Jahrelang ging es gut mit der Materialversorgung über die ausgefeilten Lieferketten rund um den Erdball, die die Prozessoptimierer den Unternehmen einst schmackhaft gemacht hatten. Jetzt plötzlich erwischt es Unternehmen kalt, die zum Beispiel im Gefolge der Digitalisierung keinen Nachschub mehr bekommen, plötzlich auf dem Trockenen sitzen und die Produktion stoppen müssen. Oder ganze Bauvorhaben ins Stocken kommen. Burkhard Wagner ist Strategieberater und Gründer der Unternehmensberatung Advyce in Düsseldorf mit Kunden wie Evonik, Continental oder Wolford und erklärt exklusiv im Management-Blog, wie es so weit kommen konnte und was Unternehmen zügigst tun sollen.

Burkhard Wagner (Foto: PR/Advyce)
Herr Wagner, bei Ford in Köln steht die Autoproduktion still und Audi schickt 10.000 Mitarbeiter in Kurzarbeit, weil Chips fehlen. Der Bauindustrie geht das Holz aus, auch die Kunststoffindustrie und Textilfirmen stehen vor Materialengpässen. Neubauten könnten bald zum Stillstand kommen. Dabei sind die Auftragsbücher voll. Gefährden die Manager mit ihrem Effizienzwahn der vergangenen Jahre, dem Nacheifern der Lean- und Just-in-Time-Management-Methoden die Unternehmen?
Wagner: Der Sparwahn der vergangenen Jahre hat dafür gesorgt, dass der Umsatz stagnierte und Gewinne entgingen. Und das nicht erst seit gestern. Die ganze Lean-Bewegung ging Ender 80-er Jahre los. Toyota war weltweites Vorbild für Management-Trends wie Lean Management, Lean Production, Lean Administration und Kaizen sowie Six Sigma. Vorbild war die Legende Jack Welch, der den US-Konzern General Electrics (GE) mit Lean Management und Six Sigma zu einem der profitabelsten Unternehmen der Welt gemacht hat. Weltweit eiferten ihm die Manager nach. Sie schafften ihre Lager ab oder reduzierten sie enorm. Sie installierten ausgefeilte Prozesse mit zeit- und mengengenauen Lieferungen.
Die Manager investierten, wenn überhaupt, in die Digitalisierung. Und die hat massiv dazu beigetragen das System nochmal zu beschleunigen, indem sie für Transparenz zu jederzeit und viel schnellere Planung und Kommunikation sorgt und das eben global. Damit ist der Lieferant am anderen Ende der Welt gefühlt genauso nahe wie der in der Nachbarstraße.
Aber eben nur gefühlt. Und die Manager sorgten nicht vor für den Fall, dass die Lieferkette mal nicht funktionieren könnte und ihnen ihr Material ausgeht? Nähten sie damit nicht viel zu knapp auf Kante?
Die Manager in Deutschland setzten auf Effizienz, immer mehr und immer mehr. Sie steigerten die Produktivität der Unternehmen massiv. Denn ihre Manager-Leistung wurde überhaupt nicht an langfristigen Zielen gemessen, Boni gab es ausschließlich für kurzfristige Erfolge. Das wird jetzt zu einem zentralen Problem. Es ist eine Milchmädchenrechnung, wenn die Schäden wie Produktionsstillstand jetzt die Einsparungen aus vielen Jahren mit einem Schlag zunichte machen. Da braucht ja auch nur im Suez Kanal ein Schiff quer feststecken und der Elektriker in Düsseldorf kann ein paar Tage später keine Lichtschalter mehr einbauen. Das musste ich selbst erleben.
Also haben die Manager auf ihre Jahres-Boni, die Anreize, hingearbeitet, statt in langfristig erfolgreichen Geschäftsmodellen zu denken und handeln?
Richtig. Spätestens mit der konfrontativen Trump´schen Handelspolitik hätten die Manager aufwachen und schleunigst die Abhängigkeiten abstellen müssen. Beispielsweise die der deutschen Automobilindustrie von China, das als Absatzmarkt seit gut zehn Jahren kontinuierlich anstieg bis auf über 20 Millionen Fahrzeuge jährlich. Seit 2015 ist China Deutschlands größter Handelspartner und vor allem in der Auto- und Chemieindustrie ist Deutschland in China mit eigener Produktion gut aufgestellt. Allerdings stets in Joint Ventures mit chinesischen Kooperationspartnern und stets auch in der Sorge, dass wichtiges Know-how abfließt. Da musste erst die Pandemie und das Impfdesaster kommen, bis die Unternehmenslenker jetzt erkennen, dass sie in den Schlüsselindustrien Batterietechnologie, Halbleiter, Cloud oder Pharmawirkstoffe europäisch oder sogar national denken müssen.
Sind die Verknappungen nun Folgen eines Totspar-Managements? Sind die Manager der vergangenen 30 Jahre die heutigen Totengräber, weil sie nur das taten, was ihnen ihre kurzfristigen Boni einbrachte? Konnten die sich gar kein Schief-Gehen vorstellen?
Sie fühlten sich offenbar mächtig und unangreifbar. Die Einkäufer der großen Automobilhersteller haben eine enorme Marktmacht. Der Halbleitermarkt ist aber kein typischer Auto-Markt, dort endet ihre Macht und sie können die Anbieter – anders als die Autozulieferer – nicht unter Druck setzen. Den Halbleitermarkt teilen nur wenige Hersteller unter sich auf. Die Autobranche ist hier – anders als bei Metall- und Kunststoffteilen – nur ein kleiner Abnehmer. Mit dieser Situation kommen die großen Automobilisten nicht klar. Entweder sie ziehen sich jetzt in den Sachmollwinkel zurück, warten ab und verzichten auf Produktion – und damit Absatz – oder sie müssen sich ihre Marktanteile jetzt erst einmal teuer erkaufen und im Halbleitergeschäft stabile Lieferketten aufbauen.
Statt ranzuklotzen und sich zu beeilen. Die Manager hatten keine guten eigenen Ideen, sondern machten die Ideen mit, die gerade in Mode waren und das rächt sich jetzt bitter, richtig?
Die Entscheider haben sich auf Lieferketten verlassen. So eine Verknappung gab es auch noch nie. Sie glaubten, dass sie in globalen Lieferketten schon irgendwie zu guten Bedingungen an unsere Rohstoffe und Vorprodukte kämen. Jetzt erleben Auto-, Maschinen und Anlagenbauer, dass sie wichtige Rohstoffe wie die Batterien für Elektroautos nicht so ohne weiteres bekommen. Auch für Stahl für den Maschinenbau oder für Holz für die Bauindustrie haben sich die Preise in den vergangenen Wochen fast verdoppelt.

(Foto: C.Tödtmann)
Und diese Gründe haben mit dem Sparwahn nichts zu tun, aber kommen jetzt eben hinzu?
Die Gründe sind vielschichtig, global unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Rückkehr zur Normalität nach der Corona-Pandemie spielen eine Rolle. Die Preissteigerungen beim Holz, Metall und Kunststoff explodieren und die Unternehmen sind hilflos. Sie haben schon seit Jahrzehnten keine Lager mehr mit Vorräten, die bräuchte man jetzt dringend. Ideen, wie sie anders an diese Rohstoffe kommen sollen haben sie auch nicht.
Ziemlich borniert und zumindest fahrlässig, so wenig Umsicht an den Tag zu legen, oder? Handeln Manager nach dem Motto „nach mir die Sintflut“?
Bei der Chip-Produktion haben sie keine eigenen Kapazitäten aufgebaut, obwohl alleine die deutsche Industrie 20 Prozent vom Weltmarkt benötigt. Beim Holz kaufen gerade Nord-amerikanische und chinesische Einkäufer den europäischen Markt leer und zahlen Mondpreise, um ihren eigenen Bedarf zu decken. Deutsche Unternehmen gucken immer öfter in die Röhre.
Waren sie naiv? Haben sie bei ihren Strategien diese Fehlerquellen übersehen?
Die Unternehmensführungsmethoden wie Lean Management, Operational Excellence und Supply Chain Programme hatten stets unterstellt, dass Rohstoffe immer unbegrenzt vorhanden und immer weltweit verfügbar sind. Tatsächlich gab es schon oft Verknappungen, die ließen sich bisher aber meist schnell beseitigen. Nur in Industrien, in denen Entwicklungs- und Investitionsvorlauf, Durchlaufzeiten und Produktionsschwankungen möglich sind, kommt es dann zu einer längeren Knappheit. Bei Autos ist es so, dass sie erst jetzt immer mehr zu fahrenden Computern, zu vernetzten und automatisierten Maschinen wurden. Daran hätten die Einkaufsmanager rechtzeitig denken müssen.
Also haben auch die nur Sparen statt gutem Funktionieren im Sinn gehabt. Gab es keine Warnsignale, die sie hätten erkennen müssen?
Die gab es. Etwa spätestens als der Automobilindustrie klar wurde, dass ein Weiter-so nach dem Dieselskandal keine Option, und ein Umstieg auf E-Mobilität nun nicht mehr aufzuhalten ist. In der Batterie, dem Herzstück der E-Mobilität, sind eine ganze Reihe von knappen Rohstoffen enthalten – allen voran Lithium. Zwei Drittel davon lagert in Salzseen im kargen Hochgebirge der Anden. Noch ist zwar ausreichend Lithium vorhanden, aber mit immer mehr Elektroautos wird das vermutlich als nächstes knapp. Schon jetzt prognostiziert das Fraunhofer Institut, dass sich die Lithium-Nachfrage sich bis 2035 vervierfacht.
Der, der die Rohstoffe besitzt, wird den Markt dominieren und durch eigenes oder zugekauftes Know-how letztlich auch den Wettbewerb für sich entscheiden. Im Umkehrschluss heißt das: Ohne sichere Rohstoffversorgung keine Zukunftstechnologien „Made in Germany“.
Haben die deutschen Manager geschlafen?
Die Chinesen waren viel schneller, sie investierten beispielsweise seit Jahren viel Geld in Afrika und sichert sich Rohstoffe wie Kupfer im Kongo oder Bauxit in Guinea. Der Aufbau eigener chinesischer Produktionskapazitäten wäre nur logisch. Unternehmen – übrigens europaweit und nicht nur in Deutschland – wachen aber immer noch nicht auf, sondern gucken weiter tatenlos zu und wir werden immer abhängiger von Staaten wie China, die mit unserem westlichen Demokratieverständnis – nicht nur im Datenschutz und im Umgang mit ethnischen Minderheiten wie den Uiguren – nicht zu vereinbaren sind.
Also wenn es diese Warnsignale gab, war es ignorant, nicht genau hinzuschauen. Nahmen die Manager sie nicht ernst?
Solche Marktsituationen kann man erkennen. Die Frage ist, ab wann die Unternehmen sie ernst nehmen und wie sie reagieren, oder reagieren sollten. Gute Einkäufer kennen und beobachten ihre Beschaffungsmärkte genau und reagieren. Strategisch muss dagegen das Management entscheiden, in welchen Bereichen es sich auf Lieferanten oder den Beschaffungsmarkt verlassen kann und wo eigene Kompetenz nötig ist. Und es muss investieren. Es ist schon fünf nach zwölf.
Manager müssen sich jetzt exklusiven Zugang zu Rohstoffen sichern und die eigene Kompetenz in Schlüsseltechnologien sofort aufbauen. Sie müssen dringend umdenken bei der Lagerhaltung und der Risikobewertung von Lieferketten. Wenn sich der BDI erst jetzt mit einem Positionspapier „Rohstoffsicherung 4.0“ zu Wort meldet und Besorgnis äußert über die Abhängigkeiten und Entwicklungen am Rohstoffmarkt, ist das auch längst zu spät. Die Industrie muss zügig die Managementfehler der vergangenen 30 Jahre reparieren.
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