Buchauszug Mira C. Mühlenhof: „Der lange Schatten der Schulzeit: Wie traumatische Schulerfahrungen Karrierewege blockieren“

Mira C. Mühlenhof (Foto: PR/MVG Verlag)
Sind wir nicht alle ein bisschen Schultrauma?
Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als ich im Coaching zum ersten Mal auf ein Schultrauma gestoßen bin, von dem der Klient selbst überhaupt keine Ahnung hatte. Der Coachee, Vorstand eines großen Versicherungskonzerns, hatte einen Termin bei mir gebucht, weil er an seinem Lampenfieber arbeiten wollte. Als er durch die Tür kam, dachte ich: »Was für ein selbstbewusster Typ!« – Er war mir auf Anhieb sympathisch. Doch nur wenige Minuten später war aus dem smarten Boss ein Häufchen Elend geworden. Er schilderte mir, wie sehr ihn sein Lampenfieber quälte, weil es nicht nur aus ein wenig Herzrasen bestand, sondern sich regelmäßig zu ausgewachsenen Panikattacken entwickelte. Immer dann, wenn er im Kreis seiner Vorstandskollegen oder gar vor dem Aufsichtsrat etwas präsentieren musste, öffneten sich in seinem Körper alle Schweißdrüsen. Seine größte Angst bestand darin, in solch einer Situation einem Kollegen die Hand geben zu müssen, weil diese in solchen Momenten klatschnass sei. Oder, noch schlimmer, dass er sein Sakko ausziehen müsse, weil das im Sommer alle Kollegen so tun. Sein Hemd klebe regelmäßig am Oberkörper fest, er meinte sarkastisch: »Das könnte ich auswringen.«
Mithilfe einer Coaching-Technik namens wingwave® kamen wir an die ursprüngliche, sprich auslösende Situation heran, an das Schultrauma: Mein Coachee war als Kind keine Leuchte in Mathe gewesen und musste sich damals immer wieder durch eine Gruppenübung namens »Rechenkönig« quälen. Bei dieser wurden alle Kinder aufgefordert, sich hinzustellen. Wer am schnellsten eine Kopfrechenaufgabe gelöst hatte, durfte sich setzen, dann kam die nächste Aufgabe. Das Ergebnis sah regelmäßig so aus: Alle Kinder saßen, er stand, war der Depp und wurde lauthals ausgelacht.
Dreißig Jahre später reagierte sein Körper noch immer mit extremen Stress-Symptomen, wenn alle Zuhörer sitzen und er allein vor einer Gruppe steht.
Mein Coachee war total perplex über den Link zu der Rechenübung von damals, seine Erinnerung daran war komplett weg gewesen und tauchte erst in der Coaching-Session wieder auf. Er schaltete dann aber gleich in eine Art Manager-Modus um und präsentierte mir seine Lösung, indem er vorschlug, er könne ja fortan seine Präsentationen im Sitzen halten: »Ich erzähle denen einfach, dass ich beim Skifahren gestürzt bin und einen Bänderriss habe.« Das war natürlich keine langfristige Lösung, so viele Bänderrisse hat auf Dauer ja kein Mensch. Aber er wollte es unbedingt ausprobieren.
Eine Woche später rief er mich an und erzählte, er habe seine Quartals-Zahlen im Sitzen präsentiert und siehe da: keine Panikattacke, kein Herzklopfen und vor allen Dingen kein einziger Schweißtropfen! Er war total happy, ich auch. Wir haben das Schultrauma dann doch noch aufgearbeitet, sprich gelöst. Der wichtigste Schritt aber war der, überhaupt erst mal eine Verbindung zu der auslösenden Situation herzustellen, damit er sich von den Spätfolgen, sprich Symptomen, befreien konnte.
Buchauszug Mira Christine Mühlenhof: „Der lange Schatten der Schulzeit: Wie traumatische Schulerfahrungen Karrierewege blockieren“, 288 Seiten, 17 Euro, MVG-Verlag, https://www.m-vg.de/mvg/shop/article/22300-lass-die-schatten-der-schulzeit-hinter-dir/
Je länger ich als Coachin tätig bin, desto mehr Schultraumata begegnen mir. Noch einmal: Ich halte nichts davon, wenn eine schlimme Kindheit als Ausrede dafür benutzt wird, die Verantwortung für Ursache und Wirkung des eigenen Handelns abzugeben. Vielmehr plädiere ich dafür, alten Verletzungen den richtigen Platz im Leben zu geben, indem wir sie reflektierend anschauen und verarbeiten. Dadurch verlieren sie ihren störenden Einfluss auf unser Leben. Es gilt, die Sprache und Signale des Körpers zu verstehen, unbewusste Muster zu durchschauen, aus Wiederholungszwängen auszusteigen und so die innere Balance wiederzufinden.
Schultrauma ist natürlich nicht gleich Schultrauma. Es gibt:
• Mobbing-Themen
• Demütigungen durch Lehrer
• Notendruck in der Familie
• Ohnmachtsgefühle in der Gruppe
• Übergriffigkeiten
• Versagensängste
• und noch weitere Themen
Dementsprechend hinterlässt diese Vielzahl an auslösenden Momenten ganz unterschiedliche Spuren. Viele innere Blockaden, die im Laufe des Lebens einschränkend und/oder störend wirken, lassen sich auf ein Schultrauma zurückführen. Auffallend dabei ist, dass viele Menschen, die sich sehr wohl eines Schultraumas bewusst sind, nicht nach Unterstützung suchen. Sie wählen eher den Weg der Vermeidungsstrategie, beispielsweise wechseln sie das Thema, wenn sich das Gespräch um das Thema Schule dreht. Oder sie wählen Ausflüchte, um bloß nicht eine Schule betreten zu müssen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Bürgerinnen und Bürger nicht wählen gehen, weil sich ihr Wahllokal in einer Schule befindet!
Mindestens genauso groß ist die Gruppe derer, die überhaupt nicht wissen, dass sie ein Schultrauma haben. Sie buchen ein Coaching, weil irgendwo der Schuh drückt. Beispielsweise weil
• sie Konflikte haben,
• ihre Karriereträume geplatzt sind,
• Unsicherheiten auftauchen,
• es ihnen an Selbstvertrauen mangelt,
• sie unzufrieden mit sich selbst und/oder ihrem Leben sind.
Dass die Ursachen für diese Schwierigkeiten in der Schulzeit zu finden sein könnten, auf die Idee kommen die wenigsten. Zwar steckt nicht hinter jedem Problem ein Schultrauma, aber immer öfter. Darum hier (m)eine These:
Sind wir nicht alle ein bisschen Schultrauma?
Ich schreibe dieses Buch als Betroffene und als Coachin. Mein Anliegen ist es, intensive Reflexionsprozesse anzustoßen, damit möglichst viele Menschen die Ursache für belastende Gefühle und innere Blockaden, die ihr Leben erschweren, erkennen können. Mir geht es um die Frage, wie es gelingen kann, innere Handbremsen zu lösen, sich von belastenden Glaubenssätzen und blockierenden Körperreaktionen zu befreien und dadurch nachhaltig zufriedener zu werden und glücklicher zu leben. Natürlich wird es auch um die Frage gehen, ob sich Schultraumata überhaupt vermeiden lassen. Und ob der wahre Grund, warum Eltern zu sogenannten »Heli- kopter-Eltern« werden, möglicherweise in ihrer eigenen belasteten Schulzeit liegt, die verdrängt worden ist und sich heute in dem Anspruch äußert, die eigenen Kinder vor negativen Erfahrungen bewahren zu wollen. Das könnte ja dazu führen, dass wir diesen Eltern Verständnis entgegenbringen, anstatt uns über sie lustig zu machen. Wir sind ja schließlich nicht (mehr) in der Schule!
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Vom ewigen Streben nach Kampf
Niemand kommt in ein Coaching, weil er sich langweilt. Irgendwo muss der Schuh schon drücken! Allerdings habe ich selten erlebt, dass ein Schuh so sehr drückt wie bei Stephan. Er schilderte mir schon in der ersten Stunde, dass er seit Jahren im Unternehmen herumgereicht wird: »Mit mir kommt irgendwie niemand klar. Immer, wenn ich mich gerade irgendwo eingelebt habe, geht meine Führungskraft zum Personalchef, und ich darf wieder meine Sachen packen.« Stephan fühlte sich völlig missverstanden. Für das Unter- nehmen geht er regelmäßig ans Limit, er arbeitet bis zum Umfallen, tritt für die Schwächeren ein und bekommt trotzdem nur »einen Arschtritt«. In seinem Fall war es so, dass er des Kämpfens müde war. Manchmal kommt es aber auch vor, dass das Unternehmen »am Ende ist«, weil niemand mit der rebellischen Grundhaltung und der Power eines solchen Menschen umgehen kann.
Menschen, deren Persönlichkeitsstruktur auf Kampf fixiert ist, leben das Prinzip Contra, sowohl in ihren Beziehungen als auch am Arbeitsplatz. Sie lieben die Herausforderung, sind mutig und stellen sich in den Wind, insbesondere dann, wenn der von vorn kommt. Sie haben gelernt, allein klarzukommen. Manchmal scheint es so, als würde ihnen das nichts ausmachen. Im Inneren jedoch fühlen sie sich verkannt und unverstanden, weil sie die Geister des Wider- stands, die sie selbst gerufen haben, nicht mehr loswerden.
Das Leben an sich ist für Menschen mit dieser Persönlichkeitsstruktur wie ein großes Spielfeld. Ohne Reibung spüren sie nichts, schon gar nicht sich selbst. Sie lieben es, sich zu verausgaben, akzeptieren keine Grenzen, sondern sehen diese eher als Herausforde- rung. Das kann für das Umfeld anstrengend sein: Wenn jemand A sagt, sagt diese Person B. Nicht, weil B richtig wäre, sondern weil jemand anderes A vorgegeben hat. Es geht darum, das Gegenteil von dem anzustreben, was die Regel ist. Es geht letztlich darum, zu kämpfen und zu gewinnen.
In der Schule zählte Stephan zu den Anführern, er war der »Leader of the Gang«, hat weder Tod noch Teufel gefürchtet und war dadurch für viele Mitschüler ein Vorbild. Das wussten dummer- weise aber auch die Lehrer, und so wurde er häufig für Dinge zur Verantwortung gezogen, mit denen er überhaupt nichts zu tun hatte. Stephan erinnerte sich daran, dass Mitschüler einmal einen Lehrer in der Turnhalle eingesperrt hatten. Er selbst war überhaupt nicht dabei, wurde aber bestraft, weil er die anderen angeblich zu ihrer Tat angestiftet hatte. Er hat diese Ungerechtigkeit – wie so viele andere auch – heruntergeschluckt und still in sich abgespeichert. Und daraus den Vorsatz entwickelt, sich irgendwann zu rächen. Verbunden mit der Entscheidung, niemals Schwäche zu zeigen.
Im späteren Leben hat sich diese innere Entscheidung allerdings verselbstständigt, sie ist unkontrollierbar geworden, das Leben erscheint Stephan heute wie ein einziger Kampf: Er kämpft gegen die Welt, gegen Regeln und Ungerechtigkeiten und immer auch gegen sich selbst. Seine Befriedigung zieht er aus Momenten, wenn er es gegen alle Widrigkeiten geschafft hat, wenn er als Sieger aus dem Boxring getreten ist und es allen gezeigt hat. Dass das für ihn und sein Umfeld anstrengend ist, versteht sich von selbst.
Im Verlauf des Coachings hat Stephan erkannt, dass Kampf für ihn das Lebenselixier ist, das er braucht, um sich lebendig zu fühlen. Jeder Kampf bietet ihm die Möglichkeit, seine inneren Spannungen auszuagieren und loszuwerden. Der Preis, den er dafür zahlt, ist allerdings hoch – so wie es letztlich allen Persönlichkeiten ergeht. Sein Körper fordert Tribut, er ist bereits das dritte Mal geschieden und fühlt sich von seinen Ex-Frauen ungerecht behandelt. Somit wiederholt sich sein Schul- beziehungsweise Entwicklungstrauma wie in einer Dauerschleife.
Nun allerdings hat er Mittel und Wege gefunden, seine Kraft zielführend einzusetzen und sich nicht zu verkämpfen. Er muss nicht mehr in jeden Kampf einsteigen, der sich ihm bietet. Für mich als Coachin war es berührend zu beobachten, wie befreiend das sein kann: mit dem Kampf aufzuhören!
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