Was sich Führungskräfte aus den vergangenen 50 Jahren abgucken können – Gastbeitrag von WU-Experte Johannes Steyer

Es lohnt sich, den Blick in die Vergangenheit zu richten, sagt der Wissenschaftler Johannes Steyrer. Und nicht nur in die Zukunft. Was sich Führungskräfte von heute von den großen historischen Leadership-Strömungen der vergangenen 50 Jahre für ihre eigene Praxis abgucken können, erläutert der Management-Experte, Akademischer Leiter des MBA Health Care Management an der WU Executive Academy und des Interdisziplinären Instituts für verhaltenswissenschaftlich orientiertes Management der WU Wien im Gastbeitrag.

 

Johannes Steyrer (Foto: WU/PR)

 

Die Komplexität der Wirtschaft verändert unsere Arbeitswelt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und damit auch, wie Unternehmen die Führung denken und umsetzen. Virtuelle Zusammenarbeit, agile Arbeitsweisen, die Verflachung von Hierarchien und die zunehmende Dezentralisierung der Unternehmen machen ein neues Führungsverhalten unumgänglich. Was erst seit wenigen Jahren in den HR-Abteilungen und Führungsriegen der Unternehmen diskutiert wird, beobachtet die Wissenschaft bereits seit Jahrzehnten.

 

Das duale Stilkonzept der Führung

Es gibt grundsätzlich zwei große duale Leadership-Konzepte, und zwar mitarbeiter- und aufgabenorientierte Führung sowie transaktionale (Belohnung nach Zielerreichung) und transformationale (mit Vision inspirieren, emotional mitreißen und begeistern) Führung:

 

Was Führungskräfte aus den größten historischen Leadership-Strömungen in der Wissenschaft, die teilweise bis in die Gegenwart wirken, daraus ableiten beziehungsweise lernen können:

 

1970er: Mitarbeiter- und aufgabenorientierte Führung

In der lang anhaltenden Nachkriegsära prosperierte die Wirtschaft und wuchs bis zu acht Prozent pro Jahr. Es herrschte Arbeitskräftemangel. Unternehmen waren meist funktional strukturiert (zum Beispiel Produktion, Vertrieb, Verwaltung). Die sogenannte Linie garantierte hierarchische Über- und Unterordnung beziehungsweise klare Macht- und Entscheidungsstrukturen. Die Führung war paternalistisch – wer fleißig und loyal war, der wurde belohnt beziehungsweise behalten – und hierarchisch zugleich – Oben forderte – Unten lieferte, Oben fragte – Unten antwortete, Oben klagte an – Unten rechtfertigte sich.

 

Damals waren die klassische Aufgaben- und Mitarbeiterorientierung in der Praxis und auch in der Leadership-Forschung vorherrschend: „Die Handlungsmaxime für Führungskräfte war: zuhören, freundlich sein, Aufgaben und Ziele vorgeben und die Zielerreichung überwachen: dieses klassische Konzept war an klaren Kommandostrukturen der Top-Down-Hierarchien orientiert.“

 

Leadership-Learning für heute: Freundlich und nett zu sein, nach dem Motto „glückliche Kühe geben mehr Milch“, ist zu wenig. Heute hat die Führungskraft primär Coach und Entwickler der Mitarbeiterpotentiale zu sein. Nicht eine externe Instanz überwacht die vorgegebene Zielerreichung, sondern die Mitarbeiter werden konsultativ eingebunden, haben eine hohe Eigenverantwortung und sollen ihre Zielerreichung möglichst selbst steuern.

 

1990er: Transaktionale gegenüber Transformationaler Führung

In den 1990er Jahren gab es schließlich den großen Wandel als Reaktion auf Hyperturbulenzen durch die Trias Globalisierung, Digitalisierung und Deregulierung der Märkte. In den Unternehmen wurde als neue Steuerungsgröße die Kapitalrentabilität („Economic Value Added“) zum Maß aller Dinge.

 

Wo wird Wert geschaffen, wo wird Wert vernichtet?

Unternehmen waren plötzlich kein gewachsenes Ganzes mehr, sondern Portfolios, dessen Teile – je nach Marktlage – gekauft oder verkauft wurden. Alles stand zur Disposition. Dieser Wandel in der Wirtschaft führte auch zu einem massiven Umdenken im Management: die Ära des Lean Management und der Effizienz war angebrochen. Ja, Effizienz wurde zum Maß aller Dinge.

 

Gleichzeitig ging es darum, das entstandene Vakuum und die sinnentleerten Strukturen  mit Visionen und Leadership aufzufüllen. In dieser Ära wurde daher das Konzept der transformationalen im Gegensatz zur transaktionalen Führung entwickelt. Transaktionale Führung funktioniert im Sinne eines Tauschgeschäftes (Belohnung nach Zielerreichung), transformationale Führung begleitet hingegen die Geführten auf eine höhere Ebenen der Bedürfnisbefriedigung, so dass sie sich jenseits ihrer Eigeninteressen für ein größeres Ganzes einsetzten. Transformationale Führung soll Menschen mit einer Vision inspirieren, sie emotional mitreißen, sie begeistern und so transformieren, und zwar nach dem Credo: „Wer Leistung will, muss Sinn schenken.“

 

„Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes wie“, sagte schon Nietzsche

Leadership-Learning für heute: In der Praxis findet dieser Ansatz derzeit zunehmend seinen Weg in die Unternehmen. Leadership beziehungsweise transformationale Führung geht im Gegensatz zum Management immer vom Warum aus, kommt dann zum Was und in weiterer Folge zum Wie. Klassisches Management macht das in die entgegengesetzte Richtung. Was, wird wie, warum gemacht! Die sinnstiftende Wirkung von Leadership lässt sich wohl am besten mit einem Friedrich-Nietzsche-Zitat umschreiben: „Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes wie.“ Das sind die Lessons learned.

 

2000er: Agile Leadership

Seit den Nuller-Jahren entwickelte sich mit der weiteren Dynamisierung der Märkte und der Verkürzung von Produktlebenszyklen ein neues Konzept: das Agile-Leadership. „Viel alter Wein in neuen Schläuchen, wie zum Beispiel Selbstorganisation, Empowerment, Vernetzung, aber all das gepaart mit Flexibilität und Agilität (= Beschleunigung). Das Grundkonzept kommt nicht von ungefähr aus der raschen Software-Entwicklung und prägt heutzutage den Management-Slang.

Zu den zwei zentralen Erfolgsgrößen Preis und Qualität kam nämlich als Dritte Zeit hinzu. Die Produktlebenszyklen werden immer kürzer, überall nimmt Komplexität zu und die Zeit für solides Entscheiden ab. Das sind paradoxe Anforderungen, die mit diesem Konzept gelöst werden sollen.

Leadership-Learning für heute: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle in einen Zustand rasenden Stillstands kommen beziehungsweise uns vom blinden Aktionismus und hektischer Betriebsamkeit leiten lassen. Jedenfalls verleitet das Konzept dazu. Wenn der Zeitbedarf für eine angemessene Problemlösung aufgrund zunehmender Komplexität steigt, dann kann man nicht permanent fordern, die Reaktionszeiten zu kürzen. Wir brauchen Entschleunigung statt Beschleunigung als handlungsleitenden Imperativ. Ich bin also skeptisch, was die Praxistauglichkeit des Konzeptes in seiner grundsätzlichen Ausrichtung betrifft.

 

2010er und 2020er: Servant Leadership

Ein Revival erlebt der Ansatz des Servant Leadership derzeit in der menschzentrierten New Work-Bewegung, der seinen Ursprung in Robert K. Greenleafs Essay „The Servant as Leader“ aus dem Jahr 1970 findet. Es stellte die Pflicht der Führungskraft dar, den Menschen beziehungsweise Mitarbeitern zu dienen. Für Greenleaf können Menschen wie Unternehmen als Servant Leaders anderen dienen. Eine Haltung der Demut, der „vornehmen Zurückhaltung“ und Bescheidenheit, die sich auch im neueren Ansatz des „Humble Leadership“ wiederfindet. Auch andere Konzepte wie „Führung auf Augenhöhe“ und „Peer Leadership“, das die Mitarbeiter dazu befähigt, selbst zu führen und zu entscheiden, schlagen in diese Kerbe.

 

Die radikale Ausrichtung am Menschen ist allerdings eine allzu einseitige Betrachtung von Führung: „Man proklamiert gern: Der Mensch ist im Mittelpunkt. Dabei ist es so: der Mensch ist für Unternehmen Mittel. Dann folgt ein Punkt. Dass Servant Leadership wieder en vogue ist, scheint der gegenteilige Pendelausschlag zum effizienzgetriebenen Management der 1990er zu sein. Womöglich ist es dem schlechten Gewissen geschuldet, weil man in der Vergangenheit zu wenig auf die Menschen geachtet hat.

 

Leadership-Learning für heute: Macht macht mit der Zeit Menschen überheblich, abgehoben und dünkelhaft. Das hat auch neurobiologische Ursachen. Zudem zeigt die Forschung, dass begünstigt Narzissten an die Macht kommen. Im schlimmsten Fall gerieren sich Führungskräfte dann als „Master of the Universe“, taktisch kalkulierend, skrupellos, manisch und zynisch zugleich, und ohne Gewissensbisse in Bezug auf potentielle Grenzüberschreitungen. Zur Selbstregulierung halte ich daher den Aspekt der dienenden Bescheidenheit und Zurückhaltung für Führungskräfte sehr bedeutsam.

 

Im Spannungsfeld des Leadership-Dilemmas

Führungskräfte befinden sich seit jeher in einem Spannungsgefüge. Führung hat immer mit Dilemmata zu tun – es ist nie ein Entweder-Oder. Es gibt drei derartige Dilemmata, die folgendes Spannungsgefüge ergeben:

Folge einer inspirierenden Vision, und fördere die Prinzipientreue – sei aber gleichzeitig realistisch und verfolge kalkulierbare Ziele, deren Erreichung belohnt wird!

 

Kümmere Dich um Deine Mitarbeiter, fördere, und entwickle sie und nimm ihr Wohlergehen ernst – vergiss aber nicht, dass Organisationen dazu da sind, Ziele zu erreichen und Aufgaben effizient zu erledigen:

 

Setze auf persönliche, vertrauensvolle Beziehungen – schaffe aber gleichzeitig Systeme und Routinen, die Interaktionen überflüssig machen und Kontrolle anonymisieren!«

 

Der auch in den vergangenen Jahren immer wieder proklamierte Anspruch an Führungskräfte, situative Führung anzuwenden, also indem sie auf den Bedarf der jeweiligen Situation oder des Gegenübers eingehen, ist zu hoch gegriffen. Ich bin für eine realistischere Betrachtung, was Führungskräfte leisten können: „Diese sind zwar idealerweise reife Menschen, aber auch deren Flexibilität und Veränderbarkeit ist enden wollend.“

 

Wichtiger als allen Ansprüchen zu genügen ist, den richtigen Kontext, das richtige
Umfeld für den persönlichen Führungsstil zu finden: Der richtige „Fit“ macht den Unterschied. Essentiell ist, die eigenen Stärken und Schwächen als Führungskraft zu erkennen und das passende Umfeld dafür zu finden, was die Leadership-Zukunft bringt – und was daran so schwierig ist.

 

Auf Führungskräfte kommen zwei große Herausforderungen zu:

Remote beziehungsweise Hybrid Work, also das ortsunabhängige Arbeiten, und damit auch Remote oder Hybrides Leadership als neue Normalität für Führungskräfte: Studien zeigen zwar, dass die Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeiter im Home-Office besser als erwartet ist – jedoch geht die Zufriedenheit der Führungskräfte im Gegensatz zu den Mitarbeitern eher zurück. Ein Grund dafür: es fehlt die soziale Bindung zu den Mitarbeitern beziehungsweise die soziale Kontrolle.

 

Die zweite große Herausforderung für Führungskräfte ist vor allem der akute Fachkräftemangel, der sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen wird. Allein in Deutschland werden bis 2035 zwischen fünf und sechs Millionen Fachkräfte fehlen. Darum wird sich Führung unbedingt kümmern müssen.

 

 

 

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