Buchauszug Dieter Lederer: „Der Change Code. Wie Menschen sich für Veränderungen begeistern und Unternehmen damit gewinnen“

Buchauszug Dieter Lederer: „Der Change Code. Wie Menschen sich für Veränderungen begeistern und Unternehmen damit gewinnen

 

Dieter Lederer (Foto: Wiley/PR)

 

Katalysator statt Verhinderer: Die Unternehmenskultur

Was ist Unternehmenskultur? Die einschlägige Managementliteratur gibt darauf ebenso keine eindeutige Antwort wie zum Thema Leadership. Stattdessen konkurriert eine Vielzahl von Interpretationen um die Deutungshoheit. Einigkeit besteht darin, dass die Unternehmenskultur sowohl geschäftsrelevant als auch wettbewerbsdifferenzierend ist – wie genau, hängt von ihr selbst ab. Zwei Definitionen, die sehr ähnlich zueinander sind, jedoch aus unterschiedlichen Schulen stammen, seien herausgegriffen.

 

Für Edgar H. Schein, den amerikanischen Sozialwissenschaftler und Mitbegründer der Organisationspsychologie und -entwicklung, ist Kultur „die Summe aller gemeinsamen und selbstverständlichen Annahmen, die eine Gruppe im Laufe ihrer Geschichte erlernt hat“ (Schein, 2010). Sehr kompakt definiert der Kulturcoach Michael Löhner, der in der Tradition des Philosophen, Theologen und Psychologen Rupert Lay steht, Kultur als „die Summe der Gewohnheiten einer Organisation“ (Löhner, 2005). Beide Einlassungen passen sehr gut zum Verständnis von Organisationen als soziale Systeme, geprägt von den Menschen darin.

 

Unternehmenskultur beruht auf Erfahrungslernen.

Selbstverständnis, Annahmen und Gewohnheiten bilden sich in den Köpfen der einzelnen Menschen, angeregt von ihren Erfahrungen in der Führung, Zusammenarbeit und Interaktion. Damit wird klar, dass Kultur auf Erfahrungslernen beruht, nicht auf Dokumentation. Salopp gesagt ist es der Kultur egal, was in Handbüchern zum Organisations- und Führungsverständnis oder auf Plakaten an der Wand steht. Sie speist sich aus dem, was tagtäglich gestaltet und erlebt wird. Die gelebte Unternehmenskultur kann sich begünstigend oder bremsend auf Veränderungsvorhaben auswirken.

Daher ist es angeraten, sich dominante kulturelle Muster vor Augen zu führen und auf ihre Wechselwirkung mit Transformationsprozessen hin abzuklopfen. Change-Initiativen sind sowohl an ihrem Start besonders anfällig für bremsende Konventionen als auch dann, wenn es in den breiten Rollout und eine dauerhafte, verbindliche Umsetzung gehen soll.

Dieses Kapitel beschreibt weit verbreitete Muster, die nachhaltiger Veränderung entgegenstehen. Obwohl ihre hinderliche Wirkung intuitiv verstehbar ist, stellt ihr Ausschalten eine enorme Herausforderung dar, weil sie lange eingeübt sind und ob der Gewöhnung daran oft tragbar erscheinen. Doch das sind sie nicht. Sollten sie auftreten, gilt es, von ihnen wegzulenken – nicht mittels harter Konfrontation, jedoch klar, bestimmt und würdigend. Da sie als eingeprägte Kulturelemente äußerst beharrlich sind, muss über längere Zeit mit vielen Wiederholungen und nicht nachlassender Konsequenz interveniert werden. Mit dem entschiedenen Wollen des Managements und der davon ausgehenden Vorbildwirkung wird nach und nach ein Kulturwandel gelingen, der katalytisch statt verhindernd auf das Veränderungsvermögen der Organisation wirkt.

 

Bremsende Innovationen

Es ist ein Muster, das nicht nur die neuere Wirtschaftsgeschichte durchzieht, sondern seit jeher mit Innovationen einhergeht: Einstmals hoch innovative Unternehmensbereiche und Produkte, die ihren Zenit überschritten haben, stehen überfälligen Innovationsschritten im Weg. Typisch dafür sind beispielsweise traditionelle Hersteller von Software-Werkzeugen, die sich gegen die Virtualisierung in der Cloud wehren, an überkommenen Lizenzmodellen festhalten und das Konzept „Software as a Service“ ablehnen. Argumente für diese Haltung gibt es viele: Von der IT-Sicherheit bis hin zur Inkompatibilität mit den Kundenwünschen ist alles dabei. High-End-Fahrradhersteller haben lange Zeit die Tretunterstützung via Elektromotor als unwürdig für ihre Kunden abgelehnt. Aufgemischt wurde der Markt folglich von Massenherstellern sowie von Start-ups, die sich im Exklusiv-Segment positionierten. Viele Maschinenbauer haben lange gebraucht, bis sie neben der omnipräsenten Optimierung der Maschine die kontinuierliche Verbesserung des Maschineneinsatzes in ihr Weltbild mit aufgenommen haben. Daraus entsprangen neue Ansätze zur Effizienzsteigerung samt den zugehörigen Geschäftsmodellen.

 

Es lohnt sich, immer wieder der Frage nachzugehen, mit welcher Disruption das eigene Unternehmen aus dem Markt gefegt werden könnte.

Auch wenn es schwierig ist, sich radikal neue Ansätze im eigenen Geschäftsfeld vorzustellen – schließlich kennen Firmen ihren Tätigkeitsbereich bis in kleinste Details und haben alles mehrfach durchdacht –, werden sie kommen. Auch darauf, dass Menschen zu Recht stolz auf Innovationen sind, die zu einem gut laufenden Produkt wurden, werden Angreifer keine Rücksicht nehmen. Dies haben selbst Marktführer mit lange unangefochtener Position im Wettbewerb erfahren müssen, die sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können, von der Spitze der Nahrungskette verdrängt zu werden. Es lohnt daher, immer wieder der hypothetischen Frage nachzugehen, mit welcher Disruption das eigene Unternehmen oder seine Produkte und Technologien bedroht und aus dem Markt gefegt werden könnten.

 

Wenn sich damit nicht nur die Leitungsebene auseinandersetzt, sondern der hinterfragende Blick methodisch angeleitet zur regelmäßigen Übung in weiten Teilen der Organisation wird, entsteht sukzessive eine neue Kultur. Führungskräfte und Mitarbeitende gewöhnen sich an ein Denken „out of the box“ sowie daran, dass Innovationen vergänglich sind und zyklisch von Neuem abgelöst werden. Außerdem fallen aus solchen Denkübungen im Sinne der Serendipität immer auch Ideen fürs laufende Geschäft mit ab.

 

Unverzichtbar mit Blick auf Transformationsprozesse ist es, die Nostalgie und alle Bollwerke zu durchbrechen, die den angestaubten Status quo und seine überlebten Innovationen hochhalten. Es ist ebenso bequem, sich auf vergangenen und aktuellen Erfolgen auszuruhen, wie aus einer vermeintlich sicheren Position heraus Bedenken und Zweifel zu formulieren. Das Beispiel des Roboterherstellers Kuka im ersten Kapitel ist ein eindrückliches Muster dafür, wie fortwährendes Infragestellen überwunden wurde, auch wenn der schmerzhafte Weg über eine lange Leidensgeschichte mit Kleinreden und Abwerten der neuen Produktgeneration führen musste. Ein respektvolles Nebeneinander bisheriger Innovationen, die den aktuellen wirtschaftlichen Erfolg ausmachen, und zukünftiger, die sich zu neuen Cashcows entwickeln können, ist essenziell. Ambidextrie ist das Fachwort aus der Organisationsentwicklung dafür, das die gleichzeitige Ausnutzung von Bestehendem und Erkundung von Neuem meint.

Die Automobilindustrie wird häufig als Beispiel dafür genannt: Einerseits gilt es, die alten Produkt- und Marktsegmente der Verbrennertechnologie optimal zu nutzen, andererseits ist der Übergang zu ökologisch zukunftsfähigen Antrieben zu meistern. Dabei ist die wirtschaftliche Querwirkung offensichtlich: Ohne die Einnahmen aus der alten Technik wird es die neue nicht geben. Ähnliche Beispiele gibt es in allen Wirtschaftsbereichen. Für einen Hand in Hand laufenden Umgang mit alten und neuen Ansätzen nebst der zugehörigen Denkweise zu sorgen, pusht die Unternehmenskultur in Richtung einer flexiblen und selbstverständlichen Handhabung von Veränderungen. Der schädlichen Konfrontation von Alt gegen Neu wird damit der Boden entzogen.

 

Dieter Lederer: „Der Change Code. Wie Menschen sich für Veränderungen begeistern und Unternehmen damit gewinnen“ 272 Seiten, 24,99 Euro, Wiley Verlag. https://www.wiley-vch.de/de/fachgebiete/finanzen-wirtschaft-recht/der-change-code-978-3-527-51107-5

 

Bewahren und aussitzen

„Das haben wir noch nie so gemacht“, „Das machen wir schon immer so“, „Das ist alles schon dagewesen und hat nicht funktioniert“ oder „So geht das nie“: Derartige Aussagen werden Sie kennen. Außer in den wenigen Fällen, in denen sie ihre Berechtigung haben mögen, drückt sich darin Widerstand aus. Das Verweisen auf Erkenntnisse aus der Vergangenheit und auf das übliche Vorgehen dient der Abwehr von Neuem, das als bedrohlich empfunden wird. Als Totschlagargument versucht es, den Diskurs über mögliche Veränderungen im Keim zu ersticken. In der Praxis sind derartige Killerphrasen oft erstaunlich wirksam, weil sie von Experten vehement und mit dem Nimbus der Unantastbarkeit vorgetragen werden. Doch sie sind alles andere als sakrosankt und fallen bei offensivem Nachfragen häufig wie Kartenhäuser in sich zusammen.

 

Hinter diesen Beschwörungen des Bisherigen steht der Wunsch, es zu bewahren, und vielfach die Absicht, das Neue ohne Beeinträchtigung der eigenen Bequemlichkeit an sich vorbeiziehen zu lassen. Das Alte aussitzen statt fürs Neue schwitzen, lautet die Devise. Die Aussichten auf Erfolg sind groß, wenn diese Art des Widerstands frei ausgelebt werden darf, ohne dass jemand Anstoß daran nimmt. Dann ist sie wohl Teil der Unternehmenskultur. Begünstigt wird die zersetzende Wirkung durch eine zu geringe Konzeptionstiefe der Veränderungsstrategie, wie in Kapitel vier dargestellt, sowie durch Uneinigkeit der Führungskräfte, wie in Kapitel fünf beschrieben. Im ersten Fall macht das oberflächliche Verständnis der Wirkmechanismen und des unternehmerischen Nutzens die Pläne angreifbar, im zweiten können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diejenige Meinung zum Veränderungsvorhaben aussuchen, die ihnen am genehmsten ist.

 

Das Beharren auf Tradition zulasten von Innovation macht Organisationen träge und reaktiv.

Für den Umgang mit Killerphrasen und Totschlagargumenten sind zwei Aspekte wichtig. Erstens: Reagieren Sie darauf. Auf keinen Fall dürfen Sie diese unerwidert im Raum stehen und damit ihre toxische Wirkung entfalten lassen. Wer sie benutzt, will destruktive Macht ausüben, will seine eigene Position auf Kosten anderer durchsetzen, lässt Interesse an einer konstruktiven Auseinandersetzung vermissen, die alle Beteiligten weiterbringen könnte.

Zweitens: Enttarnen Sie die Phrasen, idealerweise ohne harte Fronten zu bilden. Dafür eignet sich interessiertes und würdigendes Nachfragen mit der Einladung, die beabsichtigte Wirkung der vorgebrachten Position zu erläutern. Darauf folgt das Überleiten zur Lösungsorientierung mit Darlegung der eigenen Position und schließlich die Vereinbarung, auf derartige Phrasen zukünftig zu verzichten. Diese Sequenz darf vorzugsweise in der Abteilungs- oder Bereichsöffentlichkeit erfolgen, da sie gesichtswahrend ist und gleichzeitig die eigene feste Haltung demonstriert. In hartnäckigen Fällen kann eine weitere Klärung unter vier Augen notwendig sein.

 

Bewahren und Aussitzen können sich auch in andere Formen als Killerphrasen kleiden. Einen Transformationsprozess vordergründig zu unterstützen, ihn jedoch durch geschicktes Agitieren im Verborgenen zu hintertreiben, ist eine davon. Das kreative Finden von Gründen dafür, warum die Umsetzung nicht so wie gewünscht, nicht im vorgesehenen Zeitrahmen oder nicht mit den vorhandenen Kompetenzen erfolgen kann, ist eine andere. Unterm Strich bedeutet das nichts anderes als das Vorspielen von Goodwill bei gleichzeitigem Hochhalten einer abweichenden Agenda. Das Mittel der Wahl dagegen ist das konsequente Verfolgen der Umsetzung gewünschter Änderungen mit aussagekräftigen Fortschrittsindikatoren.

So sehr sich das Beharren auf Tradition zulasten von Innovation oder gar Disruption durch die psychische Konditionierung einzelner Menschen erklären lässt, so wenig soll es hingenommen werden. Derartige Reflexe machen Organisationen träge und reaktiv. Sie begünstigen Vermeidungsstrategien, stehen der erforderlichen Flexibilität und Geschwindigkeit des Unternehmenswandels entgegen. Fangen Sie an, derartige Muster aufzulösen und durch zieldienliche zu ersetzen. Ihre Change-Programme werden es Ihnen danken.

 

Fehleinschätzungen und Rechthaberei

Vom Topmanagement im Brustton der Überzeugung vorgenommene Fehleinschätzungen des eigenen Unternehmens und der zu erwartenden Marktentwicklung: Kennen Sie solche? Prominente Firmen machen es vor, immer und immer wieder. Denken Sie an die, deren Scheitern derart spektakulär war, dass sie als Mahnmal in die Lehrbücher eingegangen sind – Nokia und Kodak sind gemeint.

Denken Sie an viele weitere, die dahingerafft wurden, zu denen Blaupunkt, Grundig, Kathrein, Metz und Quelle zählen, und an diejenigen, die zwar überlebten, doch hochkritische Phasen durchmachten oder noch machen, wie Leica, Loewe, Karstadt-Kaufhof, Märklin, Media-Saturn. Sie alle eint, dass sie Opfer eklatanter Managementfehler wurden.

Waren diese vermeidbar? Ein guter Teil davon auf jeden Fall, denn man hätte die Auswirkungen antizipieren können, spätestens aber kommen sehen müssen, wenn man das Marktumfeld aufmerksam beobachtet hätte. Bezeichnend ist, dass dem Niedergang stets eine dominante Marktposition vorausging, teils sogar Marktführerschaft. Sattheit, Trägheit, Selbstverliebtheit und die unerschütterliche Überzeugung, dass sich die Erfolge der Vergangenheit in alle Zukunft fortsetzen, sind Zutaten für den Verfall.

 

Fehleinschätzungen und Rechthaberei führen dazu, dass überlebensnotwendige Veränderungen entweder unterbleiben oder in die falsche Richtung gehen.

Eine hohe Sicherheit auf der Leitungsebene, gepaart mit Selbstüberschätzung, Realitätsverlust und Betriebsblindheit, ist hochgradig schädlich. Seien Sie also wachsam, wenn Sie derartige Kulturelemente beobachten oder ihnen selbst erliegen. Erkennen können Sie diese meist an der Absolutheit, mit der Einschätzungen und Entscheidungen vorgenommen werden. Gepaart sind sie typischerweise mit der Unerwünschtheit von Widerspruch und kritischer Auseinandersetzung, teils sogar mit Denkverboten. Dahinter mögen im Einzelfall ein Selbstwertmangel mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen und eine davon befeuerte Einengung des Blicks auf die eigene Größe stehen.

Zudem spielt der „overconfidence effect“ oder Selbstüberschätzungseffekt eine Rolle, der die Differenz zwischen dem beschreibt, was Menschen tatsächlich wissen und lediglich zu wissen glauben. Er zeigt, dass wir sowohl unser Know-how als auch unsere Prognosefähigkeiten systematisch überschätzen. Daraus sollte schon aus Gründen der Selbsterhaltung statt einer Verengung des Diskurses seine Aufweitung erfolgen. Den eigenen Vorhersagen unreflektiert nachzueifern, bedeutet, das Potenzial von Experteneinschätzungen im eigenen Unternehmen ungenutzt zu lassen und ein erhöhtes Risiko elementar falscher Entscheidungen in Kauf zu nehmen. Eine derartig überholte Kultur schadet extrem, zumal dieses Verhalten meist nicht nur bei der Leitung salonfähig ist, sondern ebenso auf den nachgeordneten Führungsebenen.

 

Die Folge für den Unternehmenswandel ist, dass überlebensnotwendige Veränderungen entweder unterbleiben oder in die falsche Richtung gehen. Daher können Sie nicht zusehen, wenn Sie derartige Muster beobachten. Unterbinden Sie Einengung, indem Sie beginnen, Vielfalt und Unterschiedlichkeit bei der Meinungsbildung nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu fördern. Etablieren Sie einen Stil des kritischen Hinterfragens, der Reflexion durch Experten, des Zulassens von Diversität im Denken und im Stellungbeziehen. Methodik dafür gibt es wie Sand am Meer, von Reviews bis Soundingboards.

Das Entscheidende jedoch ist die Haltung dahinter. Zugegeben kann es schwierig sein, das Topmanagement vom patriarchalischen Rechthaben abzubringen. Der Weg dahin führt über Selbsterkenntnis und Änderung von innen heraus. Was Sie tun können, ist immer wieder eine Reibungsfläche und damit die Möglichkeit zu bieten, das eigene Handeln wie in einem Spiegel wahrzunehmen und zu reflektieren. Zudem mögen Beispiele aus anderen Unternehmen helfen. Bekanntlich ist die Anschauung bei anderen oft leichter anzunehmen und daher lehrreicher als bei sich selbst. Geben Sie trotz eventueller Hürden nicht auf. Ihre Firma und Ihre Change-Prozesse können nur davon profitieren.

 

Zaudern statt entscheiden

Innovationsprozesse können ein Lied davon singen: Statt schneller und mutiger Entscheidungen darüber, welche Idee zum Konzept und welches Konzept zum Prototyp weiterentwickelt wird, sehen sie sich häufig Zögern und Zaudern ausgesetzt. Logischerweise verlangt jede weitere Phase Investitionen und verbrennt Mittel, wenn sich herausstellen sollte, dass Idee oder Konzept nicht funktionieren. Daher ist es angemessen, solche Entscheidungen auf Basis einer nachweislich belastbaren Vorarbeit zu treffen.

Schwierig wird es, wenn Teams in Ehrenrunden geschickt werden, um erneut zu analysieren, weitere Daten zu beschaffen und noch mehr abzusichern, um das übertriebene Sicherheitsbedürfnis ihres Managements zu befriedigen. Dabei ist die Sache einfach: Liegen die entscheidenden Informationen zu Produkt, Geschäftsmodell, Marktpotenzial und Wettbewerb auf dem Tisch, dann ist die Zeit reif fürs Entscheiden, je nach Erfahrung und Intuition vielleicht auch schon früher. Weitere Absicherungsrunden sind dann Fehlinvestitionen.

 

Die Chance, zu gewinnen, ist für diejenigen höher, die auf bestärkendes Unterstützen statt auf zweifelndes Hinterfragen setzen.

Sehr plakativ zu beobachten ist das im Start-up-Umfeld. Ausführliche Due-Diligence-Prozesse sind selbstverständlicher Bestandteil jeder Finanzierungsrunde. Was die potenziellen Geldgeber dabei sehen und bewerten wollen, ist jedoch hoch unterschiedlich. Während die einen lange Checklisten abarbeiten und bei fehlenden Häkchen Zweifel anbringen, versuchen die anderen, das mittelfristige Marktpotenzial zu verstehen sowie die Aufstellung, die es braucht, um dieses heben zu können.

Erstere sind die Zauderer unter den Investoren. Ihr Sicherheitsbedürfnis ist hoch, ihre Entscheidungsprozesse dauern lang und wollen mit vielen Proofpoints gestützt werden. Läuft es in der Geschäftsentwicklung dann nicht so rund, wie sie es gerne hätten, werden sie schnell unsicher und legen einen nutzlosen bis kontraproduktiven Aktivismus an den Tag. Letztere sind die Mutigen. Haben Sie sich von der Tauglichkeit des Geschäftsmodells und den Fähigkeiten des Teams überzeugt, kann sie nichts mehr zurückhalten. Zügige Entscheidungen und der unbeirrte Blick auf den Erfolg auch auf Durststrecken kennzeichnen sie. Weder die einen noch die anderen haben eine Glaskugel. Irren können sich folglich beide Investorentypen. Doch die Chance, zu gewinnen, ist für die Mutigen höher, denn sie setzen auf bestärkendes Unterstützen statt auf zweifelndes Hinterfragen.

 

Schauen Sie sich die Entscheidungskultur in Ihrem Unternehmen an. Für Transformationsprozesse spielt sie eine bedeutende Rolle, denn deren Fortschritt hängt an grundlegenden strategischen wie an detaillierten operativen Weichenstellungen. Sollten Sie ein übergroßes Sicherheitsbedürfnis feststellen, das sich als Bedenkenträgerei, zögerndes Abwarten oder unentschlossenes Ausweichen äußert, besteht Handlungsbedarf. Dabei ist häufig ein paradoxer Effekt zu beobachten: Wirtschaftlicher Erfolg begünstigt das Verzögern. Statt rechtzeitig und wohlüberlegt auf sich abzeichnende Markttrends zu reagieren, entscheiden sich Unternehmer und Manager für die Bequemlichkeit des weiteren Durchhaltens.

 

Die guten Zahlen scheinen dieses Verhalten zu rechtfertigen. Zudem könnte es sein, dass die Strategie des Aussitzens funktioniert, dass Bedrohungen vorüberziehen und sich nicht so dramatisch auswirken. Sie erinnern sich vermutlich an den Status-quo-Fehler in Kapitel fünf. In wirtschaftlich schlechten Zeiten hingegen steigen die Veränderungs- und damit auch die Entscheidungsbereitschaft. Der Grund dafür ist ein erheblich höherer äußerer Druck.

 

Eine fähige und unterstützende Entscheidungskultur braucht reife und starke Führungspersönlichkeiten, die es sich zutrauen, mit einer Mischung aus kognitiv-rationaler Abwägung und emotional-intuitiver Bewertung zu entscheiden, was entscheidungsreif ist. Die beherzt zupacken statt zaudern, die frei sind vom Nimbus der Unangreifbarkeit, die die Zeichen der Zeit ernst nehmen und folglich weder Markttrends verschlafen noch jedem Hype hinterherspringen. Die zudem Unsicherheit und Risiko ohne überzogenes Sicherheitsbedürfnis aushalten können. Denn ein Wandel ohne Risiko ist kein Wandel.

 

 

Not invented here

Leidet Ihre Organisation am „Not-Invented-Here(NIH)-Syndrom“? Falls nicht, können Sie sich glücklich schätzen. Falls doch, leisten Sie sich eine kulturelle Schwäche, die Change-Initiativen erheblich behindern kann. Dieser Effekt wurde 1982 von Ralph Katz und Thomas J. Allen anhand einer Studie in F&E-Bereichen systematisch untersucht (Katz & Allen, 1982). Vom noch weiter zurückliegenden Apollo-Programm der NASA wird berichtet, dass Abteilungen sich aufgrund des NIH-Syndroms wie Silos gegeneinander abschotteten und viel zu wenig kommunizierten. Potenzielle Sicherheitsrisiken für Astronauten waren die Folge. Zur Lösung wurden Personen eingesetzt, die keiner der Abteilungen zugeordnet und damit beauftragt waren, für einen angemessenen Informationsfluss zu sorgen. Sehr schön ist dieser Effekt auch bei Standardisierungsbemühungen zu sehen, in deren Ergebnis statt des größten gemeinsamen Nutzens nur der kleinste gemeinsame Nenner erreicht wird.

 

Misstrauen gegenüber Entwicklungen und Erkenntnissen, die anderswo gewonnen wurden, ist weit verbreitet.

Der Wettbewerb zwischen den Videosystemen Betamax von Sony und VHS von JVC ist ein Beispiel dafür. Es kam nicht infrage, die Technologie eines Wettbewerbers zur Norm zu machen. Daher blieb es beim Konkurrenzkampf, in dem sich das günstigere, jedoch technologisch unterlegene VHS-Format durchgesetzt hat. Auch Nokia und Blackberry hielten nichts von herstellerübergreifender Standardisierung der Software für mobile Geräte. In der Folge lehnten sie Android ab und gerieten mit dieser Entscheidung mehr und mehr ins Hintertreffen. Es fehlte ihnen an der Kompetenz und Schlagkraft, wettbewerbsfähige Ökosysteme dagegenzustellen.

Ein aktuelles Beispiel kommt vom Tübinger Biotech-Unternehmen Curevac, das an einem Impfstoff gegen den Covid-Erreger forscht und jüngst aufgrund unzureichender Ergebnisse bei einer Zulassungsstudie weit hinter den Wettbewerb zurückgefallen ist[i]. Dabei ist immer wieder die Rede von einer selbstbezogenen Firmenpolitik, in der die Angst davor, Know-how zu verlieren, unterstützenden Entwicklungs- und Produktionskooperationen im Weg stand. Auch das ist eine Form des NIH-Syndroms.

Die Symptomatik hat sich bis heute kaum verändert. Misstrauen gegenüber Entwicklungen und Erkenntnissen, die anderswo gewonnen wurden, ist weit verbreitet. Als Ursachen werden sozialpsychologische und kulturelle Einflüsse angesehen. Damit handeln sich Unternehmen zwei Nachteile ein: Zum einen begrenzen sie ihr Innovations- und Entwicklungspotenzial auf die in der eigenen Organisation vorhandenen Kompetenzen. Zum anderen investieren sie ins Wiederholen von Innovationen sowie von Misserfolgen, die bereits existieren und übernommen beziehungsweise berücksichtigt werden könnten.

 

Zwar wird immer wieder versucht, mit Partnerschaften und Joint Ventures firmenübergreifend Wissen und Kompetenzen zu nutzen, doch häufig funktionieren diese nur sehr begrenzt. Die Automobilindustrie liefert viele Negativbeispiele, sei es die aufgekündigte Kooperation zwischen BMW und Daimler beim autonomen Fahren[ii], die immer wieder von schlechten Nachrichten überschattete Allianz zwischen Renault, Nissan und Mitsubishi[iii] oder der mögliche Ausstieg von Siemens aus dem Gemeinschaftsunternehmen mit Valeo, das Komponenten für Elektroautos produziert[iv].

 

Im eigenen Saft zu schwimmen und kaum von anderen zu lernen, ist eine ungünstige Strategie. Beginnen Sie, derartige Muster aufzulösen, wenn sie in Ihrem Unternehmen existieren. Möglichkeiten des Lernens gibt es nicht nur bei Produkten und Prozessen, sondern auch bei Organisationsprinzipien, Arbeitsmethodik, Werkzeugen und vielem mehr. Transformationsprozesse lassen sich damit beschleunigen, sowohl durch das Vermeiden von Fehlschlägen und Irrwegen, die andernorts begangen wurden, als auch durch das Übernehmen und Adaptieren von funktionierenden Lösungen. Im Kleinen, das heißt beim Blick auf andere Bereiche oder Abteilungen im eigenen Unternehmen, schlummert ebenfalls ein großes Potenzial für das gegenseitige Profitieren.

 

Das Vermeiden von Mehrfachentwicklungen zur Kultur zu machen und damit auch Offenheit im Denken sowie gegenseitiges Respektieren und Würdigen zu fördern, nützt Unternehmen. Angesichts der in allen Wirtschaftsbereichen massiv zunehmenden Komplexität und der großen Herausforderungen in Bereichen wie Ökologie, Gesundheit, Mobilität, Konnektivität braucht es eine intensive Vernetzung von Kompetenzen, auch jenseits traditioneller Wettbewerbsbarrieren. Das Abschaffen des NIH-Syndroms trägt dazu bei.

Essenz für Querleser

  • Die Unternehmenskultur, verstanden als die Summe der Gewohnheiten einer Organisation, kann sich fördernd oder bremsend auf Transformationsprozesse auswirken. In vielen Unternehmen sind bremsende Muster etabliert, die es zu hinterfragen und zu verändern gilt, um den Unternehmenswandel zu erleichtern.
  • Ehemalige Innovationen, die ihren Zenit hinter sich haben, an denen jedoch festgehalten wird und die geschützt werden, stehen neuen Innovationen im Weg. Eine Kultur der Ambidextrie, die das Alte würdigt und gleichzeitig das Neue ermöglicht, löst diese Blockade auf.
  • Der Wunsch, das Bisherige zu bewahren und Veränderungen auszusitzen, ist so verbreitet wie hinderlich, macht Organisationen träge und reaktiv. Häufig geht er mit Totschlagargumenten oder dem verdeckten Verfolgen einer eigenen Agenda einher. Beides muss aufgelöst werden.
  • Fehleinschätzungen im Topmanagement, getrieben von Selbstüberschätzung und gepaart mit der Unerwünschtheit von Widerspruch, bringen regelmäßig Unternehmen zu Fall. Es gilt, einen Stil des kritischen Hinterfragens, der Reflexion durch Experten und der Diversität im Denken zu fördern.
  • Wirtschaftlicher Erfolg sowie ein hohes Sicherheitsbedürfnis begünstigen oft das Verzögern von fälligen Entscheidungen. Das behindert Transformationsprozesse. Das Etablieren einer fähigen Entscheidungskultur, gelebt von reifen und starken Führungspersönlichkeiten, ist die Lösung.
  • Das Not-Invented-Here-Syndrom steht dem zügigen Fortschritt von Change-Initiativen häufig entgegen. Angesichts allenthalben massiv zunehmender Komplexität braucht es jedoch eine intensive Vernetzung von Kompetenzen, auch jenseits traditioneller Wettbewerbsbarrieren.

 

 

 

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