Buchauszug Steffen Elbert: „Innere Fesseln lösen – befreit führen: Führungspotenziale entwickeln“

Buchauszug Steffen Elbert: „Innere Fesseln lösen – befreit führen: Führungspotenziale entwickeln“

 

Elbert (Foto: Privat)

 

Die „gefesselte“ Führungskraft

Manchmal geht es irgendwie nicht weiter. Alle wichtigen Trainings sind absolviert, alle Seminare besucht. Kurse an renommierten Hochschulen liegen hinter uns, manchmal sogar ein Executive MBA oder ähnliche hochkarätige Fortbildungen. Die neuste Managementliteratur ist gesichtet und die relevanten Gedanken sind verinnerlicht. Man ist en jour mit dem Denken über Führung und Management, kennt die neusten Trends, Methoden, Perspektiven.

Man stellt auch bei der Selbstreflexion fest, dass man mehr oder weniger klare Ideen davon hat, was jetzt noch zu verändern wäre, welches Denkmuster, welches Verhalten zielführender wäre. Feedbackprozesse haben diese innere Einschätzung bestätigt und validiert.

Das Ziel ist mehr oder weniger klar. Und auch die Auswirkungen: eine effizientere und wirksame Führung. Und parallel dazu haben wir oft eine Ahnung, dass – sollte es uns gelingen, diese Veränderungen in unserem Denken und Handeln umzusetzen – wir auch in gewissem Sinne ein leichteres, zufriedeneres, irgendwie besseres Leben leben würden.

Aber irgendwie reicht das Verstehen allein nicht, um die Veränderung anzukurbeln. Es gibt innere Prozesse, die uns davon abhalten, die scheinbar wenig über den Verstand und den Willen allein zu steuern sind und die gleichsam auf einer anderen Ebene ablaufen. Was sind das also für Innere Fesseln?

 

 

Was steht im Weg?

Das Portfolio an möglichen Inneren Fesseln ist groß

Welche Gestalt haben diese limitierenden Inneren Fesseln? Einige – hier bewusst polarisiert dargestellte – Beispiele sollen zur Illustration dienen. Hierbei ist zu beachten, dass eine einzelne Innere Fessel selten allein, sondern in der Regel als Kombinationen mit anderen auftritt – das dahinter wirkende Programm zeigt sich meist parallel in mehreren Verhaltens- und Denkweisen.

 

Eine häufig zu beobachtende Innere Fessel ist Perfektionismus. Alles muss immer bis zum Letzten durchdacht sein, alle Aspekte bis ins Detail berücksichtigt und analysiert werden. Die Präsentation muss inhaltlich, vom Layout und der Anmutung perfekt vorbereitet sein, alle möglichen Fragen der Zuhörer müssen antizipiert und entsprechende Antworten schon eingebaut sein. Der Plan muss alle möglicherweise auftretenden Hindernisse schon antizipieren, alle – auch die unwahrscheinlichsten – Eventualitäten müssen vorbereitet sein. Häufig rechtfertigen wir unseren Perfektionismus auch als eine „außergewöhnliche Qualitätsorientierung“, als notwendige „hohen Ansprüche“ ohne die sich die Organisation nicht weiterentwickeln kann.

 

Unerreichbare Ziele

Nicht selten wirkt auch in uns eine Form von „Das geht doch noch besser“ und wir können sogar eine innere Lust dabei empfinden, unsere Ziele maximal hochzuschrauben. Anspruchsvolle Ziele (sogenannte „stretch targets“) bekommen dann oft einen „Mission Impossible“-Charakter, sind bei genauerem Hinsehen – mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – eigentlich nicht erreichbar.

 

Es entstehen Paradoxien, also logische Unmöglichkeiten, gleichzeitig die Ziele A und B zu erreichen („Wasch‘ mich und mach mich nicht nass“). Diese Paradoxien werden dann geleugnet, es muss dann doch möglich sein, alles zu erreichen, weil es in uns nicht vorstellbar sein darf, dass es nicht geht. Durch das Leugnen der Paradoxien werden die Mitarbeitenden an ihre physische und vor allem psychische Belastungsgrenze gebracht, da durch das Leugnen suggeriert wird, es liege nur an dem Einzelnen, der nicht bereit oder fähig sei, die „Extrameile“ auf sich zu nehmen, sich voll einzubringen und „alles zu geben“. Oft werden wir in unserer Not dann auch ungerecht, persönlich oder emotional bzw. aggressiv.

 

 

Im Perfektionismus-Modus dürfen uns auf keinen Fall Fehler unterlaufen, wir zeigen eine sehr geringe Fehlertoleranz. Dazu werden Nachtschichten geschoben, Mitarbeiter bis an die Grenzen des Zumutbaren belastet und Ressourcen weit jenseits der Verhältnismäßigkeit strapaziert. Wirksame Konzepte wie die „80:20-Regel“ (für das Optimieren der letzten 20 % braucht man meist 80 % der Zeit) oder der bekannte „Mut zur Lücke“ werden ignoriert, nur „100 %“ ist akzeptabel, obwohl wir wissen, dass diese „100 %“ in den meisten Fällen nie erreichbar sind. Oder wir nutzen gar das Modell des „120 %-geben-müssens“ – ein bei näherer Betrachtung intrinsisch durchaus fragwürdiges Modell, das implizit darauf aufbaut, dass wir und unsere Mitarbeitenden immer mit „Leistungsreserven“ herumlaufen und willentlich im Regelfall keinen vollen Einsatz bringen.

 

Es fehlt bei Perfektionismus oft eine „gesunde“ Abwägung von Aufwand und Ertrag, und damit geht meist auch eine geringe Toleranz für andere, die weniger leisten (können) einher. Der Perfektionismus kann uns dann auch zu persönlichen Abwertungen von Mitarbeitenden oder Kollegen verführen, wir machen uns über diese lustig, werden zynisch und sarkastisch oder ignorieren sie.

 

Die „Ich-war´s-nicht-Kultur“

Und unsere „Null-Fehlertoleranz“ kann zu einer Atmosphäre von Angst, Resignation oder gar innerer Kündigung bei den Mitarbeitenden führen. Fehler (die immer passieren können) werden von den Mitarbeitenden dann im Zweifel eher vertuscht, unter den Teppich gekehrt, und kommen später mit potenzierter Wirkung wieder zum Vorschein. Oder es entsteht eine Kultur der „Fingerpointings“, eine Kultur des „Ich war‘s nicht“ und Wegschauens, oder eine Kultur des Anschwärzens und Denunzierens. Ein Schuldiger muss her, die häufig auch prozessualen oder organisatorischen Ursachen für das Auftreten der Fehler – oder das Führungsversagen durch paradoxe Zielsetzungen – werden nicht berücksichtigt.

 

Oft zeigt sich Perfektionismus nicht direkt, sondern indirekt in Form des „Workaholismus (am besten wohl mit „Arbeitssucht“ zu übersetzen). Die Arbeit scheint alles zu sein und wir fühlen uns jeden Tag aufs Neue durch das Nicht-Erreichen von – objektiv eigentlich auch nicht erreichbaren (siehe Perfektionismus) – Zielen herausgefordert. In unserer Vorstellung muss doch alles machbar sein, wenn wir nur genug Energie investieren, uns noch mehr anstrengen, aus unserer Komfortzone gehen, die „Extrameile“ auf uns nehmen.

 

Am Wochenende ist endlich Zeit für liegengeblieben E-Mails

Wir kennen keine Grenze unserer Arbeits- oder treffender „Dienst“-Zeit, sitzen immer bis spät am Abend im Büro. Und am Wochenende ist endlich Zeit, all die liegengebliebenen Mails aufzuarbeiten, alle in der Woche übrig gebliebenen Unterlagen zu studieren und die neue Woche im Detail vorzubereiten. Urlaube sind versteckte Reservearbeitszeit und wir sitzen regelmäßig am Strand oder in der Berghütte am Computer, müssen parallel zum morgendlichen oder abendlichen Buffet im Hotel noch wichtige Gespräche führen oder reisen gar im Urlaub für einige Tage zu dringenden Geschäftsterminen ab.

 

So sinnvoll dies in einzelnen, spezifischen Situationen sein kann, als generelles Verhaltens- und Denkmuster ist es eine Garantie für das Ausbrennen und ein langfristiges Scheitern – sowohl beruflich als auch persönlich. „Workaholismus“ kann sich auch darin zeigen, dass wir überhaupt nicht mehr (oder nur noch beispielsweise mit Alkohol oder anderen Substanzen) entspannen können, nachts kaum noch Ruhe finden und immer auf Habacht-Stellung sind, mit einem Ruhepuls von 100 oder mehr. Wir sind dann dauerhaft im Stress. Es ist, als seien wir in einer Art Dauerkampf.

 

Wer sich selbst gegenüber erbarmungslos ist, ist es auch anderen gegenüber

„Workaholismus“ ist häufig kombiniert mit mangelnder Selbstfürsorge oder Selbstliebe als eine Innere Fessel . Oft zeigt diese sich in Form einer Erbarmungslosigkeit sich selbst gegenüber. Man gönnt sich keine Pause, treibt sich selbst innerlich immer wieder zu Höchstleistungen an und kennt kein Pardon mit sich selbst, wenn einmal die Ziele nicht erreicht werden. Innerlich ist man voll von Selbstabwertungen, findet sich und seine Arbeit als wertlos und nie ausreichend. Und diese innere Überzeugung dient oft als Schablone für den Blick auf andere: Wenn man sich selbst gegenüber erbarmungslos und wenig nachsichtig ist, kann man das meist auch dem Mitarbeitenden oder Kollegen gegenüber nicht sein. Nur diejenigen, die regelmäßig weit über ihre Grenzen gehen, die dauerhaft Höchstleistungen bringen können, verdienen scheinbar unseren Respekt, werden von uns geachtet und geschätzt. Die anderen sind „Looser“, denen wir im Extremfall nicht einmal ein Minimum an Höflichkeit und Wertschätzung entgegenzubringen vermögen.

 

Mit Perfektionismus und Workaholismus geht oft eine überproportionale Fokussierung auf die Erhebung und Analyse von Daten und Fakten einher, etwas, das man auch als „Datenfetischismus bezeichnen könnte. Wir halten es dann für unsere Aufgabe, alle für die „richtige“ Entscheidung notwendigen Fakten und Daten zu erheben, zu kennen und zu berücksichtigen. Dabei wissen wir gleichzeitig, dass die Welt inhärent nicht planbar oder berechenbar ist, und dass damit unser – manchmal verzweifelter – Versuch, diese lebensimmanente Unsicherheit und Unplanbarkeit durch noch mehr Daten zu minimieren oder gar zu eliminieren, zum Scheitern verurteilt ist. „Paralysis by analysis“ ist oft die Folge – die Verzögerung von wichtigen Entscheidungsprozessen durch immer weiter gehende, tiefere Analysen.

 

Und wir vernachlässigen eine für unsere Führungsaufgabe oft nicht unwesentliche Komponente: unsere Intuition, die ja die aggregierte Summe unserer Erfahrungen darstellt. Oder wir vergessen, dass gerade die Absorption der dem Leben inhärenten Unsicherheit eine Kernaufgabe von Führung ist. Auch beim „Datenfetischismus“ gibt es ein Zuviel, wir finden nicht die richtige Balance zwischen der meist absolut notwendigen quantitativen Absicherung unserer Entscheidungen und dem lähmenden Abtauchen in die Tiefe von „Datenfriedhöfen“ – die mit einer nicht bis ins Letzte quantitativ abgesicherten Entscheidung einhergehende Unsicherheit ist für uns dann unerträglich.

 

Steffen Elbert: „Innere Fesseln lösen – befreit führen: Führungspotenziale entwickeln“ 228 Seiten, 39,95 Euro, Verlag Schaeffer Pöschel

Innere Fesseln lösen – befreit führen: Buch & eBook von Steffen Elbert | Schäffer-Poeschel Shop (schaeffer-poeschel.de)

 

Die Erziehung zu sklavisch Ausführenden

Mangelndes Delegationsvermögen und Mikromanagement gehen oft ebenfalls mit Perfektionismus einher. Weil keiner es so gut machen kann, wie man es erwartet oder wie es perfekt ist, macht man es entweder selbst oder schaut den Mitarbeitenden permanent über die Schulter. Man führt über detaillierte Ansagen, wie etwas zu erledigen ist, und zieht sich so eine Armee von fast sklavisch Ausführenden groß. Permanente Kontrolle der Arbeit soll das Ergebnis sicherstellen. Die Mitarbeitenden können in der Regel dann kaum Kompetenzen in den Bereichen Selbstverantwortung, Eigensteuerung oder „Mitdenken“ entwickeln, oder diese sind nicht gefragt.

 

Das Ergebnis ist häufig, dass die Mitarbeitenden für jede Frage immer wieder zum Vorgesetzten kommen und auf detaillierte Anweisungen warten, wie etwas auszuführen ist. Dies blockiert einen nicht unwesentlichen Teil der Managementressourcen, die dann für andere Themen fehlen. Auch dient es oft nicht der Motivation der Mitarbeitenden. Am wichtigsten scheint jedoch, dass mit dieser Art von Verantwortungszentralisierung auf der Führungskraft auch das Risiko für Fehlentscheidungen zunimmt, da diese in der Regel weniger im Detail steckt, stecken kann und meist auch stecken sollte und somit nicht die beste Datenbasis für Entscheidungen hat. Ein Mikromanager erkauft sich somit seine erhöhte Kontrolle über die Vorgänge durch ein überproportional großes Risiko für Fehlentscheidungen im Sinne von Sicherstellen der Überlebensfähigkeit der Organisation.

 

Mikromanagement mangels Vorschusslorbeeren

In anderen Fällen kann Mikromanagement auch die Folge eines prinzipiellen Misstrauens sein. Wir haben das Gefühl, keinem vertrauen zu können. Wir vermuten hinter jedem Fehler eines Mitarbeitenden einen Sabotageversuch oder eine gezielte Aktion gegen uns, wir hören „das Gras wachsen“ und haben vielleicht auch eine Tendenz zu Verschwörungstheorien. Es fällt uns extrem schwer, mit einem gesunden Maß an Vorschusslorbeeren zu arbeiten und wir testen das Gegenüber permanent auf versteckte Ziele, auf eine „hidden agenda“. Manchmal kann unser Misstrauen auch zu einem extrem hohen Fokus auf messbare Fakten und nachprüfbare Daten führen und sich dann als „Datenfetischismus“ zeigen.

 

Oder wir trauen den Kollegen einfach nicht zu, die Aufgabe qualitativ passend erledigen zu können. Wir haben dann kein Vertrauen in die Qualifikation der Mitarbeitenden, in deren Entwicklungspotenzial oder Lernmöglichkeiten. Oder wir bezweifeln deren prinzipielle Motivation, deren Wille, ein gutes Arbeitsprodukt abzuliefern. Wir schätzen sie innerlich als prinzipiell zu faul, zu dumm, zu selbstgefällig, zu veränderungs- und lernresistent ein. Es fehlt ein grundsätzliches Vertrauen an das Gute im Menschen und an dessen grundlegendem Willen zum Wachstum und zur Selbstentwicklung – unabhängig von dem häufig beeindruckenden vorherigen Karriereverlauf, in dem das Gegenüber das Gegenteil bewiesen zu haben scheint.

 

Mit dem Genannten geht manchmal einher, dass Führungskräfte Schwierigkeiten haben, eine gute Balance zwischen Klarheit bezüglich der Ziele und Empathie für die individuelle Situation der Mitarbeitenden zu finden. Das Hineinversetzen in den Mitarbeitenden ist irgendwie blockiert bzw. wird dem übergeordneten Ziel der Ergebniserreichung relativ kompromisslos untergeordnet. Der Zweck scheint die Mittel zu heiligen – auch jenseits eines menschlichen Umgangs miteinander. Die emotionalen und menschlichen Aspekte der Zusammenarbeit werden wenig oder gar nicht berücksichtigt. Wir glauben, dass die Fakten für sich sprechen, da es schließlich um das Geschäft geht – da haben Gefühle keinen Platz.

 

Wer zum Untertan degradiert wird und keine echte Empathie erfährt

Erreicht wird dadurch häufig das Gegenteil: Der Einzelne fühlt sich in seiner Gesamtheit und Kompetenz nicht ausreichend gesehen und zum Untertanen degradiert. Weil mit der mangelnden Empathie auch häufig eine eher abwertende Sprache einhergeht, werden Mitarbeitende – oft auch hinter verschlossenen Türen – verbal erniedrigt und disqualifiziert, ihnen werden grundlegende Kompetenzen oder Fähigkeiten abgesprochen oder ihre Motivation wird fundamental infrage gestellt.

 

Das Problem ist, dass Mitarbeitende in der Regel ein Gefühl dafür haben, ob der Vorgesetzte sie anerkennt, wertschätzt und respektiert. So wirkt mangelnde Empathiefähigkeit auch indirekt, auch wenn wir versuchen, dies gegenüber dem Mitarbeitenden zu verbergen. Im schlimmsten Fall wird versucht, dieses Desinteresse am menschlichen Gegenüber durch in Kommunikationstrainings erlernte Floskeln zu überspielen. Dann wird jeden Morgen nach dem Befinden des Mitarbeitenden gefragt, obwohl es uns eigentlich gar nicht interessiert. Meist merkt das das Gegenüber. Dies wirkt dann oft manipulativ, die Mitarbeitenden spüren, dass es nicht aus dem Herzen, nicht von innen kommt, nicht authentisch ist. So wird klar, dass Empathiemangel in der Regel nicht zielführend für unsere Führungsaufgabe ist.

 

Auch im Bereich der Kollaboration und Teamarbeit können sich Innere Fesseln zeigen: Diese wirken nicht selten in Teammeetings, wenn es um das Verhandeln von Themen und Perspektiven geht. Meist ist eine sachliche Auseinandersetzung wesentlich hilfreicher als emotional aufgeladene Diskussionen, gegebenenfalls sogar mit persönlichen Angriffen. Dann werden wir gegebenenfalls verletzend und abwertend, verbunden mit einem polternden, aufbrausenden Gesprächsstil. Der Kollege mit der abweichenden Perspektive wird zum Feind, den es zu bekämpfen und vernichten gilt. Obwohl man sich klar ist, dass eine sachlich-ruhige Verhandlung zieldienlicher und auch angemessener wäre, scheint es, als hinge vom Gewinnen der Auseinandersetzung das eigene Leben ab. Und das ist – selbst in Kontexten mit hohem Wettbewerbsdruck – eher selten bis nie wirklich der Fall. In Gesprächen mit solcher Dynamik werden Energien frei, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts mehr mit dem diskutierten Thema zu tun haben, sondern alte Erfahrungen aktualisieren.

 

Über die Art der Gesprächsführung steigt man in Täter-Opfer-Dynamiken ein, die selten positiv enden. Der Verlierer wird dann eine Tendenz haben, den Kampf das nächste Mal wieder zu führen und zu gewinnen oder sich auf anderem Weg zu „rächen“ – durch passive Aggression, Verweigerung oder zum Beispiel auch durch Diskreditierung des Angreifers hinter den Kulissen. Täter-Opfer-Dynamiken sind oft Garant für weitere Auseinandersetzungen und eine schier endlose Fortsetzung der Spirale, die selten zur Steigerung der Überlebensfähigkeit des Unternehmens beiträgt.

 

Der Gegenpol zu den emotional stark aufgeladenen Diskussionen ist die Innere Fessel der Konfliktvermeidung. Konflikte werden nicht benannt, geleugnet oder unter den Tisch gekehrt, verharmlost oder auf ewig vertagt. Ist der Konflikt dann nicht mehr abzuwenden, gehen wir oft schnell in den Rückzug, zeigen uns zu bereitwillig mit den ersten möglichen Kompromissen einverstanden, vermeiden eine echte Auseinandersetzung. Wir lenken dann zu schnell ein, zeigen uns zu schnell mit den Vorschlägen des anderen einverstanden, auch wenn unsere eigene Einschätzung, unsere Intuition und unsere Erfahrung uns innerlich klar darauf hinweisen, dass der Weg in eine Sackgasse führen kann. Alternativoptionen bleiben unter dem Tisch, Risiken werden ausgeblendet, Beschönigungen und zu optimistische Einschätzungen werden nicht hinterfragt. Die Diskussion wird von einem parteiischen Plädoyer einer Seite dominiert, eine kritische Auseinandersetzung unterbleibt. Das Ringen um eine vielleicht bessere, um die beste Lösung, ein konstruktiver Dialog ist uns nur schwer möglich.

 

Und dabei opfern wir unsere gegebenenfalls sehr berechtigten Einwände, hilfreichen Beiträge und nutzbringenden Gedanken, um keinesfalls mit dem Gegenüber in einen Konflikt zu geraten. Im Extremfall kann unsere Schwierigkeit mit Konflikten so weit gehen, dass wir uns innerlich aufgefordert fühlen, auch bei anderen einen Konflikt zu vermeiden, immer für Harmonie und Gleichsinn zu sorgen. Dann werden wir zu (unaufgefordert) Schlichtenden, die jede Art von kritischer Auseinandersetzung partout verhindern wollen oder wir sorgen dafür, dass auch andere im Team nicht zu einem konstruktiven Dialog über die Themen kommen. Die Diskussionen verkommen zur gegenseitigen Beweihräucherung oder unkritischer Zustimmungsbekundigung. Harmonie ist dann wichtiger als das gemeinsame Herausarbeiten der richtigen Entscheidung zur Sicherstellung der Überlebensfähigkeit der Organisation. Auch kann sich als Teil dieser Inneren Fessel die Schwierigkeit zeigen, Nein zu sagen. Wir werden hierauf im Zusammenhang mit der Sucht nach Anerkennung später noch zurückkommen.

 

Eine besondere Situation kann entstehen, wenn sich im Gespräch eine potenzielle Störung abzeichnet wie zum Beispiel eine sich ankündigende Meinungsverschiedenheit, eine Notwendigkeit, dem Gegenüber einen Wunsch zu versagen oder auch eine Situation, in der wir einen Fehler zugeben müssten. Wirkt in uns die Innere Fessel Konfliktvermeidung, dann kann das dazu führen, dass wir – anstatt ein klärendes Gespräch zu führen – unser Gegenüber stattdessen schneiden, ignorieren, wie Luft behandeln oder so tun, als kennten wir ihn oder sie nicht. Alles nur, nur um einer anstehenden, gegebenenfalls bereinigenden Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Dann scheint die Prämisse „Lieber keinen Kontakt als einen Konflikt“ zu wirken.

 

Analog gibt es das Phänomen, dass Führungskräfte in Teammeetings oder bei Präsentationen zum Beispiel gegenüber Aufsichtsgremien plötzlich ihre Präsenz und Souveränität verlieren. Diese Situationen ähneln manchmal im Ansatz dem Phänomen der Prüfungsangst: Man hat plötzlich keinen Zugang mehr zu seinen Kompetenzen und Fähigkeiten, es wirkt wie ein „Blackout“. Angstgefühle und Unsicherheiten unbekannter Herkunft und unbekannten Schwerpunkts beherrschen dann das situative Erleben und verhindern eine zieldienliche, kompetenzsatte Auseinandersetzung zum Thema. Im Extremfall kann es sein, dass wir in bestimmten Situationen erstarren und dann keine Kontrolle mehr über unsere Mimik und Gestik, oder über unsere Kompetenzen im Allgemeinen haben. Es ist, als wären wir eingefroren, gedanklich und körperlich bewegungsunfähig. Jede Lebendigkeit scheint aus uns gewichen zu sein, es bleibt nur das Pokerface und der Ausdruck eines wie in Stein gemeißelten Körpers.

 

Häufig kann hiermit auch das Gefühl einer Dissoziation einhergehen. Unsere Gedanken driften weg, es scheint, als würden wir den Raum und den unmittelbaren Kontext hinter uns lassen und wie in einem Traum zu fernen Gefilden aufbrechen. Wir scheinen dann manchmal gar unseren Körper zu verlassen und die Situation „von oben“, aus der Distanz zu sehen. Die Signale und Worte der anderen erreichen uns nicht mehr, alles fühlt sich wie in Watte gehüllt an. Erst nach einiger Zeit kehren wir mit unserem Bewusstsein wieder in den Kontext zurück, manchmal, ohne dass die anderen etwas bemerkt haben, manchmal aber mit einem stark irritierten Gegenüber. Mangelnde Präsenz kann jedoch auch ein längerfristiger, nicht nur ein situativ getriggerter Zustand sein. Dann wirken wir als Führungskräfte generell eher blass und farblos, haben keine wahrnehmbare Kontur und kein klares Profil. Wir wirken regelmäßig irgendwie abwesend oder in Gedanken, zerstreut oder abgelenkt.

 

Oder die anderen empfinden uns so, als wären wir immer in einer externen Beobachterposition: die Dinge berühren uns nicht wirklich, wir bleiben für andere nicht greifbar, wirken wie durchsichtig oder unscharf. Das Gegenüber kann dann das Gefühl bekommen, wir schauen durch es hindurch, nehmen es nicht wirklich wahr. Alle diese Verhaltensweisen sind nicht hilfreich für den Aufbau von stabilen, belastbaren Bindungen und Beziehungen – und damit auch nicht für unsere Führungswirksamkeit.

 

„Ich kann und weiß alles am besten“

Selbstüberschätzung, der übersteigerte Glaube an die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen – entgegen besseren Wissens – ist eine weitere Innere Fessel. Manchmal haben wir wenig Zugang zu dem, was wir nicht wissen, zu den Grenzen unserer Kompetenzen, und überschätzen uns dann selbst. Das kann zwar problematisch sein (sofern es nicht als lernende Erfahrung prozessiert wird), ist hier allerdings nicht primär gemeint. Gemeint ist ein generalisiertes Verhalten von „Ich kann und weiß alles am besten“. Wir nehmen dann Aufgaben an, von denen wir ahnen könnten, dass sie zu groß, zu umfangreich, zu komplex für uns allein sind. Oder wir halten uns für Experten in allen möglichen Bereichen, weit jenseits unseres Kerngebiets.

 

Oft leiten wir das aus unserer „langjährigen Erfahrung“ ab, und ignorieren, dass es viele verschiedene Fachinformationen braucht, um komplexe Probleme adäquat zu bearbeiten. Pragmatische „Shortcuts“ oder bewusste Verharmlosung von Komplexitäten im Sinne von „So schwierig ist das schon nicht“ haben unbedingten Vorrang vor der Beteiligung oder Anhörung von Fachexperten. Wie in der Boulevardpresse in den letzten Jahren der Coronapandemie oft sinngemäß zu lesen war: „Deutschland hatte bisher 80 Millionen Bundestrainer, jetzt haben wir 80 Millionen Virologen“. Ein gesunder Pragmatismus, eine gesunde Distanz zu einer reinen Expertenhörigkeit sind unbenommen wichtige Führungsprinzipien, wie immer kommt es auf die Balance an. Sich selbst überschätzende Führungskräfte wirken oft so, als wären sie sich dieser Selbstüberschätzung nicht bewusst, sondern hielten sich selbst wirklich für unfehlbar und allwissend. Häufiger jedoch ist die Tatsache der Selbstüberschätzung den betroffenen Führungskräften in ihrem Inneren durchaus bewusst – zumindest grundlegend. Sie kann dann oft der Kaschierung von Unsicherheit und dem Abwenden von Versagensängsten dienen.

 

Basis für die genannte Selbstüberschätzung, aber auch für andere Innere Fesseln, ist oftmals eine hohe innere Messlatte, ein sehr hoher innerer Anspruch an die eigene Leistungsfähigkeit. Nun ist das Legen einer hohen inneren Messlatte, das Definieren von hohen Anforderungen an sich noch nicht problematisch. Die Frage ist einerseits, ob es sich nicht schon um eine „Missions Impossible“  handelt (siehe hierzu unten mehr) und andererseits, wie man damit umgeht, wenn man die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht. Folgt auf dieses Nicht-Erreichen der eigenen Ziele potenziell eine Schleife aus Selbstabwertung und eine grundsätzliche Infragestellung der eigenen Person, bekommt das Erreichen der selbst gesteckten Ziele einen existenziellen Charakter. Das Erreichen dieser Ziele wird fundamental an den eigenen Wert gekoppelt. Dieser überhöhte eigene innere Anspruch kann dann die Erscheinungsform des Getriebenseins bekommen. Es ähnelt dem Perfektionismus. Nichts ist gut genug, die Führungskraft kommt kaum noch zur Ruhe und läuft quasi ständig auf „Notstrom“. Auch hier ist die Innere Fessel von einem gesunden Ehrgeiz und Antrieb zu unterscheiden.

 

Beim Getriebensein kann sich so anfühlen, als „reiche es nie“. Egal, wie viel man investiert, was man tut oder veranlasst, wie man es auch angeht, das Erreichen eines Ziels (sofern wir es überhaupt benennen können) ist nie das Ende des Prozesses. „Es reicht nie unterscheidet sich dabei fundamental von „Es reicht nicht“. Der erste Satz ist eine Anleitung zum Unglücklichsein und eine starke Innere Fessel, der zweite Ausdruck einer „gesunden“ Ambition. „Es reicht nie“ wirkt endlos: Wir setzen uns extrem ambitionierte – manchmal gar unerreichbare – Ziele und beginnen mit Erreichen der Zielgeraden – oder oft schon davor – die nächsten Ziele zu definieren. Ein Innehalten und Würdigen des Geleisteten ist nahezu unmöglich.

 

Egal, was wir tun, es scheint immer noch mehr möglich zu sein. „Höher, schneller, weiter“ ist die Devise, ohne dass wir sagen können, wohin wir eigentlich am Ende wollen, wann wir angekommen wären. „Wann ist es genug?“ – Diese Frage können wir dann weder im Beruflichen noch im Privaten ehrlich beantworten. Es scheint so, als wäre der nächste Meilenstein die Lösung, aber beim genaueren Hinschauen müssen wir erkennen, dass dahinter schon der nächste lauert, und dahinter sich wieder ein weiterer Meilenstein am Horizont unserer „must have“-Lebensziele abzeichnet. Oft empfinden wir diese „Es reicht nie“-Fessel zunächst als Ehrgeiz oder Ambition.

 

Wenn das Ziel immer wieder in die Ferne rückt

Schnell wird beim Nachdenken aber klar, dass sie uns endlos antreiben wird, dass wir nie zur Ruhe kommen werden, dass das vermeintlich finale Ziel wie bei Tantalos immer wieder in die Ferne entweichen wird. Führungskräfte, die mit dem Glaubenssatz „Es reicht nie“ führen, haben eine Anleitung zum Unglücklichsein zur Maxime ihres Lebens erklärt. Und sie erzeugen oft eine Atmosphäre von Hektik, die Mitarbeitende demotivieren kann und im schlimmsten Falle sogar in die Erschöpfung treibt. Gleichzeitig bekommen die für eine produktive Arbeitsatmosphäre so wichtigen Momente, in denen das Erreichte gefeiert und gewürdigt wird, einen Charakter von „Ja, aber …“. Es gibt eine hohe Tendenz, sich selbst immer wieder eine „Mission Impossible“ aufzuerlegen oder sich an Zielen zu messen, deren Erreichen sie selbst gar nicht steuern können. Und: Getriebene mit „Es reicht nie“-Prämissen können auf andere unsouverän wirken, es fehlt ihnen dann ein gewisses Maß an „Gravitas“. Man merkt ihnen ihr Getriebensein an, und das kann im Einzelfall sogar dazu führen, dass ihre wichtigen, gehaltvollen und relevanten Beiträge nicht so ernst genommen werden.

 

Nahe verwandt ist die Innere Fessel der Grenzenlosigkeit. Die eigenen Grenzen und die Grenzen der anderen werden erbarmungslos überschritten, um die Ziele zu erreichen. Bei den Führungskräften selbst birgt diese die Gefahr des Ausbrennens und der Dauererschöpfung. Und in diesem Zustand stehen nicht alle Kompetenzen zur Sicherstellung der Überlebensfähigkeit der Organisation zur Verfügung, man ist im Dauerstress, weil man ständig über seine eigenen Belastungsgrenzen geht. Nur noch die aktuell dringendsten Dinge werden erledigt, das Wichtige bleibt mangels Ressourcen liegen. Das sind nicht selten die strategischen Fragestellungen, die dann den operativen Notwendigkeiten geopfert werden. Darüber hinaus ist das dauerhafte Arbeiten jenseits der eigenen Grenzen nicht gesund und langfristig eher selten dazu angetan, ein „gutes Leben“ zu führen.

 

Bei den Mitarbeitenden (und auch im privaten Umfeld der Führungskraft) sorgt das regelmäßige Überschreiten von Grenzen mindestens für Unmut und Demotivation, keiner lässt es gerne ungestraft zu, dass sich andere, also hier die Führungskraft, regelmäßig ohne Einladung im eigenen Vorgarten tummeln. Die Mitarbeitenden und Kollegen beginnen sich – oft unbewusst – dagegen zu wehren, es werden Täter-Opfer-Dynamiken mit den bereits beschriebenen Negativspiralen indiziert. Dies gilt insbesondere, wenn unser gegenüber in seiner Biografie bereits dramatische oder gar traumatische Erfahrungen mit Grenzverletzungen gemacht hat: weil es in der Vergangenheit beispielsweise Gewalterfahrungen oder Übergriffe gab. In diesen Fällen kann unser grenzverletztendes Verhalten schnell eskalieren und beim Gegenüber zu enormen Aggressionsausbrüchen in aktiver oder passiver Form führen. Wir werden uns hiermit in Kapitel 4.3.4.3 näher beschäftigen.

 

 

„Ich muss es allein schaffen sei hier als eine weitere Innere Fessel zu skizzieren. Delegieren, im Team Themen gemeinsam bearbeiten, miteinander am Ziel zu feilen, um Hilfe zu bitten und diese anzunehmen ist uns dann nahezu unmöglich. Oft erkennen wir nicht einmal, dass es vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten gäbe. Vielleicht assoziieren wir mit dem „zusammen schaffen“ ein Signal von Schwäche, vielleicht trauen wir die Aufgabe niemand anderem zu, vielleicht wollen wir den Ruhm nicht teilen. Meist jedoch fühlt es sich wie ein starker innerer Zwang an, wie etwas, das nur von uns selbst erreicht werden muss, ohne dass wir genau verstehen, warum. Wir fühlen uns dann mit den Themen fundamental allein, auf uns selbst gestellt, keiner kann uns beistehen. Das berühmte Zitat aus dem Kinofilm „Highlander“, „Es kann nur einen geben“, könnte dann hier gelten. Und die berühmte „Einsamkeit an der Spitze“ wird durch unsere Innere Fessel noch deutlich verstärkt.

 

Als ein weiteres illustratives Beispiel für Innere Fesseln soll hier noch kurz auf mangelnde (emotionale) Begeisterungsfähigkeit durch oft übertriebene Problem- und Sachorientierung hingewiesen werden. Während der Fokus auf den noch zu bearbeitenden, offenen Themen und den zu erwartenden Problemen für die unteren und mittleren Stufen der Führungshierarchie oft essenziell ist, bekommt auf den oberen Ebenen eine Balance zwischen Problemorientierung und (adäquatem) Optimismus eine immer größere Bedeutung. Es geht immer mehr darum, nicht nur die Faktenebene zu bedienen, sondern die Mitarbeitenden emotional zu begeistern und mitzunehmen. Und das passiert nicht nur über die Sachebene.

 

In der Personalberatung, wird dieses Verhalten mit der Kompetenz „Generate enthusiasm“ benannt. Es wurde als eine der wesentlichen Kompetenzen identifiziert, die vor allem auf der Vorstandsebene zunehmend eine Rolle spielt. Dies gilt insbesondere auch für große Transformationsprojekte. Die Sachebene mit all den Argumenten und Fakten, die die Veränderung plausibel und notwendig erscheinen lassen, ist der Hygienefaktor: Ohne dies geht es nicht. Die Exzellenz in der Umsetzung braucht jedoch die Begeisterung der Mitarbeiter für das Neue und vermittelt sich über die emotionale Ebene. Oder wie der Kleine Prinz von Antoine Saint-Exupéry auf die Frage der Bootsbauer antwortet: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer“. Um diese Begeisterung in anderen erzeugen zu können, braucht die Führungskraft Zugang zur ihrer eigenen Begeisterung, zu den eigenen Emotionen.

 

Nicht selten kann auch eine übermäßige Suche nach Anerkennung von außen eine Innere Fessel darstellen. Wir alle brauchen hin und wieder Anerkennung für das, was wir tun. Wir wollen, dass andere uns erkennen und sehen für das, was wir (Gutes) sind und tun. Eine solche moderate Suche nach Anerkennung zum Zwecke der Zugehörigkeit ist durchaus normal und sinnvoll – Menschen sind soziale Wesen und brauchen das Miteinander. Bei einer Inneren Fessel Anerkennung bestimmt jedoch die Frage, was die anderen wohl über das eigene Verhalten denken, wie sie uns bewerten und einschätzen, das gesamte Denken und Tun. Anerkennung wird dann wichtiger als Entscheidungskriterium für uns als das sachlich Richtige oder das Zielführendste.

 

Die Frage „Was würden die anderen sagen?“ liegt wie ein Filter über vielen Gedanken und beeinflusst oder verhindert sogar die Entscheidung für die unter Führungsgesichtspunkten für die Organisation hilfreichste Lösung. Die hier beschriebene Suche nach Anerkennung, ja fast die Sucht nach Anerkennung, ein „willing to please“ ist deutlich zu differenzieren von einer gut balancierten Resonanz auf die tatsächliche oder mögliche bzw. antizipierte Wirkung auf unser Gegenüber. Zu spüren, wo unser Gegenüber gedanklich und emotional gerade ist, ist eine Kernkompetenz in der Beziehungsgestaltung. Während diese Resonanz unsere Kommunikation bereichert und somit unsere Wirksamkeit erhöht, geht es bei der Anerkennungssucht primär um das Gesehenwerden und nicht um die Sache – diese ist gewissermaßen nur ein Mittel, sich situativ sichtbar zu machen und sich (oft scheinbar) zugehörig zu fühlen.

 

Bei Familienunternehmern kann eine Suche nach Anerkennung und Absegnung des eigenen Tuns und Handelns der jüngeren Führungsgeneration durch die ältere Unternehmergeneration oder die Gründer zu einer Inneren Fessel werden. In allen Unternehmen ist ein Generationenwechsel auf der Führungsebene eine nicht triviale Aufgabe, erfordert er doch einen kontrollierten Übergang vom Alten zum Neuen, ein gutes Managen der entstehenden Diskontinuitäten, ein achtsames und doch zielgerichtetes Frei-Schwimmen. In Familienunternehmen (in denen die Familienmitglieder aktive Führungsrollen übernehmen) kann dieser Übergang durch die familiären Beziehungen etwas komplizierter werden.

 

Die neue Führungsgeneration ist dann verwandtschaftlich an die alte gebunden und eine Emanzipation der jüngeren Generation von der älteren hat auch den Charakter einer quasi-pubertären Ablösung. Manchmal wirkt in der jüngeren Generation allerdings noch die Innere Fessel, das alles Tun und Handeln unbedingt den Segen der Älteren finden möge. Dann kann durch diese Suche nach Anerkennung gegebenenfalls das eigene Urteilsvermögen, die eigene Fähigkeit zur Analyse und Einschätzung der Situation, die eigene, freie Entscheidungskompetenz behindert oder unmöglich gemacht werden. Es besteht die Gefahr, dass das Unternehmen dann – unabhängig von der aktuellen Firmensituation und von Markt- und Wettbewerbsentwicklungen – nahezu sklavisch im Sinne der „Gründungsväter“ weitergeführt wird.

 

Eine (gegebenenfalls notwendige) Reaktion auf aktuelle Kontexte oder eine Kurskorrektur ist dann kaum möglich – würde eine Anpassung des Kurses doch gegebenenfalls von der älteren Generation (oder, falls diese schon verschieden sind, von ihren „Geistern“) nicht goutiert werden. Das ist so lange unproblematisch, wie die Ideen der älteren Generation auch heute noch tragen. Wenn nicht, liegen bei einer solchen Inneren Fessel dann die Schwerpunkte der Führungskraft eher auf der – in der Sucht nach Anerkennung durch die Älteren begründeten – Exekution von alten Familienaufträgen als auf dem, was heute zum Überleben des Unternehmens notwendig sein könnte.

 

Kein „Nein“ aus mangelnder Selbstfürsorge

Als ein weiterer typischer Kollateraleffekt der Sucht nach Anerkennung kann es uns schwerfallen, Nein zu sagen. Wir fürchten um die Anerkennung oder um die Beziehung allgemein und haben die – manchmal unbewusste – Vorstellung, das Gegenüber würde uns nicht mehr respektieren, uns nicht mehr wohlgesonnen sein oder unser Nein aus Enttäuschung als Kampfansage auffassen. Infolgedessen können wir auch die Tendenz entwickeln, Konflikte zu vermeiden, weil wir befürchten, dass wir weniger anerkannt oder geschätzt werden, wenn wir zu unserer Meinung stehen (vergleiche die Beschreibung der Inneren Fessel Konfliktvermeidung weiter oben in diesem Kapitel). In der Realität scheint ein sachlich-konstruktives, gut begründetes und empathisch kommuniziertes „Nein“ Beziehungen allerdings eher zu stärken als zu schwächen. Typisch für eine Innere Fessel suggeriert uns diese allerdings etwas anderes: „Bloß nicht Nein sagen“. Wenn es uns schwerfällt, Nein zu sagen, ist daran nicht selten auch die Innere Fessel der mangelnden Selbstfürsorge gekoppelt.

 

Besonders dramatisch kann sich die Anerkennungssucht auswirken, wenn sie sich als innere, oft unbewusste Referenz auf Mitglieder unseres Herkunftssystems bezieht. Dann werden Entscheidungen, Gedanken und Handlungen unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung z. B. durch den Vater, die Mutter oder eine andere verinnerlichte Autoritätsperson aus unserer Biografie gefiltert bzw. selektiert. Dies kann auch noch wirken, obwohl unsere damaligen Bezugspersonen bereits nicht mehr leben (wir hatten die hier potenziell wirkenden Mechanismen bereits unter dem Aspekt Generationswechsel in Familienunternehmen oben kurz beleuchtet). Diese inneren Referenzprozesse sind oft nur halb bewusst und werden erst beim Hinterfragen sichtbar. Viel häufiger zeigen sie sich jedoch in der inneren Referenz auf sogenannte Tugenden und Werte. Nun haben Werte und Tugenden prinzipiell als Orientierung oder als sinnstiftende Parameter für unser Leben sicher ihre Bedeutung. Idealerweise sollten diese jedoch hinterfragt und von unserem erwachsenen, kompetenten Führungs-Ich als sinnvoll bewertet sein, und nicht „unzensiert“ und wenig hinterfragt ihre Wirkung auf unseren Führungsalltag ausüben.

 

Ein prominentes Beispiel für eine auf Tugenden und Werten basierende Innere Fessel ist das Pflichtbewusstsein. Pflichtbewusstsein äußert sich häufig in inneren Überzeugungen von „Du musst …“ – die situative Abwägung nach dem Hilfreichsten wird dann durch Überzeugungen überlagert. Sinnvoll ist dann, nicht das Laissez-faire als ein mögliches Gegenteil von Pflicht zu setzen, sondern Verantwortungsübernahme. Zum einen ist das Übernehmen von Verantwortung ein aktiver Prozess, der eine abwägende Entscheidung voraussetzt, während Pflichtbewusstsein oft eher ungefragt, quasi automatisch wirkt. Bei dem Übernehmen von Verantwortung wird ein anderer Referenzpunkt – unser eigenes, idealerweise gut reflektiertes Wertesystem – bedient. Bei Handlungen aus Pflichtbewusstsein wirken hingegen eher von außen übernommene Prägungen und Glaubenssätze, der Referenzpunkt ist öfter extern und in der Vergangenheit verortet. Man könnte bei jeder Pflichtübung fragen: „Wer sagt, dass Du das musst?“ Des Weiteren ist Verantwortung meist vielschichtiger und umfasst dann auch die Dimension „Verantwortung für mich und mein „gutes Leben“ übernehmen“, etwas, was bei vielen Pflichten weniger im Mittelpunkt steht. Aus Pflichtbewusstsein denken und handeln, stellt also in vielen Fällen eine Innere Fessel dar.

 

Ein anderes Beispiel für eine auf Tugenden und Werten basierende Innere Fessel kann zum Beispiel die Überzeugung sein, vor allem auf das Gemeinwohl, also auf die Bedürfnisse der anderen, der Mitarbeitenden und Kollegen, der Vorgesetzten, des Unternehmens und der Shareholder zu schauen. Auf einen ersten oberflächlichen Blick scheint ein solcher Altruismus als Führungsleitsatz – insbesondere aus Sicht der Vorgesetzten und der Shareholder – recht attraktiv zu sein. Bei näherem Hinsehen kann es sich jedoch auch schnell zu einer Einladung zur Selbstvernachlässigung im Sinne von „alle anderen sind wichtiger als ich“ entwickeln und dann gegebenenfalls in einem Dauerzustand von Erschöpfung, Ausgebranntsein oder sogar Burn-out enden. Auch kann es mit einer solchen Inneren Fessel schwerfallen, ein eigenes, belastbares und differenziertes Profil zu entwickeln (man wirkt eher wie ein „Fähnchen im Wind“) und unbequeme, aber notwendige Entscheidungen gegen den Mainstream zu treffen.

 

Eine weitere Innere Fessel ist das Ausgeliefertsein gegenüber (faktisch) irrationalen Ängsten. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen unter Führungskräften ist beispielsweise die Angst vor Verarmung. Obwohl bestens ausgebildet, mit einer klaren Karriereentwicklung und entsprechenden zukünftigen Arbeitschancen, mit einem bereits ansehnlichen Vermögen und einer sicheren Rente gesegnet, zeigen sich deutliche Existenzängste. Selbst eine genaue Kalkulation der Reichweite des bereits angesparten Vermögens scheint dann nicht zur Beruhigung auszureichen. Die Innere Fessel suggeriert völlig unrealistische Horrorszenarien wie kompletter Vermögensverlust, Obdachlosigkeit, nachhaltige Dauerarbeitslosigkeit, schwerste langwierige Erkrankung ohne finanzielle Absicherung durch Krankenversicherungen etc. Horrorszenarien, die jedes für sich aber vor allem auch in der Summe vollkommen unrealistisch zu sein scheinen – vor allem in einer Gesellschaft mit einem gut funktionierenden sozialen Netz – und doch steuern uns diese diese Existenzängste umfassend.

 

Manchmal zeigt sich hier eine Version des „Es reicht nie“-Programms. Auf jeden Fall können uns solche Ängste jedoch zu den falschen Prioritäten und Entscheidungen in unserer Führungsrolle treiben, unsere Handlungsfähigkeit lähmend einschränken, ja im Extremfall sogar zu unrechtmäßiger Vorteilsnahme oder Selbstoptimierung auf Kosten der Organisation einladen.

 

Schließlich sei noch auf eine wichtige Innere Fessel hingewiesen, die wir häufig nur durch genaue Beobachtung identifizieren können: Vermeidung. Wir haben diese Innere Fessel bereits zum Beispiel bei der Konfliktvermeidung kennengelernt. In indirekter, verdeckter Form wirkt sie auch, wenn es beispielsweise um das Vermeiden von emotionaler Nähe (Empathiemangel) oder um das Vermeiden von Unsicherheiten („Datenfetischismus“) geht. Vermeidung kann aber auch direkt auftreten und uns dann – oft halb- oder unbewusst – einladen, bestimmte Personen, Situationen, Gespräche, Umstände etc. zu meiden. Dann gibt es Kunden, Kollegen oder Mitarbeitende, denen wir – scheinbar ohne nachvollziehbaren Grund – aus dem Weg gehen, obwohl uns unsere Führungsaufgabe eigentlich nahelegt, den Kontakt zu suchen. Oder wir vermeiden den – für unsere Aufgabe eigentlich wichtigen – Besuch bestimmter Veranstaltungen oder die Teilnahme an bestimmten Diskussionsrunden.

 

Auch die Vermeidung bestimmter Geschäftsreiseziele oder einzelner Reisemittel kann eine Ausprägung dieser Inneren Fessel sein. Manchmal sind es auch bestimmte Räume oder Orte, die unsere Vermeidungsfessel aktivieren. Die Liste wäre beliebig fortsetzbar. In der Regel gelingt es uns zunächst ganz gut, diese Vermeidungen rational zu rechtfertigen – bei genauerer Beobachtung wird jedoch oft die Wirkung einer Inneren Fessel sichtbar.

 

Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch auf eine andere Ausdrucksform von Inneren Fesseln hingewiesen: körperliche Symptome. Viele Führungskräfte leiden unter einer oder mehreren Körpersymptomen. Genannt werden sollen hier beispielhaft verschiedene Formen von Schmerzen, Verspannungen, Knochen- und Gelenkbeschwerden, Magen-Darm-Beschwerden, Hautbeschwerden, Schlafstörungen etc. Zunächst sollten diese Beschwerden hinreichend medizinisch abgeklärt werden. In nicht seltenen Fällen führt dies jedoch zu keiner klaren somatischen Ursache bzw. zu der Aussage, die Beschwerden seien durch den Lebens- und Arbeitsstil oder durch die Stressbelastung verursacht. In solchen Fällen können Körpersymptome sehr wertvolle Hinweisgeber auf Innere Fesseln sein. Dann ist die Alternative zu einer eventuell langwierigen symptomatischen Behandlung zum Beispiel mit Schmerzmitteln gegebenenfalls das Erforschen der inneren Glaubenssätze und Überzeugungen, die uns krank werden lassen.

 

Schließlich zeigen Führungskräfte manchmal eine übertriebene jedoch (noch) nicht als medizinisch-pathologisch zu klassifizierende Neigung zu gesellschaftlich akzeptierten Drogen wie Alkohol und anderen. Auch diese Verhaltensmuster können wertvolle Hinweise auf Innere Fesseln als Treiber des Geschehens darstellen. Gleichzeitig gehört das Behandeln einer ausgeprägten Suchterkrankung allerdings klar in die Hände von medizinischen Fachleuten.

 

Abschließend sollte noch auf eine besondere Innere Fessel hingewiesen werden: das Opfer der Umstände . Sind wir Opfer der Umstände, dann erkennen wir scheinbar nicht, was unser Verhalten, unsere Inneren Fesseln, in und mit unserem Gegenüber, mit den Teams und Kollegen, mit der Organisation anrichten. Wir werden vielleicht durch Feedback darauf hingewiesen, wollen das aber nicht wahrhaben. Anstelle dessen konstruieren wir uns eine Vielzahl von Gründen, warum „die anderen“ schuld sind und wir nur auf äußere Reize reagieren. „Die anderen“, das sind dann die uneinsichtigen, zu faulen, zu inkompetenten oder „veränderungsresistenten“ Kollegen. Oder die langwierigen Prozesse, die unflexiblen Strukturen, die überflüssigen Gremien, die unbarmherzigen Shareholder. Oder die unvorteilhaften Marktbedingungen, der so aggressive Wettbewerb, der Preisdruck.

 

Alles gibt uns Gründe, warum wir nur genau so reagieren können, wie wir es tun. Wir erleben dann einen Realitätsverlust, können alles nur aus der Perspektive einer Einbahnstraße sehen. Wir sind die Opfer der Umstände. Diesen Realitätsverlust kann man auch als eine Innere Fessel zweiten Grades sehen. Sie können entstehen, weil wir der Scham über die Wirkung unserer „primären“ Innere Fesseln, die wir an anderen ausleben, nur so entkommen können. Weil das Erkennen unserer Schuld, unserer Taten, zu schmerzhaft wäre, machen wir uns lieber zum Opfer und „die anderen“ zu Tätern. Wir werden auf diesen speziellen Aspekt später zurückkommen.

 

Viele der oben genannten Inneren Fesseln zeigen sich vor allem zunächst in bestimmten Denk- und Verhaltensmustern. Es gibt jedoch auch Innere Fesseln, die sich vor allem oder sogar ausschließlich auf einer emotionalen Ebene manifestieren und aus dieser heraus unser Verhalten und Denken zu steuern vermögen. Eine solche Innere Fessel ist beispielsweise das Gefühl von allgegenwärtiger Schuld. Schuld als Innere Fessel ist nicht mit bestimmten Situationen oder Zusammenhängen, in denen wir vielleicht tatsächlich schuldig geworden sind (zum Beispiel, weil wir einem Menschen über den Mund gefahren sind, einen Geburtstag vergessen haben oder jemand das Auto angefahren haben), korrelierbar. Sie ist weit verbreitet und allgegenwärtig. Immer fühlen wir uns für irgendetwas schuldig, wissen aber nicht wirklich wofür. Es ist, als wenn wir eine universelle Schuld tragen müssen.

 

Nicht selten korreliert das mit einem verminderten Selbstbewusstsein und einem grundlegenden Gefühl, nicht richtig zu sein so wie wir sind. Aus diesem Grundgefühl heraus können sich einige der oben genannten Inneren Fesseln wie Konfliktvermeidung, den Präsenzmangel oder die Suche nach Anerkennung speisen. Die allgegenwärtige Schuld kann aber auch ganz andere Verhaltensweisen bedingen: zum Beispiel eine überproportionale Harmoniesucht oder eine eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit, bedingt durch eine durch unser Schuldgefühl verzerrte Realtitätswahrnehmung. Eine phänotypisch ähnlich wirkende Innere Fessel kann ein allgegenwärtiges Gefühl von Scham sein. Auch hier bleibt uns der Grund für die Scham oft zunächst verborgen, wir wissen nicht, wofür wir uns eigentlich schämen. Und doch treibt das allgegenwärtige Gefühl unser Verhalten und Denken, unser Miteinander und unsere Beziehungsgestaltung.

 

Beide oben genannten Gefühle, Schuld und Scham, sind prinzipiell sehr machtvolle Gefühle, die wir gegebenenfalls unbedingt zu vermeiden versuchen – hier zeichnet sich eine klare Verbindung zur Inneren Fessel Vermeidung (siehe oben) ab. Zum Schluss sei in dieser Kategorie von Inneren Fesseln noch die grundlegende Sehnsucht nach Rache genannt. Auch dieses Gefühl wird erst durch seine Allgegenwärtigkeit, durch seine Entkopplung von bestimmten, gegenwärtigen Einzelerlebnissen zu einer Inneren Fessel, kann dann aber sehr umfassend unser Verhalten und Denken steuern. Ein gutes (und leider nicht zu seltenes) Beispiel hierfür wären generell diskriminierende, abwertende, angreifende oder respektlose Verhaltensweisen von männlichen Führungskräften den weiblichen Kollegen gegenüber. Nicht selten wirkt hier ein Rachebedürfnis allen Frauen gegenüber, pauschal und allgemeingültig, unabhängig von dem individuellen Gegenüber und unserer Beziehungshistorie mit ihr.

 

Manchmal versuchen wir, dieses Verhalten intellektuell zu rechtfertigen, durch Einzelerfahrungen zu legitimieren, aus unserer Erfahrung abzuleiten. In unserem Inneren müssen wir aber oft schnell feststellen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist und dass es dahinter eigentlich um pauschale Rache an dem anderen Geschlecht gehen könnte. Das beschriebene Muster lässt sich beliebig auf andere Gruppen übertragen: auf „die Männer“, „die Betriebsräte“, „die Linken“ oder wen auch immer. Wie alle Inneren Fesseln ist auch das Rachebedürfnis durch Einzelerfahrungen nicht abzustellen, es nimmt in der Regel nicht ab, wenn wir uns erfolgreich an der Kollegin, dem Betriebsrat, der Nachwuchsführungskraft, die an unserem Stuhl sägt, gerächt haben. Es verändert sich nichts an unserem Rachebedürfnis, weil es gar nicht um diese speziellen Menschen geht, an denen wir uns abarbeiten, sondern um etwas anderes, um etwas, für das wir uns rächen müssen, aber nicht genau wissen, an wem und wofür.

 

Ganz zum Schluss sei noch auf eine Innere Fessel hingewiesen, die gewissermaßen auf einem anderen Level als die anderen, auf einer Metaebene wirkt: die oft verzweifelte Suche nach Sinn. Häufig haben wir uns mit vielen unserer Inneren Fesseln arrangiert. Wir haben work-arounds gefunden, können durch Vermeidung einigen der Trigger aus dem Weg gehen und haben – oft unter Missbrauch unserer Macht über die Betroffenen – dafür gesorgt, dass die verbleibenden Inneren Fesseln von den tangierten Mitmenschen als besondere Gewohnheiten, persönliche Spleens oder charakterliche Macken interpretiert und zähneknirschend akzeptiert werden. Wir kommen klar, haben uns einigermaßen arrangiert.

 

Und doch holt uns oft in der zweiten Hälfte unseres Arbeitslebens manchmal das Gefühl ein, dass wir nur noch funktionieren. Der Kick, den wir früher in der Aufgabe verspürt haben, hat sich marginalisiert. Wir vermissen dann den Sinn des Ganzen, fragen uns, warum wir den so lange verfolgten Weg eigentlich weitergehen sollen. Die einmal definierten Ziele verlieren an Attraktivität und können uns nicht mehr bei der Stange halten. Das am Horizont in Aussicht stehende Vermögen oder der avisierte Lebensstil verlieren an Glanz. Zu hoch scheint der tägliche Einsatz, zu viel Energie kostet der weitere Weg, zu wenig inneren Zufriedenheit und Glück hinterlässt unser Tun und Handeln. Wir sind in der Tiefe am Zweifeln: Wofür das Ganze? Wohin soll das alles führen? Und was wäre die Alternative? Und häufig auch: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich aus? Was möchte ich eigentlich mit meinem Leben noch machen? Lebe ich das Leben, das ich leben möchte? Nicht selten ist dieser tiefe Zweifel eine Meta-Konsequenz der jahrelangen Ignoranz gegenüber den einzelnen Inneren Fesseln. Und wird dann auf der Meta-Ebene eine eigene Innere Fessel: die verzweifelte Suche nach dem Sinn. Unsere Motivation lässt nach, wir beginnen die jahrelang aufgebaute Erschöpfung zu spüren, haben gefühlt keine Kraft mehr zum Weitermachen. Und parallel grübeln wir über der Sinnfrage. In diesem Zustand können wir in der Regel unserer Führungsaufgabe nur noch bedingt nachkommen.

 

Manchmal bietet sich ein weiteres „Ich muss“ als Abhilfe an, doch auch dies hilft irgendwann nicht mehr. Im Extremfall landen wir in der Melancholie oder in einer depressiven Phase. In diesen Situationen würde ein innerer Kontakt zu unserer Begeisterung helfen: Was macht mir wirklich Freude? Wofür brenne ich? Was will ich mit meinem Leben bewirken? Allein: häufig haben wir genau diesen Kontakt verloren (vergleiche die Innere Fessel der mangelnden Begeisterungsfähigkeit). Die Inneren Fesseln halten uns dann fest im Griff, auf der individuellen wie auf der Metaebene.

 

Die Liste möglicher Ausprägungen von Inneren Fesseln ließe sich noch beliebig fortsetzen. Auch können Innere Fesseln miteinander kombiniert oder teilweise zu neuen Mischformen verschmolzen auftreten. Die genannten Schlagworte zur Beschreibung einzelner Innerer Fesseln sind nicht exklusiv, sondern illustrativ für typische Innere Fesseln.

 

Alle oben genannten Verhaltens- und Denkmuster können situativ nützlich und effektiv sein. So kann es bei Führungsaufgaben unter hohem Zeitdruck und mit schwächer qualifizierten Mitarbeitenden durchaus angemessen sein, diese eng zu führen und viel vorzugeben. Die „harte“ Auseinandersetzung mit einem Kollegen bzw. das Schweigen in einer Meetingsituation kann für das Erreichen der Ziele als der situativ richtige Weg erscheinen. Genauso kann das Verfolgen eines ambitionierten Zieles mit „Mission-Impossible“-Charakter im spezifischen Einzelfall wesentlich für das Überleben der Organisation sein. Problematisch werden diese Denk- und Verhaltensweisen, wenn sie sich innerlich als situations- und kontextübergreifend, quasi als „Allzwecklösungen“ anbieten. Denn dann bekommen sie den Charakter von Inneren Fesseln: Sie beeinträchtigen unsere situative Flexibilität und den Einsatz des hilfreichsten Führungswerkzeugs. Und sie haben alle einen signifikanten Einfluss auf unsere Führungskompetenzen.

 

Nicht immer zeigen sich unsere Inneren Fesseln in der oben geschilderten Deutlichkeit und nicht immer sind sie so ausgeprägt. Häufig jedoch sind sie wesentliche Bausteine unserer eigenen inneren Sabotage. Mehr als wir hoffen oder glauben wollen, behindern sie uns in unserer Weiterentwicklung als Führungskraft – und in unserer Wirksamkeit.

 

4.1.2         Innere Fesseln transzendieren die Führungsrolle

Wir können deutlich sehen: Unsere Inneren Fesseln haben weniger mit der Rolle als Führungskraft zu tun als mit unserer gesamten Persönlichkeit, unserem Menschsein. Sie beschränken uns nicht nur in unserer Führungswirksamkeit, sondern auch im Privatleben. Innere Fesseln transzendieren die verschiedenen Rollen, die wir im Leben einnehmen: Führungskraft, Eltern, Partner, Freunde, Mitbürger etc. Perfektionismus, Schwierigkeiten im Umgang mit Konflikten, die Tendenz, alles selbst zu machen, oder Schwierigkeiten damit, anderen zu vertrauen – all das kann auch unser Zusammenleben mit dem Partner, unsere Erziehungsversuche mit unseren Kindern, unsere Freundschaften beeinträchtigen.

 

Aus diesem Grund ergibt es bei einer Bearbeitung der Inneren Fesseln Sinn, sich den Bereich unseres Lebens anzuschauen, bei dem diese am deutlichsten zum Vorschein kommen und wo der Veränderungswunsch am höchsten ist – dort, wo der Leidensdruck am größten oder die Vision von einem „besseren Leben“ sich am greifbarsten materialisiert. Auch wenn die Innere Fessel sich nicht primär im Berufs-, sondern im Privatleben zeigt, wird eine Bearbeitung auch unsere Führungskompetenzen verbessern. Wie bereits weiter vorne im Buch beschrieben: Bei Führungskräften gibt es umso weniger eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatsphäre, je höher sie in der Hierarchie aufsteigen, je umfassender die Verantwortung ist.

 

Führungskraftentwicklung durch Ent-Fesselung, die sich künstlich nur auf den beruflichen Bereich fokussieren will, bei der es ausschließlich um konkrete berufliche Herausforderungen gehen darf, beschränkt sich somit in gewisser Weise selbst. Es geht – vor allem bei Führungskräften der oberen Ebenen – um die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit. Sonst bleibt Führungskraftentwicklung auf die Entwicklung von Rollen, von Personae im Sinne von C.G. Jung, beschränkt. Dann besteht die Gefahr, dass Rollenmodelle als Verhaltensschablonen und Masken eingeübt werden, die dann gewissermaßen über die Persönlichkeit gestülpt werden. Die dahinter wirkenden Kräfte bleiben dann im schlimmsten Falle unberücksichtigt und wirken weiter. Diese Prozesse können wertvolle Energien binden, die dann nicht für die eigentlichen Führungsaufgaben – oder für ein „gutes Leben“ – zur Verfügung stehen. Sie beeinträchtigen unsere Authentizität und somit unsere Führungswirksamkeit.

 

4.1.3         Woran man Innere Fesseln erkennt

Inneren Fesseln haben eine Reihe von übergeordneten Charakteristiken.

Zunächst haben diese heute als Innere Fesseln erlebten Dynamiken sehr häufig die Eigenschaft, dass sie uns schon lange in unserer Karriere (und oft darüber hinaus) begleiten und nicht erst in den letzten Jahren entstanden sind. In vielen Fällen sind diese Verhaltens- und Denkmuster bis weit in unsere frühe Biografie, in die Jugend und Kindheit zurückzuverfolgen. Gleichzeitig sind sie oft ein Kernbestandteil unseres bisherigen Erfolgs: Sie haben wesentlichen Anteil an wichtigen Entscheidungen auf unserem Berufsweg. Sie haben uns so weit gebracht, durch sie sind wir da, wo wir heute beruflich stehen. Sie schienen Garanten und Katalysatoren für beruflichen Erfolg und Entwicklung – bisher. Und heute erleben wir sie mehr und mehr als limitierend, als nicht mehr adäquat für unsere Wirksamkeit – und für unser Wachstum. Sie sind gewissermaßen von Garanten des Erfolgs zu Ansatzpunkten für die persönliche und berufliche Weiterentwicklung geworden.

 

Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass alles Gesagte analog für unser Privatleben gilt. Auch hier spielen die heute als Innere Fesseln erlebte Denk- und Verhaltensmuster eine entscheidende Rolle in der Auswahl unserer Freundeskreise, in der Partnerwahl und der Gestaltung unserer Beziehungen, in der Erziehung und im Umgang mit unseren Kindern.

 

Das wichtigste und auffälligste Charakteristikum ist, dass die Inneren Fesseln oft einen Automatismus, einen Programmcharakter haben. Sie laufen automatisch ab, wie ein einmal gestartetes Programm – eine Unterbrechung ist scheinbar unmöglich. Es fühlt sich nach einem starken, fast unwiderstehlichen inneren Zwang von „Du musst …“ an. Wir werden Sklaven des Programms. Unser Verstand, der manchmal erkennt, was passiert, ist oft nicht imstande, das Programm zu unterbrechen und muss hilflos zuschauen, wie wir erneut den Automatismen erliegen. Eine Steuerung oder ein Eingreifen scheint unmöglich, wir sind dem Programm für eine Zeit wie ausgeliefert. Es ist, als würde uns etwas „anderes“ übernehmen, uns steuern und in die bekannten Denk- und Verhaltensmuster zwingen – obwohl wir kognitiv erkannt haben, dass diese für die Situation ganz und gar nicht hilfreich sind.

 

Die Programme scheinen stärker als wir. Ein Beispiel: Wir haben am Ende des Arbeitstages noch eine Masse unbearbeiteter E-Mails im Postfach. Nach schneller Durchsicht der Betreffzeilen kommen wir kognitiv zum Schluss, dass keine der Mails eine sofortige Bearbeitung erfordert oder zeitkritisch ist. Trotzdem wird ein innerer Zwang spürbar, diese doch noch abzuarbeiten. Oder unsere Erfahrung sagt uns, dass die Daten für die Präsentation im Großen und Ganzen stimmig sind und für den Zweck des Gesprächs mehr als ausreichend, trotzdem empfinden wir den inneren Zwang zu weiteren Analysen und Überprüfungen. Oder wir wissen, dass wir dem Mitarbeitenden die Aufgabe gut anvertrauen können, weil er hervorragend ausgebildet ist und auch bereits bewiesen hat, dass er ähnliche Aufgaben zur vollen Zufriedenheit erledigen kann.

 

Trotzdem nagt ein grundlegender Zweifel an uns und wir schauen dem Mitarbeitenden häufig über die Schulter, um seine Arbeit zu kontrollieren, oder geben ihm so detaillierte Vorgaben, dass er nur noch abarbeiten kann und kein Raum für eigenes Denken und Handeln bleibt. Die Kollateralschäden – zum Beispiel mangelnde Eigeninitiative, das Nicht-Mitdenken des Mitarbeitenden, Demotivation und Lustlosigkeit – werden zwar erkannt, aber unser innerer Zwang zur Kontrolle lässt uns keine Wahl. Ein weiteres Beispiel wäre ein potenziell konfliktträchtiges Gespräch mit einem Kollegen, bei dem es uns trotz entsprechender Vorbereitung nicht gelingt, ruhig zu bleiben. Wir haben es vorgeplant, unsere Argumente sind parat, wir haben uns auch auf die zu erwartenden Gegenargumente eingeschwungen und uns Verhaltensweisen zurechtgelegt, um den Konflikt ohne aufschäumende Emotionen konstruktiv zu lösen. Und trotzdem bekommen wir es nicht hin: Innerhalb von Sekunden sind wir „auf 100“ und der Konflikt eskaliert – oft ausgelöst und geschürt durch unser eigenes Verhalten.

 

Die Emotionsampel

Um Situationen bezüglich einer möglicherweise wirkenden Inneren Fessel einordnen zu können, habe ich als Hilfsmittel in der Arbeit mit meinen Klienten das Modell der Emotionsampel entwickelt.

Die Grundannahme hierbei ist zunächst, dass alle Emotionen in unserem Alltag grundsätzlich einen Sinn haben und es wert sind, beachtet zu werden. Die meisten Emotionen können aus meiner Perspektive auch als „Anwälte unseres Lebensglücks“ betrachtet werden. So weisen Ängste auf mögliche Gefahren hin, Ekel hält uns zum Beispiel davon ab, für uns gegebenenfalls Schädliches zu konsumieren. Schmerzen weisen uns darauf hin, dass wir an einer Körperstelle beeinträchtigt und nicht voll leistungsfähig sind, selbst Liebeskummer kann als Hinweis auf die Bedeutung von nahen Beziehungen interpretiert werden. Schließlich setzt sich auch die Wut letztendlich für unser Lebensglück ein, denn sie entsteht regelmäßig, wenn wir an dem Erreichen unserer Ziele und Wünsche gehindert werden. Den aufkommenden Gefühlen einen Raum zu geben und ihnen mit Neugier zu begegnen, ist eine Grundvoraussetzung, diese zu verstehen und ggf. zu bearbeiten. Das „Wegdrücken“ oder Negieren, das Überspielen oder das wütende Abwerten sind – für eine Veränderung – keine hilfreichen Aktionen, sosehr wir das in den jeweiligen Situationen vielleicht auch wünschen. Denn: „Verdrängtes geht in den Keller und macht dort Fitness.“

 

Wenn wir uns der sich zeigenden Emotionen bewusst geworden sind, kann es förderlich sein, sie innerlich in eine Ampellogik einzuordnen: „Grün“ wird hierbei für situationsadäquate Emotionen genutzt, „gelb“ und „rot“ für nicht-situationsadäquat (hierbei ist der Übergang zwischen gelb und rot eher als graduell einzustufen und soll eher die individuelle Einschätzung der Inkongruenz mit der Situation ausdrücken). In den „gelb/roten“ Fällen ist die Intensität der Emotionen oder die Emotionen selbst also nicht einfach aus der Situation abzuleiten, quasi nicht als „natürliche“ Reaktion auf die Situation zu werten. Wir scheinen „überzureagieren“. Bei „gelb/roten“ Emotionen reagieren wir auf äußere Trigger, auf die sich uns darstellenden oder antizipierten Situationen und Kontexte, mit Emotionen, die mit anderen Erlebnissen verbunden sind.

 

Aus diesen kann sich die Amplitude der Emotionen in der aktuellen Situation speisen. In den meisten Fällen triggern die Situationen emotionale und oft unbewusste Erinnerungen an frühere, als schwere Wunden erlebte Erlebnisse. Wir bekommen gewissermaßen „Besuch aus der Vergangenheit“. Auf jeden Fall spielen bei „gelb/roten“ Emotionen Verknüpfungen mit anderen, früheren und oft nur unbewusst abgespeicherten Erlebnissen – jenseits der aktuellen Situation – eine wichtige Rolle und stellen die Ampel gewissermaßen von „grün“ auf „gelb“ oder „rot“.

 

Natürlich ist Einordnung entlang der Emotionsampel äußerst subjektiv und kann nur auf einer inneren Bewertung von Stimmigkeit beruhen. Sie unterscheidet sich auch für eine gegebene Situation sicherlich von Mensch zu Mensch. Was für den einen noch „grün“ ist, ist für einen anderen bereits „gelb“ oder gar „rot“. Maßstab ist, inwieweit sich die Emotion für das angestrebte Verhalten als adäquat anfühlt. In nicht wenigen Fällen kann die Einordnung entlang der Emotionsampel sich auch im Laufe eines Entwicklungsprozesses verändern: Was gestern noch als „grün“ bezeichnet wurde, erscheint uns heute immer mehr als „gelb“ und vielleicht sogar irgendwann als „rot“.

 

Hier ein Beispiel zur Illustration: Eine gewisse Grundaufregung vor einer wichtigen Präsentation vor einem Aufsichtsgremium ist wohl in den meisten Fällen als „grün“ zu klassifizieren. Schließlich steht etwas auf dem Spiel und eine gewisse Grundanspannung ist eine physiologische Reaktion auf diese Herausforderung. Unsere Aufmerksamkeit steigt, wir sind auf die anstehende Aufgabe fokussiert und alle Systeme laufen auf Hochtouren, um das Beste zu erreichen. Die Aufregung kann ein Signal sein, dass unsere Intuition uns zeigt, dass bestimmte Aspekte der Präsentation oder Gesprächsplanung noch Lücken aufweisen, bestimmte realistisch zu erwartenden Fragen nicht vorbereitet sind oder Inkonsistenzen in der Präsentationslogik existieren. Diese Aufregungsemotionen wären in der Ampellogik noch immer „grün“. Sie sind hilfreiche (unbewusst oder halbbewusst erzeugte) Hinweisgeber, dass wir noch auf etwas achten sollen. Auf der anderen Seite wären mehrere schlaflose Nächte vor der Präsentation, eine Erstarrung in lähmender „Prüfungsangst“, überschäumende Aggressivität oder eine ausgeprägte innere Unruhe vor einer gut vorbereiteten und nach allen Regeln der Kunst gestalteten Präsentation vermutlich bei den meisten Führungskräften eher als „gelb“ oder „rot“ einzustufen. Sie sind weder adäquat noch zieldienlich, sondern haben das Charakteristikum von Inneren Fesseln. Sie stehen unserer Wirksamkeit im Wege, wirken wie innere Saboteure.

 

Als eine weitere Illustration soll das Thema des Mikromanagements dienen. Einem weniger qualifizierten Mitarbeitenden regelmäßig über die Schulter zu schauen, engere Deadlines zu setzen und den Arbeitsfortschritt in bestimmten Abständen zu kontrollieren, weil man ein Störgefühl empfindet und das Vertrauen eingeschränkt ist, scheint in vielen Fällen situationsadäquat, also „grün“. Insbesondere, wenn wir noch weitere Beobachtungen haben, in denen der Mitarbeitende unsere Erwartungen nicht erfüllt hat. Dasselbe Störgefühl und dieselbe innere Unruhe bei erfahrenen, hoch qualifizierten und nachweislich verlässlichen Mitarbeitenden zu empfinden, wäre eher „gelb/rot“. Allgemeiner: Ein stabiles, breites Grundvertrauen in die anderen mit einem punktuellen, personenkonkreten und von spezifischen Erfahrungen geprägten Misstrauen wäre in vielen Fällen als „grün“, also situationsadäquat zu interpretieren. Ein grundsätzliches und umfassendes Misstrauen anderen gegenüber, allgemeingültige Überzeugungen von „auf den kann ich mich nicht verlassen“ oder „das wird bestimmt wieder nichts bei dem“ wären vermutlich eher als „gelb/rot“ einzustufen.

 

Empathiemangel als Einladung zur inneren kündigung

Schließlich noch ein letztes, verwandtes Beispiel aus dem Bereich Empathie. Wenn wir im Regelfall die Mitarbeitenden auf ihre Funktion und Aufgaben reduzieren, ohne den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Nöten und Wünschen dahinter wahrnehmen zu können, muss dies eher als „gelb/rot“ gewertet werden. Im situativen Notfall, in einer akuten Krise oder unternehmerischen Schieflage kann es natürlich situationsadäquat („grün“) sein, kurzfristig eher auf die Funktion des Mitarbeitenden zu fokussieren und ggf. auch emotionale oder menschliche Themen etwas weniger wichtig zu nehmen. Ist der Empathiemangel jedoch ein Dauerzustand, ist dies in den meisten Fällen nicht zieldienlich für die Führungsaufgabe, da wir Mitarbeitende verlieren, demotivieren, auf Abarbeitung reduzieren oder zur inneren Kündigung einladen. Der Empathiemangel weist dann häufig auf die Frage hin, inwieweit wir selbst mit uns eigentlich empathisch und mitfühlend umgehen und offenbart so eine Innere Fessel.

 

Abschließend sei erwähnt, dass schon das Anwenden der Emotionsampel in einzelnen (weniger komplexen) Fällen eine Lockerung von Inneren Fesseln bewirken kann. Durch die gedankliche Einordnung der Emotion wird ein innerer Beobachter aktiviert, der bereits eine Neuausrichtung auf das als „grün“ assoziierte Verhalten oder Denken ermöglicht – bei gleichzeitiger Beobachtung der inneren Einladung zur Regression (siehe unten). Psychologisch gesehen hilft uns dann das Etablieren des inneren Beobachters, im Hier und Jetzt zu bleiben und situationsadäquat zu reagieren.

 

Es ist an dieser Stelle ratsam, Innere Fesseln auch von lieb gewonnenen Gewohnheiten und alltäglichen Routinen abzugrenzen. Auch Gewohnheiten und Routinen können uns behindern, uns im Wege stehen, und sie können sich als recht hartnäckig herausstellen. Der Übergang zu Inneren Fesseln ist deshalb oft fließend. Um die beiden Phänomene gegeneinander abzugrenzen, kann es sinnvoll sein, den Unterschied vor allem daran festzumachen, dass wir Gewohnheiten und Routinen irgendwie doch selbst in den Griff bekommen können. Unsere Eigensteuerungsfähigkeit funktioniert hier noch. Wir haben – zwar nur unter einer gewissen Anstrengung – letztlich die Kontrolle und können Gewohnheiten und Routinen durch kognitive Einsicht und aus innerer Überzeugung verändern.

 

Auch können wir diese inneren Prozesse oft unter Zuhilfenahme einiger psychologischer (verhaltensorientierter) Tipps und Tricks „überlisten“ oder „austricksen“. Dies ist damit zu erklären, dass die inneren, emotionalen Barrieren für eine Veränderung meist deutlich niedriger sind. Veränderungen von Gewohnheiten und Routinen sind zwar manchmal lästig, sie destabilisieren uns emotional aber deutlich weniger und scheinen insgesamt emotional besser verarbeitbar zu sein. Anders bei Inneren Fesseln: Hier reicht unser Verstand, die Einsicht, dass das Verhalten nicht hilfreich ist, allein in der Regel nicht aus, um eine Veränderung zu vollziehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, um Innere Fesseln von Gewohnheiten und Routinen abzugrenzen, scheint der Preis zu sein, den wir für das Verhalten, für die Wirkung der Inneren Fessel, zahlen. Nicht jede – wenn auch lästige – Gewohnheit schränkt uns gleich ein, vor allem wenn sie beispielsweise nur selten auftritt oder wenn wir bereits gute „work-arounds“ entwickelt haben. Wir werden uns in Kapitel 4.2 mit diesem Preis der Inneren Fesseln noch genauer beschäftigen.

 

Es sei hier noch auf ein weiteres Charakteristikum von Inneren Fesseln hingewiesen, das sich jedoch oft erst durch genauere Beobachtung zeigt und nicht so offensichtlich ist. Häufig geht mit dem Einsetzen der genannten Programme das Gefühl einer sogenannten Altersregression einher. Wir fühlen uns in diesen Momenten nicht mehr wie die erwachsenen, kompetenten Manager, die wir in der gegenwärtigen Realität sind, sondern schrumpfen quasi innerlich. Es fühlt sich an, als wären wir wieder Kleinkinder und nicht ausgewachsene, exzellent ausgebildete Führungskräfte. Analog zur gefühlten Regression stehen uns auch manche der erwachsenen Kompetenzen weniger zur Verfügung, es stellen sich eher kindliche Verhaltensmuster wie Trotz, Wutausbrüche, Resignation und Rückzug und Ähnliches ein. Unsere Kompetenzen zur Konfliktmoderation, Emotions- und Frustrationskontrolle, multimodaler Beziehungsgestaltung, Verhandlungsführung usw. – alles, was wir in den Jahren unseres beruflichen und persönlichen Wachstums gelernt und verinnerlicht haben – scheinen uns nicht (mehr) oder nur schwer zugänglich.

 

Übrig bleiben nicht situationsadäquate, nicht mehr altersadäquate Verhaltensmuster, in denen wir für einen Moment wie gefangen sind. Das Beobachten der eignen Altersregression braucht ein wenig Übung und vor allem eine gewisse Erfahrung mit Selbstreflexion und Selbstbeobachtung. Die einfache Frage „Wie alt fühlen Sie sich genau jetzt (bitte nehmen Sie die erste Zahl, die Ihnen einfällt)?“ kann helfen, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen.

 

Häufig ist die Begegnung mit Inneren Fesseln, das Ablaufen der o. g. Programme und Automatismen mit einer Reihe von inneren emotionalen Kollateralschäden begleitet. Selbstverurteilung und Selbstabwertungen im Sinne von „Das hast Du wieder mal verbockt“ oder „Du hast es wieder nicht geschafft, obwohl Du doch weißt, was sinnvoll wäre“ sind häufige Begleiterscheinungen. In manchen Fällen tritt auch ein Gefühl von Scham auf. Wir spüren, dass wir nicht situationsadäquat reagiert haben, und fürchten die Reaktion anderer. Gefühle von Hilflosigkeit und Verzweiflung, von Überforderung bis zur Resignation ob der Nicht-Steuerbarkeit der Programme sind nicht unüblich. Auch kann sich die – häufig sehr unangenehme Scham – in einer Wut auf uns selbst manifestieren. Schließlich können wir uns als Opfer unserer eigenen Unzulänglichkeiten fühlen. Und fast immer ärgern wir uns, dass wir es nicht besser hinbekommen haben, sondern wieder „in die Falle getappt“ sind.

 

Die Ausprägung der in diesem Abschnitt genannten Charakteristika ist naturgemäß bei jeder Führungskraft individuell verschieden. Entscheidend ist jedoch, dass wir das Verhalten als nicht hilfreich klassifizieren und das Gefühl oder die Erfahrung haben, es nicht so ohne Weiteres verändern zu können. Dies ist der Ansatzpunkt – und die unbedingte Voraussetzung – für das Lockern der zugrunde liegenden Inneren Fesseln.

 

4.1.4         In Inneren Fesseln sind viele Kompetenzen gebunden

Bei Betrachtung der vielfältigen Inneren Fesseln wird deutlich, dass viele auch für die Führungsaufgabe im Prinzip zielführende Kompetenzen enthalten, ohne die man seine Rolle als Führungskraft nur schwer ausführen kann. In der „gefesselten“ Version sind diese Kompetenzen Sklaven des „Muss“, sie werden pauschal immer und in voller Stärke angewendet, eine situativ angepasste Nutzung, Anpassung oder eine Aussteuerung der Amplitude finden nicht statt. Wir werden später sehen, dass nach Wegfall dieses „Muss“, nach der Ent-Fesselung, viele der verborgenen Kompetenzen verfügbar und situativ steuerbar werden und uns dann gute Dienste leisten

 

.Welche Kompetenzen sind denn nun in Inneren Fesseln gebunden? Hier einige illustrative Beispiele:

Der Perfektionismus und der „Datenfetischismus“ beinhalten meist die Kompetenz, sich tief in Details einarbeiten zu können und Lücken, Unzulänglichkeiten oder Inkonsistenzen im Gesamtbild schnell und effizient zu erkennen. Auch die Fähigkeit, die jeweils optimal denkbare, ideale Lösung zu erkennen, ist als Kompetenz angelegt.

Im Mikromanagement steckt zum Beispiel oft auch eine hohe Lösungsorientierung und eine hohe Identifikation mit den Themen als gebundene Kompetenz, schließlich beinhaltet diese Innere Fessel eine hohe Bereitschaft, zum Erreichen des Ziels alles und alle in Bewegung zu setzen. Ebenso ist hier die Bereitschaft verankert, selbst mit Hand anzulegen, wenn nötig, also gegebenenfalls auch tief in operative Details einzusteigen. Auch ist die Kompetenz, komplexe Themen und Projekte managen zu können, dort angelegt – ein Mikromanager kann meist über Vieles einen Überblick behalten und Verkettungen und Abhängigkeiten schnell erkennen.

Der Empathiemangel und die mangelnde Begeisterungsfähigkeit beinhalten z. B. die Kompetenz, sich auf die Sachebene zu konzentrieren und sich nicht durch Emotionen „ablenken“ zu lassen. Auch zeigen Führungskräfte mit Empathiemangel oft einen deutlich ausgeprägten Mut, auch – für die Mitarbeitenden – unangenehme aber im Sinne der Organisation notwendige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Führungskräfte mit prinzipiellem Misstrauen anderen gegenüber können meist recht gut zwischenmenschliche Schwingungen und feine Unstimmigkeiten wahrnehmen, sie haben oft die Kompetenz, das „Gras wachsen zu hören“ und schnell zu merken, wenn „etwas nicht stimmt“.

Die Innere Fessel, die Führungskräfte schnell emotional überreagieren lässt, beinhaltet oft auch eine Kompetenz für ein bestimmtes (im schlimmeren Fall als autoritär oder dominant wahrzunehmendes) Auftreten mit einer gewissen Gravitas und Präsenz.

Konfliktvermeidung und die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen beinhalten häufig die Kompetenz, schnell und einladend einen (gegebenenfalls nur scheinbaren) Konsens herbeizuführen. Führungskräfte mit diesen Inneren Fesseln wirken meist auch ausgleichend und angenehm, sorgen oft für eine (oberflächlich) gute Stimmung und bauen relativ leicht Beziehungen auf.

In der Selbstüberschätzung sind oft Mut und die Fähigkeit angelegt, sich nicht von Widrigkeiten abschrecken zu lassen und auch einmal etwas zu wagen. Das Gleiche gilt für „Es reicht nie“ und die Innere Fessel der Grenzenlosigkeit.

„Ich muss es allein schaffen“ beinhaltet eine hohe, individuelle Identifikation mit der Aufgabe und den Zielen. Bei dieser Inneren Fessel ist meist auch ein hohes intrinsisches Verantwortungsbewusstsein gebunden, ähnlich wie beim Pflichtbewusstsein.

Führungskräfte mit einer übersteigerten Suche nach Anerkennung durch andere haben oft eine ausgeprägte Kompetenz, das Gegenüber zu „lesen“, einzuordnen, sich in dessen Stimmung, Bedürfnisse und Wünsche hineinzuversetzen, und die verbalen und vor allem die non-verbalen Signale einer Beziehung zu empfangen und zu interpretieren.

Schließlich hat sogar die Existenzangst einige gebundene Kompetenzen: die Fähigkeit, sein Leben auch in finanzieller Hinsicht planen und überschauen zu können sowie eine Verantwortung für den eigenen Lebensweg übernehmen zu wollen.

Viele Inneren Fesseln enthalten Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz, aber auch eine hohe Zielorientierung und ein hohes persönliches Engagement mit einer umfassenden Identifikation mit der Aufgabe als gebundene Kompetenz, z. B. der Perfektionismus, der „Workaholismus“, das Getriebensein, das Mikromanagement, die mangelnde Selbstfürsorge usw.

Die Beispiele zeigen, dass in den meisten Inneren Fesseln wichtige Kompetenzen gebunden sind – gebunden, weil sie nicht frei ansteuerbar, nicht unter unserer kognitiven Kontrolle stehen. Sie wirken, aber wir können nicht über deren Einsatz oder die situative Dosierung entscheiden.

Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen. Jetzt nur so viel: Es geht bei dem Lockern von Inneren Fesseln nicht um den Verlust dieser Kompetenzen, sondern um das Verfügbarmachen, das Herauslösen der für unsere Aufgabe notwendigen Kompetenzen aus dem Automatismus, um diese dann bewusst und gesteuert im Sinne der Zieldienlichkeit für die jeweilige Führungsaufgabe einsetzen zu können.

Siehe beispielsweise: https://www.welt.de/satire/article207634523/Deutschland-Erstmals-mehr-Corona-Experten-als-Bundestrainer.html.

https://de.wikipedia.org/wiki/Highlander_–_Es_kann_nur_einen_geben.

(Fußnoten im Buch)

 

 

 

 

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