („Tagesspiegel“, 14. Mai 2022). Auf diese Weise würde die finanzielle Leistungsfähigkeit des Mieters zum Grenzwert für die Höhe der Miete (ausf. „Tagesspiegel“, 28. u. 31. Mai 2022). Ein interessanter Schritt in Richtung zu mehr „S“ auf dem Wohnungsmarkt.
Die Umsetzung würde wohl in einem Dreiecksverhältnis stattfinden: Ausgehend vom Wohnungsbedarf und Netto-Haushaltseinkommen der Mieter und vom legitimen Mietzinsanspruch des Vermieters wird die Erstattung der Differenz durch die öffentliche Hand ermittelt. Der Ansatz geht in Richtung des hier diskutierten Vertragsmodells, ist aber nach Einschätzung von Experten komplizierter als eine Förderung im Zweierverhältnis wie beim Bau von Sozialwohnungen (öffentliche Hand – Wohnungsgesellschaft) oder als Zuschüsse für Miete und Nebenkosten (öffentliche Hand – Mieter). Die politischen Parteien in Berlin, selbst Giffeys SPD, sind allerdings laut einer Umfrage der Tageszeitung „Welt“ geschlossen gegen den Vorschlag oder sehr skeptisch (zit. nach „SZ“, 31. Mai 2022).
Investoren und Entwickler: wachsendes Interesse an Sozialwohnungen
Die private Seite zeigt unterdessen zunehmend Interesse an einer Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand zum Nutzen der Gesellschaft. Die Nachfrage nach Sozialwohnungen ist groß, die Renditen sind mit knapp drei Prozent nur unwesentlich niedriger als bei bindungsfreien Wohnungen, und schließlich nehmen die Vorgaben aus Brüssel zum „S“ in ESG Gestalt an. „Wir sind in einer Transformation. Investoren wenden sich verstärkt gesellschaftlichen Fragen zu“, sagt Susanne Eickermann-Riepe, Vorstandsvorsitzende des Instituts für Corporate Governance in der deutschen Immobilienwirtschaft („SZ“, 22./23. Jan. 2022).
Sogar Immobilien in sozialen Brennpunkten rücken in den Fokus („FAZ“, 20. Mai 2022). Der stellvertretende Vorstandschef der HanseMerkur Grundvermögen AG, Ulrich Haeselbarth, erklärt aus Sicht des Investors: „Als Asset Manager der HanseMerkur und von inzwischen mehr als 60 weiteren institutionellen Investoren hat nachhaltiges Handeln in Bezug auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung für uns höchste Priorität“ („FAZ“, 1. April 2022). Die Projektentwickler folgen dem Trend, indem sie ihre Expertise für die Planung von Sozialwohnungen stärken. Ein guter Teil davon ist, die richtigen Wege durch den Dschungel aus Förderungen von Bund, Ländern und Kommunen zu kennen (a. a. O.).
Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ lässt sich von diesen Entwicklungen nicht von ihrem Weg abbringen. Sie kämpft weiter für ihre Sache und verlangt eine Mehrheit in der Kommission, die einen Weg für eine gerichtsfeste Vergesellschaftung von Wohnen finden soll.[vi] Und sie droht: „Wenn der politische Wille zur Umsetzung nicht da ist, dann ist ein neuer Volksentscheid mit ausgearbeitetem Gesetz eine Möglichkeit“, so Kalle Kunkel, ein Sprecher der Initiative („Tagesspiegel“, 22. Jan. 2022). Die Gegenseite bringt sich mit einem Rechtsgutachten in Stellung. Nach Ansicht des Jura-Professors Jürgen Kühling und seines Mitarbeiters Moritz Litterst wäre die geplante Enteignung (Vergesellschaftung) verfassungswidrig und könnte die Berliner Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Dies aus zwei Gründen: (1) Die privaten Wohnungskonzerne haben laut dem Gutachten in Berlin keine marktbeherrschende Stellung. (2) Eine Entschädigung mit Abschlag, die also nicht den vollen Verkehrswert erstattet, wäre unzulässig.
Auftraggeber des Gutachtens ist die Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung („FAZ“, 25. März 2022; „Tagesspiegel“, 23. März 2022). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von rund 1.300 Mitgliedern (Stand: 2022), die Forschung zur Immobilienwirtschaft finanziell und anderweitig unterstützen. Drei Mitglieder der Kommission, die „taz“ bezeichnet sie als „konservative Verfassungsrechtler“, sind der Ansicht, dass ein Vergesellschaftungsverfahren nach Artikel 15 GG gar nicht zulässig sei, weil die Berliner Verfassung das Eigentum stärker schütze als das GG und das Landesverfassungsrecht bei höherem Schutzniveau Vorrang genieße (ebd., 25. März 2022; vgl. auch „Tagesspiegel“, 24. März 2022). Es wird dauern, bis dieser Streit gelöst ist. So lange herrscht Ungewissheit über wesentliche rechtliche Rahmenbedingungen des Wohnungsmarkts in Berlin. Unsicherheit ist Risiko und Risiko ist teuer. Das ist Gift für Investitionen.
ESG-Probleme und Verlust der LTO: Nestlé, Facebook, Ölkonzerne
Deutsche Wohnen ist ein Beispiel für die Beschränkung einer LTO durch basisdemokratische Entscheidung. In anderen Fällen schwindet der Rückhalt für ein Geschäftsmodell langsam, schleichend, bis das Unternehmen an einem Kulminationspunkt selbst entscheidet oder entscheiden muss. So war es im Fall von Nestlés Wassergeschäft. Der Schweizer Nahrungsmittelgüterkonzern, mit knapp 79 Milliarden Euro Umsatz der größte der Welt, verkauft seit Jahren Mineralwasser in Plastikflaschen, unter anderem unter der französischen Marke Vittel. Umweltschützer kritisieren, Nestlé beute Quellen übermäßig aus, senke die Grundwasserspiegel und schade der Natur. Außerdem seien die Transportwege vom Ort Vittel in den Vogesen bis zum Verbraucher zu lang und die PET-Einweg-Plastikflaschen zu umweltschädigend im Vergleich zu Glasflaschen.
Also kalkuliert Nestlé: Die Marge des Wassergeschäfts erreicht nur etwas mehr als die Hälfte des Konzerndurchschnitts (8,9 Prozent zu 17,4 Prozent), die Marktanteile schrumpfen und der öffentliche Druck und das Reputationsrisiko sind groß. Die Schlussfolgerung: Im Jahr 2020 verkauft die Mutter von mehr als 2.000 Marken wie Maggi, Nesquik, Nespresso, Mövenpick und Wagner Pizza ihr Wassergeschäft in China, ein Jahr später in den USA. Ende Oktober 2021 stellt Vittel die Belieferung von Lidl ein. Der Discounter war Hauptvertriebspartner für das französische Mineralwasser in Deutschland („Tagesspiegel“, 18. Okt. 2021; „SZ“, 26. Okt. 2021). Die Desinvestitionen in dieser Purpose- und ESG-feindlichen Produktgruppe waren vermutlich sowohl von finanziellen als auch von ESG- und Purpose-Erwägungen getrieben.
Bei Facebook kommt es aus S-Gründen voraussichtlich gar nicht erst zu einer Investition. Ende Oktober 2021 benennt sich die Muttergesellschaft um in „Meta“. Dafür gibt es gute offizielle Gründe. Es gibt aber auch weniger gute. Sie liegen auf der Hand, viele sprechen und schreiben darüber, aber Facebook selbst schweigt dazu lieber. Marc Zuckerbergs soziales Netzwerk steht seit langem in der Kritik, weil darüber Lügen, Propaganda, Verschwörungstheorien und Hass verbreitet werden. Im Wahlkampf 2016 ließ Facebook zu, dass Russland Propaganda für den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump streute (Amtszeit: Jan. 2017–Jan. 2021). Zuvor hatte sich die englische Firma Cambridge Analytica Kontaktdaten von rund 50 Millionen Facebook-Nutzern verschafft und dem Wahlkampfteam von Donald Trump zur Verfügung gestellt. Spätestens seit diesen Vorfällen gilt das Netzwerk wie andere Vertreter von „Big Tech“ als „BAAD = big + anti-competitive + addictive + destructive for democracy“ (vgl. Neumann/Forthmann/Heintze, 2019, S. 207 ff.).
Die zweifelhafte Rolle des Netzwerks in Politik und Gesellschaft bewegt US-Senatoren dazu, Facebook die Eröffnung eines neuen Geschäftsfelds zu verweigern. Meta plant, eine eigene Währung herauszugeben. Viele der hochrangigen US-Politiker und sogenannten „lawmaker“ (Mitglieder einer gesetzgebenden Kammer) lehnen das jedoch ab, weil sie dem Konzern und seiner Führung nicht vertrauen. Sie schaffen daher keine gesetzlichen Grundlagen für private Währungen und blockieren die nötigen (u. a. bankenaufsichtsrechtlichen) Genehmigungen. Ob die Verbraucher das Meta-Geld akzeptieren würden, bleibt deshalb ungeklärt. Konsumenten „verzeihen“ oft schnell und leicht und vertrauen wieder. Kryptowährungen wie Bitcoin erfreuen sich großer Beliebtheit. Das Meta-Geld hätte also durchaus eine Chance gehabt.
Bei den großen Ölkonzernen ist noch offen, wie es um die Billigung ihrer zukünftigen Geschäfte bestellt sein wird. Zunächst geht es um die Frage, ob sie für Schäden durch den Klimawandel haften – juristisch und mit ihrer Reputation. Die Geschichte erinnert in vielen Punkten an die Tabak-Multis. Jahrzehntelang wusste man von den Gefahren, die von den eigenen Produkten ausgehen. Mit dem Unterschied, dass die Geschädigten nicht der Raucher und sein passiv rauchendes Umfeld sind, sondern der Planet und seine gesamte Biosphäre. Erst leugnet man wider besseres Wissen („Nikotin macht nicht süchtig“; „Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel“), dann verharmlost man und lenkt ab, schließlich heuchelt man öffentlich den Willen zur Besserung vor und betreibt hinter den Kulissen Lobbyismus für den alten Kurs, um sich weiter die Taschen mit Geld zu füllen. Die Verharmlosung existenzbedrohender Umweltschäden wider besseres Wissen ist nicht nur ein Verstoß gegen das „E“ in ESG, sondern auch ein Betrug an der Gesellschaft um ihre Zukunft, vor allem ein Betrug an den Jungen und den Kindern, und damit ein Verstoß gegen „S“. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Teile der Klimabewegung radikalisieren und Gewalt rechtfertigen (vgl. „Spiegel“, 21. Mai 2022).
S-Verträge im Unterschied zu E-Verträgen ohne Enddatum: Tarifprozess?
Im Bereich Umwelt („E“) gibt es, wie gesagt, bereits Vertragsmodelle zum Ausgleich der Interessen von Unternehmen, Gesellschaft und Klima/Umwelt, die sogenannten Differenzverträge oder Carbon Contracts for Difference (s. oben; vgl. auch „FAS“, 3. Okt. 2021). „Vertragspartner“ sind Staat, Unternehmen und (Teile der oder) die Gesellschaft. Doch der Inhalt der E-Verträge unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den S-Verträgen. Während in E-Verträgen Budgets zugeteilt werden, die auf naturwissenschaftlichen Grenzwerten beruhen (Obergrenze für CO2-Ausstoß), müssen in S-Verträgen widerstreitende soziale, wirtschaftliche und rechtliche Interessen ausgeglichen werden. In einem Verfahren der Umverteilung werden Lasten und Hilfen neu geordnet. Deshalb gibt es bei E-Verträgen ein natürliches Enddatum: Wenn CO2-Neutralität erreicht ist, entfällt der Vertragszweck. Ein solches Enddatum wird es bei S-Verträgen rein systematisch nicht geben können, sofern man sie nicht auf einzelne Projekte begrenzen kann. Eher geht man eine Beziehung ein, die wie bei Tarifparteien ein fortlaufendes Nachjustieren erfordert.
Eine vielversprechende Ausnahme ist das umgekehrte Bieterverfahren der Stadt München. Den Zuschlag für ein Projekt erhielt der Investor, der bei gegebener Qualität die niedrigsten Mieten versprach (vgl. Endnote 5 und „FAZ“, 2. Sept. 2022). Auf diese Weise kann man den S-Faktor zunächst auf ein Projekt begrenzen. Allerdings wird man schon bei der Kalkulation über die langfristige Entwicklung von Mieten und die Dauer der Preisbindung reden müssen.
Die neuen Gesellschaftsverträge müssen verhandelt werden. In diesem Prozess müssen aus Sicht der Unternehmen die Erwartungen der relevanten (Teil-)Öffentlichkeit und der Politik ausgelotet werden. Dabei sollten die Verhandlungsführer der Firmen versuchen, das Wünschen und Hoffen der anderen Seiten zu lenken im Sinne eines nüchternen Erwartungsmanagements. Im Idealfall geschieht dies, wie wir am Beispiel Vonovia/Deutsche Wohnen zu zeigen versucht haben, mit einer Mischung aus kreativen eigenen Vorschlägen und dem Aufzeigen von Grenzen, etwa wenn die praktische Umsetzung ineffektiv, ineffizient oder untragbar teuer wird. Wenn sich eine Situation abzeichnet wie bei Vonovia/Deutsche Wohnen, dann ist jedem Unternehmen zu raten, den Dialog aktiv zu führen, statt zu versuchen, sich zu verstecken und darauf zu hoffen, dass sich kein Sturm aufbaut. Hinter dem „S“ in ESG steht ein gesellschaftlicher Klimawandel, der wie der atmosphärische zu extremen und gefährlichen Unwettern führen kann. Das Berliner Enteignungsverfahren vermittelt eine Ahnung davon.
Vier Monate nach Einrichtung der Expertenkommission zur Umsetzung des Volksentscheids „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmern“ sieht es nicht so aus, als habe man in Berlin die Zeichen der Zeit verstanden. Der Senat gab per Beschluss vor: Das Gremium arbeitet „im Grundsatz öffentlich“. Tatsächlich geschieht das nur in Ausnahmefällen. Kritiker sagen, von den bis Mitte August durchgeführten drei Arbeitssitzungen seien keine Protokolle zugänglich, die über Inhalt, Ort und Dauer der Gespräche Auskunft gäben („Tagesspiegel“, 24. Aug. 2022).
Offensiv in die Öffentlichkeit begibt sich dagegen der Vonovia-Vorstandsvorsitzende Rolf Buch. Im Gespräch mit Medien versucht er, seinen Mietern die Angst vor dem Winter 2022/23 zu nehmen. Gas ist wegen Russlands Lieferstopp knapp und teuer. Die Inflation treibt zudem die Preise von Lebensmitteln und anderen Waren in die Höhe. Viele Menschen haben Angst vor Armut und einer kalten Wohnung, Mieter fürchten sich überdies vor steigenden Mieten und Nebenkosten sowie letztlich vor einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs. Dazu sagt Buch: „[…] wenn die Leute rechtzeitig mit uns reden und glaubhaft machen, dass sie das [Mieterhöhungen und/oder Nebenkosten, Anm. d. Verf.] nicht zahlen können, dann halten wir in Zeiten wie diesen erst mal die Füße still“ („SZ“, 24./25. Sept. 2022; vgl. auch „FAZ“, 28. Sept. 2022). Und weiter: „Wenn wir eine alleinerziehende Mutter aus der Wohnung werfen, wäre das viel teurer [als die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit ggf. mit Hilfe von Wohngeld abzuwarten, Anm. d. Verf.] – auch moralisch“ (a. a. O.).
Die Börse honoriert diesen sozialen Kurs und die Orientierung an anderen Bezugsgruppen als den Aktionären offenbar nicht. Seit Jahresbeginn ist die Notierung um rund die Hälfte geschrumpft. Am 27. September 2022 erreicht der Unternehmenswert ein Fünfjahrestief („FAZ“, 28. Sept. 2022). Gleichzeitig erklärt Rouzbeh Taheri, der bereits erwähnte Mitgründer der Berliner Enteignungsinitiative, er habe „keinerlei Hoffnung“, dass die per Volksentscheid beschlossene Enteignung Vonovias und anderer privater Wohnungsgesellschaften umgesetzt werde („Tagesspiegel“, 27. Sept. 2022). Seit der Abstimmung vor einem Jahr sei „so gut wie nichts passiert“, konstatiert auch der „Tagesspiegel“. „Sobald nur ein Kommissionsmitglied Zweifel daran äußert, dass es einen rechtskonformen Weg zur Enteignung gibt, wird die SPD sagen: Das können wir nicht umsetzen, das ist uns zu unsicher“, sagt Taheri. Er habe den Eindruck, „dass Teile der Politik nicht Probleme lösen, sondern Probleme erfinden wollen“, aber nachgeben werde die Bürgerinitiative nicht (a. a. O.). Vonovia und Berlin haben noch einen steinigen Weg vor sich, wenn sie dem „S“ im Berliner Wohnungsmarkt ernsthaft Geltung verschaffen wollen.
Unterdessen wachsen in Frankfurt am Main und Umgebung die Sympathien für eine Vergesellschaftung von Mietwohnungen. Im November 2022 veröffentlicht die Unternehmensberatung PWC die Ergebnisse einer Umfrage, in der es um den Wohnungsmarkt im Rhein-Main-Gebiet geht. Eine Frage war, was die öffentliche Hand tun könne, um Fachkräfte trotz hoher Mieten im Ballungsraum zu halten. In der Gruppe der 18- bis 34-Jährigen ist eine Mehrheit (53 Prozent) dafür, Wohnungsunternehmen zu enteignen. Alle Altersgruppen zusammen liegt die Zustimmung bei 40 Prozent („FAS“, 20. Nov. 2022).
Neues Volksbegehren: kein Autoverkehr in der Innenstadt
Während der Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungen abgearbeitet wird, bahnt sich ein weiterer Konflikt zwischen der Bevölkerung und dem Berliner Senat an, der auch die Wirtschaft betrifft: Eine Gruppe von Aktivisten namens „autofreiberlin“ will den privaten Pkw-Verkehr im Berliner S-Bahn-Ring (Innenstadt) einschränken. Nur noch zwölf Fahrten pro Jahr sollen jedem Bürger erlaubt sein. Busse, Taxen, Lieferanten und Gehbehinderte sind ausgenommen. 20.000 Unterschriften waren nötig, um ein Volksbegehren einzuleiten. Mehr als 50.000 hat die Initiative schon 2021 sammeln können („Tagesspiegel“, 11. Mai 2022). Sollte sich „autofreiberlin“ durchsetzen, könnte das Nachzieheffekte in anderen Großstädten auslösen.
Die deutsche Autoindustrie und andere Dienstleister für private individuelle Mobilität sollten die Debatte verfolgen und sich auf Konfliktlösungen vorbereiten, sprich Verhandlungsmasse entwickeln. Ein frühzeitiger Dialog mit Aktivisten und Politikern könnte sinnvoll sein. Ist das Ziel saubere Luft und Ruhe? Dann könnten Ausnahmen für Elektroautos verhandelbar sein. Geht es um mehr öffentlichen Raum durch Rückbau von Parkplätzen? Dann könnten kleinere Fahrzeuge eine Lösung sein. Mit denen verdienen die Autohersteller jedoch viel weniger Geld als mit Luxuskarossen und Pseudo-Geländewagen. Es steht einiges auf dem Spiel.
(weitere Fußnoten sind im Buch)
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