Buchauszug Carl Naughton: „AQ: Warum Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetentz ist“

Buchauszug Carl Naughton: „AQ: Warum Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetenz ist.“

 

Carl Naughton (Foto: PR / Gabel: Kristina-Mehlem)

 

 

Mit AQ in der Ungewissheit führen

Was ist der wichtigste Faktor für einen Regentanz? Timing.

– Weisheit der amerikanischen Ureinwohner

Was gestern stimmte, ist heute falsch. Ein Impfstoff, eben noch als Rettung gefeiert, wird im nächsten Moment einkassiert, um dann doch wieder zugelassen zu werden. Widersprüchlicher kann eine Welt sich kaum gerieren. Widersprüchlichkeit erzeugt Ungewissheit. Ungewissheit ist zum Beispiel dieser Zustand, wenn man sich fragt, ob man in den letzten Monaten im Leben immer richtig abgebogen ist. Sie entsteht aber ganz besonders, wenn es um die zukünftigen Routen im eigenen Leben und in der Welt geht.

 

Ungewissheit entsteht für beide zeitlichen Richtungen, die Vergangenheit und die Zukunft, aus einem Mangel an Information. Was nun die Zukunft angeht, kann dieser Mangel auch nicht so einfach verringert werden. Ohne Zeitreise kommen wir nicht an die relevanten Informationen, die unsere Ungewissheit im Jetzt minimieren helfen könnten. Der Klassiker: Lotto. Da können wir per definitionem nur nach der Ziehung an die zentrale Information, nämlich die richtige Zahlenkombination, kommen. Und dann ist es natürlich irgendwie ein wenig zu spät für das Ausfüllen des Lottoscheins.

 

Ich bin mir sicher, Ihnen fallen sehr viele Beispiele ein, die diesem Muster folgen: Partnerschaftsentscheidungen, Lernen für die Prüfung, Wettervorhersagen. Ungewissheit entsteht, weil es sich grundsätzlich um Informationswetten auf die Zukunft handelt, bei denen wir eine Entscheidung treffen oder ein Verhalten zeigen müssen, bevor wir Gewissheit erlangen. Um damit gekonnt umzugehen, müssen wir also nicht die Gewissheit verringern, wir müssen uns – und andere – fit machen für den Umgang mit dieser Ungewissheit. Genau diese Fitness erzeugt ein hoher AQ. Und weil das Thema »Umgang mit Ungewissheit« uns selbst wie auch die Menschen in unserer beruflichen Umgebung betrifft, ist es sowohl für die Selbstführung wie auch für die Führung anderer relevant.

 

Ungewissheit ist tief eingewoben in den Erlebensteppich unseres täglichen Lebens. Stolperer gibt es immer dann, wenn sich bei unserem Drang nach richtigen oder sicheren Einschätzungen und Entscheidungen Wissenslöcher auftun. Die Forschung dazu unterscheidet sehr klar, was genau uns da die Beine weghaut. So gibt es Erkenntnisse zur Selbstungewissheit, zur Beziehungsungewissheit wie auch zu den Auswirkungen der Ungewissheit auf unsere finanziellen Entscheidungen. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich jedoch darauf, zu zeigen, wie weitreichend der Umgang mit der Ungewissheit überhaupt ist und wie Anpassungsfähigkeit uns dabei helfen kann, andere Menschen in der Ungewissheit gut zu führen.

 

Ungewisse Kulturen

Wenn Ungewissheit kultureller Treiber wird, wenden sich alle Gesichter Geert Hofstede zu. Der holländische Forscher weilt zwar leider nicht mehr unter uns, aber im Geiste schauen wir ihn an. Denn er hat in seinen Forschungen seit den 1980er-Jahren herausgearbeitet, dass der Umgang mit Ungewissheit eine der entscheidenden Kulturdimensionen ist. Hofstede beschreibt sie als das Ausmaß, in dem Menschen einer Nation sich durch mehrdeutige Situationen bedroht fühlen und in der Folge Überzeugungen und Institutionen herausgebildet haben, um diese Situationen zu vermeiden. Unser aktuelles Ungewissheitsgefühl ist mithin entscheidend dafür, wie sehr wir der Ungewissheitsvermeidung anheimfallen. Und davon hängt beispielsweise auch das politischeWahlverhalten ab.

Egal, ob Sie die wirtschaftliche, individuelle oder kulturelle Ebene anschauen: Es gibt so etwas wie einen spezifischen Umgang mit Ungewissheit. Sie finden dieses Phänomen sogar in Werbekampagnen für Fast Food. Ein Beispiel ist KFC. Die Gestaltung des Angebotes auf den Websites für Russland einerseits und für Dänemark andererseits unterscheidet sich massiv. Was glauben Sie, welcher Faktor hat das Design dieser Online-Auftritte am entschiedensten beeinflusst? 1. Die Geschmacksvorlieben der Nationen? 2. Der Werbeetat des Franchisenehmers? 3. Die Ungewissheitsvermeidung der jeweiligen Kultur? Oder 4. der Werbungsstil der Mitbewerber?

 

Tatsächlich wird das Design maßgeblich von der Ungewissheitsvermeidung der jeweiligen Kultur beeinflusst. Ungewissheitsvermeidung ist eine der sechs Dimensionen, in denen sich ganze Kulturen unterscheiden. Im Kern dieser Dimension steht die Frage: Wie wird in der Kultur mit unbekannten Situationen umgegangen? Ein Land mit hoher Ungewissheitsvermeidung antwortetet darauf so: Wir müssen Unsicheres vorhersagbar und kontrollierbar machen. Recht und Ordnung stehen für uns im Vordergrund, denn unbekannte Situationen sind eine Bedrohung und erzeugen Unbehagen bis hin zu Angst. Ein Land mit geringer Ungewissheitsvermeidung würde ganz anders darauf antworten und hat mit dem Unwägbaren deutlich weniger Probleme; so sind etwa die Sorgen um Gesundheit und Geld geringer ausgeprägt.

 

Schauen wir uns das mal an: Bei der Dimension der Ungewissheitstoleranz kann in dem Modell von Hofstede eine Nation einen Maximalscore von 120 Punkten erreichen. Das würde der maximalen Ausprägung dieser Dimension gleichkommen. Russland kommt bei der Ungewissheitsvermeidung laut der Erhebungsdaten des Portals www.clearlycultural.com auf 95 Punkte von 120 (siehe https://clearlycultural.com/geert-hofstede-cultural-dimensions/uncertainty-avoidance-index/)! Daher zeigt die Werbung alles auf einen Blick, keine Überraschungen bitte. Und daher bietet die Seite direkt alle Infos zur Qualität und setzt auf ein standardisiertes Layout mit Seitenmenü oben und klarem, konkretem Angebot mit noch klarerer Preisstruktur. Das erzeugt Vorhersagbarkeit und Sicherheit, verstärkt noch mit Navigationshinweis: So kommen Sie sicher zu uns. Dänemark hat einen ganz anderen Score bei der Ungewissheitsvermeidung: 23 von 120! Auch das prägt das Webdesign. Die Gestalter haben viel mehr Flexibilität. Sie dürfen kreativ sein und Fun in die Sache reinbringen. So nach dem Motto: Ist doch egal, wie viel das Ding kostet und wo der Laden ist, das sieht einfach echt trendy & tasty aus.

 

Dänen lieben das Unbekannte, nicht ganz so Klare und Vorhersehbare. Sie haben Spaß daran. Darum ist eine farbenfrohe Darstellung mit kraftvoller Schrift und einem Essen, das sich zu bewegen scheint, auch passend. In Russland kämen Sie wahrscheinlich allein schon für die Schriftart von »Dirty Louisiana« ins Arbeitslager. Die ist so unordentlich und dreckig: 3,5 Jahre Steine schleppen (siehe https://gfluence.com/one-kfc-2-very-different-experiences-the-art-of-uncertainty-avoidance/).

 

Ernster Kern: So tief greift die Ungewissheitsvermeidung einer Kultur in die Kommunikation, die Entscheidungen und das Verhalten ein. Wichtige Frage: Wie schneidet Deutschland da ab? Der Score liegt bei 65 von 120 Punkten. Was heißt das? Deutschland hat eine sichtbare Präferenz für Ungewissheitsvermeidung. Das ist das Erbe von Kant, Hegel und Fichte: deduktives statt induktives Vorgehen. Motto: »Gib mir eine systematische Analyse, gibt mir ein Gesetz, dann machen wir weiter.« Ganz anders etwa die USA mit einer extrem niedrigen Ungewissheitsvermeidung. Motto: »Gib mir ein Gesetz, damit ich weiß, gegen was ich verstoßen kann.« Das ist das Erbe von John Wayne, Ronald McDonald und dem Mann mit den orangefarbenen Haaren.

 

In den USA erlebte Mary Barra am 1. April 2014, was es heißt, im Umgang mit der Ungewissheit keine Anpassungsfähigkeit zu besitzen. Die Vorstandsvorsitzende von General Motors musste an dem Tag vor dem Kongress aussagen. Der Titel der Anhörung war: »Der GM-Zündschalter-Rückruf: Why Did It Take So Long?« (Siehe https://www.fastcompany.com/3045477/goodbye-org-chart?cid=search).

 

Was war passiert? Erstens führte bei einigen Modellen von GM eine schwache Feder im Zündschloss dazu, dass schon geringe Krafteinwirkungen auf den Schlüssel, wenn er sich im Zündschloss befand – ein Stoß mit dem Knie oder das Ziehen an einem schweren Schlüsselbund – das Abschalten des Motors auslösen konnte. 800 000 Autos waren davon betroffen. Ein Megarückruf. Der Leiter der Anhörung verwies in seinen Eröffnungsworten darauf, dass bereits zehn Jahre zuvor die ersten Kundenbeschwerden zu genau diesem Fehler bei GM eingegangen waren. Doch GM hatte einfach nicht reagiert. Sie wollten das Problem aussitzen. Das erschien ihnen offenbar angenehmer, als die Produktion anpassen zu müssen.

 

Mindestens dreizehn Menschenleben hat diese Taktik gekostet, so führte der Abgeordnete weiter aus. Diesem Auftakt folgten vier lange »Verhörstunden«. In denen zeigte sich, dass es weniger Kalkül als vielmehr ein eklatanter Mangel an Adaptability bei den Entscheidern und deren Teams war, der diese Situation heraufbeschworen hatte. Informationsmangel und politisches Handeln erzeugten einen Zustand der Ungewissheit, anstatt das recht leicht behebbare Problem proaktiv anzugehen. Wie also führt man in Zeiten der Ungewissheit so, dass der AQ gestärkt wird und große wie kleine Probleme ohne Druck oder gar Tote gelöst werden können?

 

Weniger Ungewissheit dank Ambiguitätstoleranz

Ungewissheit überall. Kein Wunder also, dass der Umgang mit Ungewissheit für die meisten Jobs zur Schlüsselqualifikation wird. Denn wir schaffen uns gerade eine Welt, mit der wir alle auch irgendwie mental zurechtkommen müssen. Wenn wir agil arbeiten und morgen das Ergebnis von heute schon wieder in der Tonne liegt, dann brauchen wir etwas, um diesem permanenten Vielleicht mental Paroli zu bieten. Dabei betrifft diese Ungewissheit alle Lebensbereiche; es gibt überall Situationen mit unvollkommenen, unvollständigen oder unbekannten Informationen. Insofern wirkt sich Ungewissheit auf die Produktivität aus. Sie erschwert das Entscheiden. Entscheidungsarmut bremst Vorankommen.

 

Ein Teufelskreis entsteht, denn um in der Ungewissheit voranzukommen, müssen wir Entscheidungen treffen. Entscheidungen im Ungewissen zu treffen erfordert ein gewisses Maß an Toleranz für Mehrdeutigkeit. In einem Satz: In der Ungewissheit handlungsfähig zu bleiben verlangt von uns, unserem Schwarz-Weiß-Denken Lebewohl zu sagen, unseren unstillbaren Wunsch nach Ordnung zur Seite zu legen und eine Art Chaosappetit zu entwickeln. Natürlich gelingt es nicht jedem Menschen gleich gut, nicht frustriert zu werden, wenn die Dinge unvorhersehbar erscheinen. Aber das verlangt die Welt, die wir gerade schaffen, von uns: auch in unsicheren Situationen effektiv zu arbeiten, in der Unwägbarkeit zielstrebig Probleme zu lösen und uns durch unklare Arbeitsaufträge nicht verunsichern zu lassen. Firmen wie Vorgesetzte erwarten immer selbstverständlicher, dass wir auch bei unzureichenden Ressourcen (Mangel an Zeit, Geld, Mitarbeitern etc.) immer einen Weg zur Lösung eines Problems finden, unsere Irritation im Griff behalten und beherzt handeln, anstatt zu hadern.

 

Das verlangt eine ganz neue Art von Kreativität, es verlangt Ambiguitätstoleranz. Die wiederum besitzen wir, wenn wir Ungewissheiten, widersprüchliche, möglicherweise schwer verständliche Sachverhalte sowie vage, konträre oder mehrdeutige Informationen neutral und offen wahrnehmen können. Der Weg aus der Ungewissheitsfalle ist nicht etwa das Erlangen von Gewissheit, denn das ist gar nicht mehr möglich in dieser Welt. Der Weg ist das Erlangen von Ungewissheitstoleranz. Und dieser Weg geht insbesondere über das Leben und Arbeiten mit der Mehrdeutigkeit. »Ungewissheit« beschreibt einen Mangel an Wissen oder einen beunruhigenden Mangel an Vertrauen in das eigene Wissen. »Mehrdeutigkeit« beschreibt die Fähigkeit, mehr als eine Interpretation eines Problems für denkbar und zutreffend zu erachten. Nicht zufällig hat das Hasso Plattner Institute of Design der Universität Stanford Ambiguitätstoleranz 2019 zur Super-Ability erkoren und dies im hochschuleigenen Blog erläutert (siehe https://dlibrary.stanford.edu/ambiguity/the-8-design-abilities-of-creativeproblem-solvers). Sie sei essenziell für das Erkennen von Nichtwissen, aber auch beim Nutzen und Umarmen paralleler Möglichkeiten. Sie sei zentral für das Finden wie auch für das Lösen von Problemen. Und genau hier punktet der AQ. Je höher er ist, umso besser können wir mit Reizen oder Situationen umgehen, die nicht klar strukturiert, neu und komplex sind.

 

Let’s make Mehrdeutigkeit great again

Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf: Was ist charakteristisch für Menschen, die  Ambiguität nicht gut ertragen können? Hier sind folgende Merkmale zu nennen:

–       Bedürfnis nach Kategorisierung

–       Bedürfnis nach Gewissheit

–       Unfähigkeit, zuzulassen, dass gute und schlechte Eigenschaften in derselben Person existieren

–       Akzeptanz von Einstellungsaussagen, die eine schwarz-weiße Sicht des Lebens transportieren

–       Vorliebe für Bekanntes gegenüber Unbekanntem

–       Ablehnung des Ungewöhnlichen oder Andersartigen

–       Frühe Auswahl und Beibehaltung einer Lösung

–       Neigung, vorzeitig zu einem Ergebnis kommen zu wollen

 

Das ist eine imposante Liste. Sie hat sich in den vergangenen 60 Jahren seit dem Beginn der Ambiguitätsforschung langsam, aber stetig vervollständigt. Zu Beginn bestand sie nur aus einem Hund und einer Katze, entwickelt von der Godmother of Ambiguitätstoleranz, Else Frenkel-Brunswik. Menschen sehen dabei bis zu 13 Zeichnungen, auf denen sich eine Katze nach und nach in einen Hund verwandelt. Dazu kommt der Hinweis: »Ich zeige Ihnen jetzt ein paar Bilder. Darauf kann entweder ein Hund oder eine Katze zu sehen sein. Bitte sagen Sie mir bei jedem Bild, ob es mehr nach einer Katze oder einem Hund aussieht. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Das ist kein Test, es gibt keine richtigen oder falschen Antworten.« Ergebnis: Je länger Menschen an dem zuerst gezeigten Tier bei den weiteren, mehrdeutigen Zeichnungen festhielten, umso geringer war ihre Ambiguitätstoleranz ausgebildet.

 

Die nachfolgenden Forschungen zeigten dann, dass Menschen mit wenig Ambiguitätstoleranz zu schnellen und übertrieben selbstbewussten Urteilen tendieren, oftmals unter Vernachlässigung der Realität. Sie lehnen mehrdeutige Situationen ab, weil der Mangel an Informationen es schwierig macht, Risiken einzuschätzen und eine richtige Entscheidung zu treffen. Dementsprechend werden solche Situationen als Bedrohung und als unkomfortabel wahrgenommen. Die Folge sind Stress, Vermeidungsverhalten, Verzögerung, Unterdrückung oder Leugnung. Wenn wir aber Ambiguität mögen, dann haben wir auch eine hohe Offenheit für Erfahrungen, haben hohes Verlangen nach Sensationen und neigen zu risikoreichem Verhalten.

 

Der Grund erschließt sich schnell aus einer Studie der rumänischen Sozialwissenschaftlerin Beatrice Balgiu (2014). Sie beobachtete, wie sehr Kreativität und die Fähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen, zusammenhängen. Diese Fähigkeit, also die Ambiguitätstoleranz, beschreibt, wie gut wir mit Reizen oder Situationen  zurechtkommen, die nicht klar strukturiert sind, die neu und komplex sind. Balgiu kombinierte einen Fragebogen dazu mit einer Kreativaufgabe und ließ die Ergebnisse durch Kreativitätsexperten bewerten. Die Schnelligkeit, mit der die Versuchsteilnehmer ihre Ideen ablieferten, wie auch die Wendigkeit im Kopf hingen nachweislich mit der Toleranz für Ambiguität zusammen.

 

Wir können davon ausgehen, dass unsere Fähigkeit, bei Ungewissheit zu handeln, auch gleich unser kreatives Potenzial stärkt oder schwächt. Aber die Wichtigkeit des Navigierenkönnens im Ungewissen hört nicht bei der Kreativität auf. Je mehr Ungewissheit wir ertragen können, umso eher erleben wir mehrdeutige Situationen sogar als herausfordernd und interessant. In der Folge interpretieren wir diese Situationen angemessener, realistischer und ohne die Komplexität des jeweiligen Problems zu verzerren. In meinen bisherigen Studien konnte ich immer beobachten, wie sehr das mit unserem AQ zusammenhängt.

 

Diese Fähigkeit hat sogar einen festen Sitz im Hirn. Eine Aktivierung im medialen präfrontalen Kortex korreliert mit dem Ambiguitätslevel und der Ambiguitätsvermeidung. Es gibt auch Zusammenhänge mit dem individuellen Bildungsniveau. Studien zeigen, dass jüngere Menschen mit weniger Ambiguitätstoleranz signifikant seltener ein Universitätsstudium absolvieren. Umgekehrt haben Menschen mit einem Uni-Abschluss auch signifikant mehr Ambiguitätstoleranz. Der AQ hängt auch mit dem Selbstkonzept zusammen, das jeder Mensch von sich hat.

Carl Naughton: „AQ: Warum Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetenz ist“, 216 Seiten, 25,00 Euro, Gabal Verlag 2022 https://www.gabal-verlag.de/buch/aq-warum-anpassungsfaehigkeit-die-wichtigste-zukunftskompetenz-ist/9783967390964

Finden von Menschen mit hohem AQ

Die Arbeitswelt entwickelt sich rasant. Die Anforderungen an die Leistungsträger verändern sich dementsprechend. Zwei Fragen stehen dabei aus Sicht des Unternehmens ganz weit oben: Wie finden wir Menschen mit höherem AQ? Und wie steigere ich den AQ bei meinem Team? Die erste Frage können Unternehmen entweder mit dem bereits vorgestellten Self-Assessment angehen oder sie könnten die Adaptability der Kandidaten auch im Rahmen des persönlichen Gesprächs ausloten. Das gelingt zum Beispiel mit den folgenden Gesprächsbausteinen, die Jill Chapman von der amerikanischen HR-Beratung Insperity vorgelegt hat.

1.     Bitten Sie die Interessenten, von einer Kooperation mit einem Kollegen zu berichten, der einen ganz anderen Arbeitsstil hat als sie selbst.

2.     Fragen Sie nach Reaktionen auf plötzliche Veränderungen in Projekten, in die der Interessent viel Zeit und Energie investiert hat.

3.     Lassen Sie sich erzählen, wie der potenzielle Mitarbeiter mit einer Aufgabe umgegangen ist, die außerhalb seines üblichen Arbeitsbereiches lag.

4.     Holen Sie Informationen dazu ein, wie er mit einem Tool-Wechsel umgegangen ist, zum Beispiel mit der Umstellung auf eine neue Software.

5.     Fragen Sie danach, worin der Bewerber die größten Herausforderungen sieht, wenn er eine neue Stelle antritt.

 

Worauf sollten Sie achten, wenn Sie bei einem solchen Gespräch zuhören? Negative Antworten sollten generell die Alarmglocken schrillen lassen. Darüber hinaus sollten Sie die Geschichten, die Sie hören, unter dem Gesichtspunkt der Adaptability betrachten, denn hier geht es um ihre Kernelemente – die Sie in den vorherigen Kapiteln kennengelernt haben: mentale Flexibilität, Emotionsmanagement, autonome Kompetenzerweiterung, Umlernen und Entlernen sowie Proaktivität.

 

Natürlich können Sie, wenn Sie im Bewerbungsgespräch auf der anderen Seite sitzen und also selbst der Bewerber oder die Bewerberin sind, diese Gesprächsbausteine für die eigene Vorbereitung nutzen. Proaktiv solche Erlebnisse anzusprechen zeugt von doppelter Adaptability.

 

Führen in der Ungewissheit – 5 Adapt-Techniken

2001 kaufte Unilever Ben & Jerry‘s. Ein ungewöhnliches Paar entstand. Ungewöhnlich war daran, dass Unilever als Weltkonzern sich vornahm, das Unternehmensimage des

Premium Eisherstellers inklusive sozialer Verantwortung und seines linken sozialen Aktivismus zu bewahren – mit einer Spendenquote von 7,5 % der Gesamteinnahmen. Unilever übertrug diese Aufgabe Yves Couette, der zum CEO für die neue, ungewöhnliche Übernahme ausgewählt wurde. Der gebürtige Franzose Couette war bereits viele Jahre international für Unilever tätig gewesen. Doch diese kulturelle Integration war Neuland für ihn. Was machte er? Er passte seinen Führungsstil an die neue Situation an. Manches erschien äußerlich, wie sein ins Legere gewandelter Kleidungsstil. Doch es war nicht oberflächlich, sondern symbolisch. Es zeugte davon, dass er kulturell beweglich war. Bald folgten weitere Handlungen: Er wirkte tatkräftig bei den sozialen Aktivitäten mit und scheute sich nicht davor, sich die Hände schmutzig zu machen.

 

Wie viele CEOs kennen Sie, die mit vollem Einsatz Mulch umgraben? Neben diesen sichtbaren Zeichen wurde auch bekannt, dass Couette die Werte und die Vision des Eisherstellers keineswegs an die von Unilever anpassen wollte, sondern lieber die Geschäftspraktiken an das bestehende Wertegerüst annäherte. Die Spendenbereitschaft des Unternehmens wurde mit über einer Million Dollar pro Jahr beibehalten. Doch wahre Adaptability ist eben nicht Assimilation, in keine der beiden Richtungen. Wahre Adaptability in der Führung ist das Verbinden von gegensätzlichen Perspektiven. So kamen durch Couette Philanthropie und finanzielle Rendite (denn die verlangte Unilever natürlich auch) zusammen. Warum gelang Couette all das? Er hatte seine Adaptability zuvor über die Jahre im Konzern schulen und stärken können. –Nachfolgend finden Sie Möglichkeiten, Ihre Adaptability weiter auszubauen, um in Zeiten von Veränderung, Ungewissheit und Herausforderung Menschen handlungsfähig führen zu können.

 

1. Mentale Flexibilität: Die Sicht auf Ungewissheit ändern

Wie wir eine Situation wahrnehmen, diktiert unsere Reaktion auf sie. Und in der Mehrzahl sehen Menschen mehrdeutige Situationen wahrscheinlich als gefährlich oder bedrohlich an. Diese Sichtweise hilft ihnen allerdings nicht weiter und verstärkt nur die Überzeugung, dass das Tolerieren von Unklarheiten etwas ist, was sie schlecht können oder vermeiden wollen. Man kann aber Menschen dabei unterstützen, ihre Denkweise zu ändern. Beginnen Sie damit, das Narrativ zu ändern und Mehrdeutigkeit neu zu definieren. Sie können beginnen, mithilfe der Adapt-Technik »Mentale Flexibilität« Ungewissheit als Chance zu akzeptieren.

 

Der Sokrates-Start: Das Nichtwissen einplanen

Mitten im Meeting kam ganz unvorhergesehen die Frage: »Was können Sie dazu sagen, Herr Naughton?« Mein Mund trocknete schneller aus, als ich »Saharawind« denken konnte. Mein Kopf wurde schneller leer, als ich »Vakuum« sagen konnte – mein Mund war ja auch viel zu trocken. Alle Köpfe drehen sich zu mir. Offenbar in Erwartung einer brillanten Antwort. Da kam etwas zwischen meinen Lippen hervor, was ich zum Glück zuvor schon mal gesagt hatte: »Ich weiß es noch nicht.« Ist ein komischer Satz, er klingt nach schlecht vorbereitet und uninformiert. Schließlich gehört es zum Beraterselbstverständnis und auch zur Kundenerwartung, dass Berater Antworten haben. In einem solchen Moment zu formulieren, dass man keine Antwort hat, kann schon sehr beunruhigend sein. Für alle.

 

Aber: Wenn Sie genau diesen Schritt im Lösungsprozess selbst in die Hand nehmen, werden Sie glaubwürdiger als jemand, der angesichts von Ungewissheit ruhig und gelassen bleibt. Denn seien wir mal ehrlich: Niemand hat alle Antworten, nicht einmal die Experten. Daher ist die klare Formulierung dieser Ausgangshaltung wichtig. Sie positioniert uns positiv in der Mehrdeutigkeit. Wir sehen sie und nehmen Ungewissheit nicht als Ergebnis, sondern als Startpunkt.

 

Der »Könnte-Schritt«

Viele Führungskräfte machen den Kopf zu, indem sie Sätze wie »Wenn ich eine gute Führungskraft wäre, sollte ich wissen, was ich meinem Team sagen muss« als Türsteher vor das Mögliche setzen. Der »Könnte-Schritt« macht diese Tür auf. Denn »sollte« suggeriert, dass es nur einen Weg nach vorne gibt. Dies führt aber wohl eher zu einem kreativen Blackout – zu einer Situation mit hohem Druck, in der Sie die einzige hell leuchtende Lösung finden müssen. Denn in der Ungewissheit gibt es ja gerade nicht die eine richtige Antwort. Der »Könnte-Schritt« ist ein Sprungbrett für neue Ideen. Er schraubt die mentale Flexibilität eine Ebene höher und erlaubt es, im Konjunktiv Gedanken zu formulieren, die im totalen Gegensatz zum bisherigen Denken stehen. Der Weg vom »Sollte« zum »Könnte« ist der Weg in die Vielfalt, weg vom Diktat einer einzigen richtigen Antwort. Dann entsteht eine Vielfalt von Optionen.

 

Lösungsaufschub durch Kontext

Sodann gilt es, diese Optionen besser zu beleuchten, tiefer kennenzulernen.Dieser Schritt ist wichtig, weil es etwas kurzschließt, was uns in der Ungewissheit immer wieder im Weg steht: unseren Drang zur schnellen Lösung. Den Kontext zu ändern bedeutet, die Optionen aus dem vorherigen Schritt in verschiedenen Zusammenhängen verstehen zu können. Das hält uns automatisch vom Zustürmen auf die schnelle Lösung ab. Wie geht das? Mithilfe der »psychologischen Distanz«, um die es schon in Kapitel 6 ging. Diese drei Schritte – Sokrates-Start, »Könnte«-Schritt und Lösungsaufschub – setzen einen völlig neuen Rahmen um Ungewissheit. Sie verwandeln sie von einem  Zustand, der den Kopf dicht macht, zu einem Ausgangspunkt, der einen weiten Lösungshorizont aufspannt.

 

2. Realistischer Optimismus: Kontrollieren und Loslassen

Passiv zu bleiben bei Unsicherheit am Arbeitsplatz ist eine Position der Ohnmacht gegenüber Ihrem Chef und Ihren Kollegen. Sie haben am Ende das Gefühl, dass die Situationen Ihnen zustoßen. Deshalb ist Durchsetzungsvermögen ein zentraler Aspekt des Umgangs mit Mehrdeutigkeit. Es hilft Ihnen, ein Gefühl von innerer Beherrschung, Kompetenz und Selbstwirksamkeit angesichts sich schnell verändernder äußerer Umstände zu erlangen.

 

Das knappste Tool für den Umgang mit Ungewissheit dreht sich um das, was wir »Locus of Control« nennen. Der fasst unsere Kontrollüberzeugungen zusammen: die Art, wie wir darüber denken, ob die Kontrolle einer Situation in unseren Händen liegt oder ob wir nichts machen können. Da ich es im eigenen Umfeld erlebe, weiß ich, wie sehr es uns helfen kann: Meine Frau leitet ein Theater. Das ist infolge eines Lockdowns zu. Geschlossene Theater machen keinen Umsatz. Es gibt eine Menge unkontrollierter Umstände. Was passiert, wenn wir das nachfolgende Tool einsetzen?

 

Die eigene Handlungsfähigkeit zu bewahren, ihre Grenzen zu kennen und innerhalb dieser Grenzen das Beste daraus zu machen, ist der Kern vieler Hilfen für unser mentales Wohlbefinden. Natürlich gibt es immer Grenzen unserer Wirksamkeit; zum  Beispiel können wir die Reaktionen anderer oder deren Gedanken über uns nicht völlig kontrollieren. Wir haben nicht immer im Griff, welcher Gedanke genau in dem Moment in unserem Kopf auftaucht, wenn wir schläfrig wegdämmern. Nicht nur in solchen Momenten besteht die zentrale Chance, um die Kontrolle über die Dinge in unserem Kopf zu behalten, darin, ebendiese Kontrolle loszulassen. Wir nennen es das Paradox der Preisgabe. »Preisgabe« hat nichts mit »Aufgabe« zu tun. Preisgabe bedeutet das Loslassen von unproduktiven Versuchen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren.

 

Fokus

Überlegen Sie, welche konkrete Situation Ihnen das Gefühl gibt, keine Kontrolle zu haben.

 

Klarheit

Unterscheiden Sie: Sind Sie dieser Situation gegenüber machtlos oder ratlos? Als machtlos empfinden wir uns, wenn wir das Gefühl haben, wir können machen, was wir wollen, es würde nichts ändern. Oft geht dies mit dem Gefühl »Ich habe keine Wahlmöglichkeiten« einher. Dem können wir einen Satz an die Seite stellen, der ein wenig Kontrolle zurück in unsere Hände gibt: »Ich mag meine Wahlmöglichkeiten nicht. Die Möglichkeiten sind da, aber sie gefallen mir nicht.« Wenn Sie nun darüber nachdenken, dass Sie sehr wohl handeln könnten, Sie aber deswegen nichts tun, weil Ihnen die Optionen nicht gefallen, geht es nicht mehr um Machtlosigkeit. Es geht darum, wie viel Ihnen an der Situation liegt, um eine Option zu wählen, die Sie zwar nicht mögen, die Sie aber gezielt aus Ihrer Machtlosigkeit führt.

 

Ratlos hingegen fühlen wir uns, wenn wir den Eindruck haben, uns fällt keine Lösung ein, um die Situation zu verändern. Oft fehlen uns Lösungen, weil wir zum ersten Mal in einer solchen Situation sind. Der Gedanke ist dann häufig: »Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll!« Dem können wir einen Satz an die Seite stellen, der ein wenig Kontrolle zurück in unsere Hände gibt: »Andere Menschen haben diese Situation bewältigt. Ich frage die, die ich kenne.« Dann ist es weniger eine Frage der Ratlosigkeit. Es wird eine Frage des Adressbuches. Wer könnte Ihnen bei der Lösungsfindung helfen, wer kennt jemanden, der eine ähnliche Situation gemeistert hat? Diese ersten Überlegungen zu Fokus und Klarheit helfen bei der Klärung des Unkontrollierbaren. Die folgenden Schritte – Ziel, Kreis der Kontrolle, Wirksamkeit festlegen, Preisgeben und den Blick nach vorn richten – helfen im weiteren Umgang damit.

 

Ziel

Legen Sie Ihr Maximal- und Ihr Minimalziel für die im Fokus beschriebene Situation fest. Oft haben wir nur ein einziges Ziel vor Augen. Das engt unsere Handlungsmöglichkeiten extrem ein. Sehen Sie das Ziel nicht als Punkt, sondern als Skala: Was ist das Minimum, das Sie erreichen wollen, was ist das Maximum, das Sie erreichen könnten?

 

Kreis der Kontrolle

Zeichnen Sie einen Kreis. Schreiben Sie in den Kreis, welche Aspekte, die Ihnen helfen könnten, Ihr Minimal- oder Maximalziel zu erreichen, Sie in dieser Situation kontrollieren können. Konzentrieren Sie sich nun auf den Raum außerhalb des Kreises. Dort notieren Sie alle die Dinge, über die Sie keine komplette Kontrolle haben, die also jenseits Ihrer Einflussmöglichkeiten liegen.

 

Wirksamkeit festlegen

Im Kreis steht, welche Dinge in der Situation in Ihrer Kontrolle sind. Hier fokussieren Sie nicht auf das Problem, sondern auf pragmatische Lösungen. Es geht darum, die Dinge zu notieren, die wir in dieser Situation kontrollieren und beeinflussen können. Manche erleben einen großen Kreis des Unkontrollierbaren und einen kleinen Kreis der eigenen Kontrolle. Andere nehmen einen sehr viel größeren Kreis der Kontrolle wahr.

 

Preisgeben und den Blick nach vorn richten

Schauen Sie auf die Dinge, die außerhalb Ihrer Kontrolle liegen, und sagen Sie sich: »Das kannst du sowieso nicht ändern, konzentrier dich auf das, was in deinen Händen liegt.« Dann nehmen Sie sich die Dinge vor, die in Ihrer Kontrolle sind, und planen, was Sie tun können. Ein solches Kreisdiagramm ist für jede Einflughöhe nutzenstiftend. Egal, ob bei einem Selbstständigen mit einer neuen, großartigen Idee, bei einem Mitarbeiter in der Gestaltung seines Arbeitsumfelds, das ihm Kraft gibt statt nimmt, oder bei einer Führungskraft, die in Zeiten der Unwägbarkeit einen Entscheidungsfokus sucht.

 

3. Proaktivität: Aktionsräume statt Reaktionsräume schaffen

Mona Mensmann und Michael Frese (2017) sprechen davon, dass proaktives Verhalten auch hervorgerufen und verstärkt werden kann, indem Arbeitsumstände und Arbeitsumfelder geändert werden. Sie sehen Proaktivität angesichts der Art der Arbeit im 21. Jahrhundert als immer wichtiger an, denn Firmen verwandeln sich von stabilen Strukturen zu veränderungsorientierten Organisationen, und dieser Wandel bringt immer auch einen Wechsel in den Anforderungen für die Mitarbeiter mit sich. Sie folgern daraus, dass Menschen, die nicht nur auf das Offensichtliche reagieren, die dazu notwendigen Veränderungen bei sich oder im Unternehmen vorantreiben. Zugleich sind die Organisationen geradezu darauf angewiesen, den Mitarbeitern und Führungskräften mehr Verantwortung zu geben.

 

Im Kern geht es darum, zukunftsgerichtetes Handeln zu erzeugen. Sie erinnern sich: Handlungen sind Verhaltensweisen, die auf ein Ziel ausgerichtet sind. Jede Handlung braucht daher ein Ziel, das festgelegt wird. Im Anschluss erfolgt die Suche nach Informationen, die zum Erreichen des Ziels wichtig sind. Schließlich braucht die Handlung einen Plan, also eine geordnete Abfolge von Teilhandlungen, die auf der Basis der vorliegenden Informationen zum gewählten Ziel führen. Pläne wirken als Handlungsprogramme und strukturieren, wie das gewählte Ziel erreicht werden soll. Proaktives Verhalten ist ein besonderes Verhalten, weil es sich auf bestimmte Ziele fokussiert.

 

Diese Ziele sind immer darauf ausgerichtet, zukünftigen Ereignissen und Erlebnissen entgegenzugehen. Im Business sind diese natürlich auf das berufliche Umfeld konzentriert. Um hierbei als Führungskraft die Proaktivität von Mitarbeitern und Teammitgliedern zu stärken, stehen folgende Chancen bereit: Reflexion, Freiheit, Teilhabe und Sichtbarkeit.

 

Reflexion

Keine Führungskraft braucht einen validierten Fragebogen, um herauszufinden, wie hoch die Proaktivität ausgebildet ist. Den nutzt die Forschung, um darauf aufbauend bestimmte Einschätzungen zu ermöglichen. »Normalere« Fragen, die die Reflexion anstoßen, drehen sich darum, herauszufinden, welche Ideen Mitarbeiter oder Teammitglieder in die Verbesserung von Prozessen üblicherweise einbringen und welche Veränderungen sie mit ihren Vorschlägen verbinden. Ferner zahlt sich ein näherer Blick darauf aus, wie die Menschen reagieren, wenn eine ihrer Ideen auf Widerstand stößt.

 

Freiheit

Freiraum ist der Sauerstoff in der Lunge der Proaktivität. Diesen also aktiv zu geben und dies auch zu kommunizieren gehört zu den entscheidenden Treibern für Proaktivität. Ja, das bedeutet auch einen Vertrauensvorschuss. Aber dessen Dividende folgt oft recht schnell. Denn es geht um die Freiheit bei der Erreichung der vereinbarten Ziele und da wirkt sie kreativitäts- und engagementsteigernd. Ein wichtiger Teil dessen ist, wie Sie mit Erfolgen und Fehlschüssen umgehen. Sie erinnern sich an die Ausführungen zum realistischen Optimismus? Wenn Mitarbeiter und Teammitglieder Ideen von ungewissem Wert vorschlagen, können Sie sehr unterschiedlich reagieren. Sie können die Ideen (und die Leute) auf der Stelle unterdrücken; Sie können aber auch Fragen stellen, um Möglichkeiten zu erkunden. Sie können ein Veto gegen Ideen einlegen, von denen Sie glauben, dass sie nicht funktionieren werden, oder Sie können den Leuten erlauben, es zu versuchen.

 

Entweder strategisch und mit Voraussicht oder eher impulsiv und spontan treffen Manager Entscheidungen über das Ausmaß an Risiko und Unsicherheit, das sie zulassen. In einigen Unternehmen gibt es eine starke Fingerzeigkultur, geprägt davon, dass sich jeder immer absichern will, und entsprechend von Schuldzuweisungen. Im Gegensatz dazu geben einige Führungskräfte und Unternehmen nicht nur ein Lippenbekenntnis zum Lernen aus Fehlern ab, sondern tun es tatsächlich und belohnen die Bemühungen sogar, basierend auf einer offenen Diskussion ohne Stigmatisierung. Die Tadelkultur entmutigt natürlich proaktive Bemühungen, während die Lernkultur sie ermutigt.

 

Teilhabe

Tatsächlich ist allein schon die Beteiligung der Menschen am Entscheidungsprozess ein weiterer Baustein in der Erhöhung der Proaktivität. In der Forschung spricht man auch vom »Ikea-Effekt«, weil der Aufbau der Möbel ähnliche Effekte erzielt wie das »Zusammenbauen« von Entscheidungen oder Plänen. Der eigene sichtbare Anteil ist Antrieb. Effektiver proaktiver Wandel erfordert, dass Sie unabhängig, aber auch im besten Interesse des Unternehmens handeln. Nehmen Sie proaktive Initiativen in Angriff, die nicht nur Ihre eigene Produktivität in Ihrem eigenen Job verbessern, sondern die auch anderen zugutekommen – je mehr, desto besser. Denken Sie bei der Entscheidung, welche Initiativen Sie verfolgen wollen, aus einer Systemperspektive: Welche Maßnahmen bringen den größten Nutzen auf höchster Ebene, mit der größten Hebelwirkung und für die größte Anzahl von Menschen? Fehleinschätzungen über egoistische Motive können natürlich immer noch auftreten, aber wenn die Motive rein sind und der Nutzen anderen zugutekommt, sind die Risiken geringer.

 

Aber selbst für die Proaktiven gilt: Wird ihr Verhalten belohnt, wird es gedeihen; wird es bestraft, wird es verkümmern – mit der möglichen Ausnahme von ein paar hartgesottenen Seelen, die es immer wieder versuchen und die am Ende vielleicht die Firma verlassen, wenn ihre Bemühungen konsequent vereitelt werden. Um die Motivation der Mitarbeiter, proaktiv zu arbeiten, aufrechtzuerhalten, kann ein solches Verhalten in das Gratifikationssystem integriert werden. In einem Austausch mit einem führenden Unternehmen in der Produktionsbranche stellte sich heraus, dass neben Boni, Beförderungen oder besonderen Auszeichnungen vermehrt auf soziale Gratifikationen wie gemeinsame Erlebnisse, die der Einzelne nicht ohne Weiteres selbst organisieren kann, beispielsweise Events mit VIPs oder exquisite Konzerte oder Kocherlebnisse, gesetzt werden kann.

 

Sichtbarkeit

Es klingt trivial, aber erst wenn die Wichtigkeit von Proaktivität kommuniziert wird, bekommt sie selbige auch. Es hat einen klaren verstärkenden Effekt, die drei genannten Aspekte – Reflexion, Freiheit und Teilhabe – in die Gespräche mit den Mitarbeitern und den Teams immer wieder einzupflegen und vielleicht sogar eine mitarbeiter- oder teamseitige Einschätzung dazu einzufordern, wie diese sich entwickeln. Diese Schleife erzeugt Commitment. Ferner können Führungskräfte ihren Worten Taten folgen lassen, indem sie innerhalb der breiteren strategischen Parameter eine gewisse Freiheit gewähren und gut gemeinte proaktive Bemühungen, die nicht funktionieren, nicht bestrafen. Sie werden selbst proaktiv sein und anderen den Weg vorleben.

 

Fazit: Entwickeln Sie die Ziele gemeinsam, legen Sie die Leitplanken für die Erreichung der Ziele fest, aber danach spezifizieren Sie nicht zu sehr, was wie zu tun ist. Durch Aufmerksamkeit und Diskussion können Sie Menschen ermutigen, ihre Ideen und ihre Experimentierfreude zu thematisieren und auszuleben. Die meisten Unternehmen brauchen mehr Menschen, die proaktiv handeln, um sich zu verändern, zu differenzieren, zu überleben und für die Zukunft zu wappnen. Innerhalb strategischer Grenzen und in Verbindung mit politischem Geschick hilft proaktives Handeln den Führungskräften, sich zu differenzieren und einen echten Mehrwert für ihre Unternehmen zu schaffen.

 

Proaktive Personen ergreifen und schaffen solche Gelegenheiten für positive Veränderungen. Proaktiv zu sein bedeutet, neue Probleme zu definieren, neue Lösungen zu finden und eine aktive Führung durch eine ungewisse Zukunft zu übernehmen. In ihrer ultimativen Form beinhaltet Proaktivität große Ambitionen, bahnbrechendes Denken und die Fähigkeit, selbst das Unmögliche möglich zu machen. Sie überholt die Vergangenheit und gestaltet die Zukunft. Sie schafft neue Industrien, ändert die Regeln des Wettbewerbs oder verändert die Welt.

 

4. Zuversicht: Machen Sie kleine Wetten

Wie können wir in der Ungewissheit Zuversicht erzeugen? Zum Beispiel, indem wir hinter das Grundprinzip der Ungewissheit schauen. Der Blick offenbart, dass die Ungewissheit im Grunde eine multiple Wette ist. Dinge können passieren oder nicht – und alle haben Komponenten in sich, die das Eintreten von so vielen Faktoren abhängig machen, dass wir versucht sein könnten, zu sagen »Das ist ja Zufall«. Und in ganz vielen Fällen ist es das auch, im wahrsten Sinne des Wortes. Verschiedene Entwicklungen sind »zusammengefallen« und haben so das Ergebnis hervorgebracht, mit dem wir dann arbeiten müssen.

 

»Wetten« klingt natürlich im ersten Moment leicht unseriös, nach Glücksspiel und Lotterie. Aber das Ziel ist einwandfrei und anständig. Denn das Ziel ist es, Theorien schnell und rigoros zu testen, die Ergebnisse zu bewerten und sie dann weiterzuentwickeln, zu drehen oder zu verwerfen. Nicht jede Idee ist genial und verdient es, umfassend verfolgt zu werden. Und so können Sie die »Wetten« nutzen: die Wette bestimmen, die Wahrscheinlichkeit definieren und Lernschleifen erzeugen.

 

Die Wette bestimmen

Um die Wette zu bestimmen, nehmen Sie die Formulierung des Projektes, das Ziel der Strategie, die Maßgabe für die Produktentwicklung. Dann nutzen Sie die Wenn-nicht-das-was-dann-Methode aus dem 6. Kapitel (Unterkapitel »Mentale Flexibilität: Mehrspurig denken«).

 

Die Wahrscheinlichkeit definieren

Geben Sie jeder neuen Formulierung eine Prozentzahl, auf die sich das Team einigt: Wie wahrscheinlich ist es, dass das so funktioniert? Dieser Schritt erzeugt neben der offensichtlichen Gamifizierung etwas sehr Wichtiges: eine tiefere Auseinandersetzung mit dem formulierten Lösungsszenario. Es erlöst Teams auf angenehme Art aus der Verpflichtung, alles kritisch zu durchdenken. Dieses kritische Durchdenken findet dennoch statt, aber es verliert den faden Beigeschmack anstrengenden Nachdenkens. Dieser intuitive Prozess, die Wahrscheinlichkeiten und damit so etwas wie die »Wettquoten« festzulegen, aktiviert intuitives Wissen, das diese Entscheidung mit beeinflusst. Sie müssen an die Quoten keine direkte Gratifikation binden, denn das könnte dazu führen, dass Lösungen bevorzugt umgesetzt werden, nur um die Belohnung einzuheimsen. Darum geht es aber hier gar nicht. Es geht darum, sich mit den möglichen Lösungswegen auseinanderzusetzen.

 

Lernschleifen erzeugen

Klarheit kommt durch Handeln, in diesem Fall durch Probehandeln bzw. Experimentieren. Wenn Sie in Ihrem Unternehmen für das Produktdesign verantwortlich sind, helfen Ihnen Lernschleifen dabei, die guten Ideen zu sortieren, die schlechten auszusortieren und die spektakulären zu fördern. Das Gleiche gilt für Marketingtechniken; manchmal ist die Kampagne, die Sie entwickeln, ein kompletter Flop, aber das Wichtigste ist, dass Sie aus der Erfahrung lernen und Ihr neu erworbenes Wissen in zukünftige Projekte einfließen lassen. Wenn Sie das in Ihrem Team erlauben, kommen Sie von einer reinen Präsentationskultur zu einer lebendigen Diskussionskultur. Die daraus entstehenden Dialoge beeinflussen die späteren Entscheidungen ebenso wie die Konflikte positiv.

 

In diesem Austausch und der mit ihm einhergehenden Dynamik greifen besonders Ihre Fähigkeiten, psychologische Distanz aufzubauen. Denn diese Distanz entschärft Konflikte. Aus der Entfernung auf etwas zu schauen nimmt die emotionale Aufgeregtheit heraus. Ferner hilft Ihnen das Prinzip der ent-engten Wahrnehmung (vgl. Kapitel 6, Unterkapitel »1. Ent-engte Wahrnehmung«). Denn das sorgt dafür, dass die Teammitglieder auf Teilbereiche schauen, die der Diskussion völlig neue, bereichernde Richtungen geben können.

 

So korrigieren Sie mit dieser Technik aufgrund der vielen »Wege zum Ziel« die Voreingenommenheiten und vermindern den »Group Think«, bei dem sich ein Team auf eine Sicht- bzw. Lösungsweise einigt.

 

5. Emotionsmanagement: Umarmen Sie das Unvermeidliche

Was beschäftigt uns innerlich mit am stärksten im Umgang mit der Ungewissheit? Es ist sicherlich das Gefühl, das aus der Unplanbarkeit des Unerwarteten entsteht. Das betrifft Führungskräfte ebenso wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist unmöglich, vorherzusehen, wann sich jemand krankmeldet oder wann Ihre Vorgesetzten Sie überraschen werden. Man kann wirklich nur für die Tatsache planen, dass unvorhersehbare Dinge passieren werden. Und das ist schon kein gutes Gefühl. Dennoch muss hier die Ungewissheit nicht zwangsweise in ein beklemmendes Gefühl der Lähmung münden. Die Psychologie hält für Führungskräfte und ihre Teams die Technik der »negativen Visualisierung« bereit. Der Name ist kein gutes Marketing, aber die Technik ist sehr vielversprechend. Denn sie zahlt auf die emotionale Stabilität von Menschen in ungewissen Situationen ein.

 

Negative Visualisierung funktioniert, weil sie Menschen befähigt, die Umstände rational statt reaktiv einzuschätzen und so karriereschädigende übereilte Entscheidungen zu vermeiden. Sie werden oft feststellen, dass das »Schlimmste«, auf das Sie sich vorbereitet haben, nicht annähernd die Realität der Situation widerspiegelt.

 

Das Grundprinzip bei der negativen Visualisierung: Wir fragen im Voraus, was schiefgehen könnte, etwa bevor wir eine Reise antreten, ein Produkt auf den Markt bringen oder zu einem Vorstellungsgespräch gehen. Die negative Visualisierung schreckt vor dem Worst-Case-Szenario nicht zurück. Die meisten von uns haben eine aktive (und wilde) Vorstellungskraft, sodass ihnen die negative Visualisierung leichtfallen wird.

 

Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich vorzustellen, dass schlimme Dinge passieren, dann können Sie beobachten, wie anderen Menschen schlimme Dinge passieren, und das auf Ihr eigenes Leben übertragen. Das ist in diesem Moment nichts anderes als eine kreative Sammlung all der Dinge, die schiefgehen könnten, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass diese Dinge eintreten (z.B. dass das Internet kaputtgeht). Zur Wahl sollten aber nicht nur solche kuriosen Szenarien stehen, sondern auch etwas näherliegende Bad News.

 

Mit dem Blick auf diese Liste schlimmer Dinge sollten Sie dann erst mal ruhig bleiben, siehe die SBB-Technik aus dem 6. Prinzip (Kapitel 7, Unterkapitel »6. Emotionen managen«: Stoppen, Benennen der Emotionen, Bewertung/Neuinterpretation der Situation), und sich im Anschluss der Frage widmen: Was ist das Beste, das Sie in dieser schlimmen Situation tun können? Konzentrieren Sie sich also auf das, was Sie tun können.

 

Und dann bereiten Sie die entsprechenden Lösungen vor; überlegen Sie, wie Sie sich auf diese Dinge vorbereiten können. Und tun Sie es. Denken Sie dabei daran, dass Sie sich auf bestimmte Szenarien nur gedanklich vorbereiten können. Wie oft kann so eine negative Visualisierung verwendet werden? Eigentlich immer dann, wenn die Ungewissheit den emotionalen Haushalt durcheinanderbringt.

 

 

 

 

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