Buchauszug Dieter Kosslick: „Immer auf dem Teppich bleiben. Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos.“

Buchauszug Dieter Kosslick: „Immer auf dem Teppich bleiben. Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos.“

 

Traumberuf Filmfestivaldirektor

Es gibt Unterschiede zwischen einem Bäckermeister und einem Filmfestivaldirektor. Bäcker ist ein Lehrberuf, und es muss lange Teig geknetet werden, bis aus dem Lehrling ein Geselle und aus dem wiederum ein Meister wird. Das dauert beim Bäcker normalerweise sieben oder acht Jahre. Bei mir hat es erheblich länger gedauert, bis ich den roten Teppich betreten durfte.

Aber das ist relativ: Im Film Jiro Dreams of Sushi der Netflix-Serie Chef’s Table von David Gelb prüft der beste Sushimeister der Welt, Niki Nakayama, den Eierstich Tamago-Nigiri seines Lehrlings. Seit zehn Jahren versucht dieser, den Ansprüchen des Meisters gerecht zu werden. Erst im elften Ausbildungsjahr hat er Erfolg. Als der Film im Kulinarischen Kino der Berlinale am Valentinstag 2011 gezeigt wurde, fragte die damalige Chefredakteurin des Gourmet-Magazins Der Feinschmecker, Madeleine Jakits, den Sohn des Meisters, ob das nicht ein wenig zu lange sei für einen Eierstich, und erntete ein trockenes japanisches Nein.

 

(Foto: PR/Hoffmann und Campe)

Dieter Kosslik: „Immer auf dem Teppich bleiben: Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos.“, 336 Seiten, 25 Euro, Hoffmann und Campe, https://www.hoca-shop.de/neuerscheinungen/immer-auf-dem-teppich-bleiben-von-magischen-momenten-und-der-zukunft-des-kinos.html

 

Wie beim Journalistenberuf gibt es auch für Festivaldirektoren keine formale Ausbildung – was nicht heißt, dass keine vielfältigen Fähigkeiten erwartet werden. Der erste Direktor der Berlinale kam noch aus der Zeit des »Dritten Reiches«, ein »kleiner Jurist« der Reichsfilmkammer, der 1951 als kenntnisreicher Filmspezialist der deutschen Filmbranche seinen Traumjob als Gründungsdirektor erhielt. 69 Jahre später veröffentlichte die Zeit-Journalistin Katja Nicodemus im Januar 2020 die Recherche des Amateurwissenschaftlers Ulrich Hähnel, in der stand, dass jener erste Festivaldirektor Dr. Alfred Bauer mitnichten ein kleines Licht der Nazifilmkammer war, sondern ein aktives Parteimitglied und überzeugter Hitler-Anhänger. Er wurde 1942 in einem Schreiben der Gauleitung Mainfranken als »eifriger SAMann« gelobt, so fand es Ulrich Hähnel heraus.

Dr. Bauer leitete unentdeckt 25 Jahre das Festival, bis 1976 Wolf Donner, promovierter Filmjournalist und Filmkritiker des Spiegels, für drei Jahre den Direktorposten übernahm. Ihm folgten für weitere 21 Jahre Moritz de Hadeln und seine Frau Erika. Sie hatten schon vorher andere Festivals in der Schweiz organisiert und kamen vom Filmfestival Locarno im Tessin.

Als Bauer 1986 starb, wurde nach ihm ein Silberner Bär benannt und bis 2020 als Alfred-Bauer-Preis vergeben – ausgerechnet für »Neue Perspektiven der Filmkunst«. Nora Fingscheidts Erstlingserfolg Systemsprenger erhielt diesen Preis in meinem letzten Berlinale-Jahr. Die Recherchen wurden im September 2020 durch eine Untersuchung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte bestätigt.

1970 kam es wegen des Protests des amerikanischen Jurypräsidenten, dem Regisseur George Stevens, gegen Michael Verhoevens Vietnamfilm o. k. zum Abbruch der Berlinale. Daraufhin gründete sich als Alternative die Festivalreihe Forum des Jungen internationalen Films, die als Bestandteil der Berlinale bis 2001 von »den Gregors« geleitet wurde: Ulrich Gregor war Filmhistoriker und seine Frau Erika Kinobetreiberin. Ihnen folgte der Filmkritiker Christoph Terhechte.

Es scheint, dass beste Filmkenntnisse die Voraussetzung für den zulassungsfreien Job des Festivaldirektors sind – diese kann man mitbringen als Journalist, Historiker oder Filmemacher und Fotograf und Festivalmacher wie bei de Hadeln. Auch ich hatte lange Erfahrung im deutschen und internationalen Filmgeschehen, bevor ich 2001 »berufen wurde«.

Der Anruf aus dem gerade erst gegründeten Ministerium für Kultur und Medien erreichte mich am späten Nachmittag an einem Donnerstag in meiner schönen Dachwohnung in der Südstadt Kölns. Am anderen Ende Dr. Michael Naumann, genannt Mike. »Willst du Berlinale-Chef werden?«, fragte Mike in seiner direkten Art. Wir hatten uns bei der Premiere von Ken Loachs großartigem Film Land and Freedom im Kölner Broadway-Kino gesehen. Der Verleih des Films in Anwesenheit des linken Meisterregisseurs war mit den Mitteln der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen gefördert worden, deren Geschäftsführung ich seit 1991 innehatte.

Mike Naumann war beeindruckt von der Beteiligung Nordrhein-Westfalens an so vielen internationalen Koproduktionen und wusste um meine sehr guten Kontakte in die europäische Filmszene. Ich hatte beste Beziehungen zu den Regisseur*innen, Produzent*innen und vor allem den Verleihfirmen. Sie brachten gemeinsam mit unserer in Hamburg 1988 gegründeten europäischen Verleihförderung EFDO (European Film Distribution Office), die neuen Filme aus ganz Europa erfolgreich in die Kinos. Gute Voraussetzungen für den Job, das A-Filmfestival Berlinale zu leiten, künstlerisch und als Geschäftsführer.

Ich besuchte die Berlinale seit 1983 und kannte das Festival mit seinem Wettbewerb im beeindruckenden Zoo Palast, seinem verqualmten Festivalzentrum im heruntergekommenen Bikini-Haus direkt daneben und den jährlichen heftig umstrittenen Jury-Entscheidungen – und der nicht enden wollenden bösen Kritik der
Filmkritiker*innen am Festivaldirektor. Es schien kein begehrenswerter Job zu sein.
In meinen 18 Jahren als Festivaldirektor brauchte ich lange, um zu begreifen, dass diese zum Teil ehrverletzenden Beleidigungen einer Handvoll Fachjournalist*innen mehr zur persönlichen Profilierung dienten und weniger die Filme betrafen – Ehemalige bestätigen dies im milden Licht des Pensionsalters.

Ich wusste auch von der ewigen Konkurrenz mit dem Festival in Cannes an der mondänen Côte d’Azur und dem Festival in Venedig in einer der schönsten Städte der Welt. Aber auch die Berlinale hatte Vorzüge, die die anderen beiden Festivals nicht hatten: Sie begeisterte bereits seit 1951 das Publikum, die ersten Jahre war sie sogar ein reines Publikumsfestival ohne Jury. Schon damals strömten die Fans in die Berlinale-Filme. Das Festival, auch das wusste ich, definierte sich selbst als eine
politische, kulturelle Plattform für den internationalen Austausch und wollte der Völkerverständigung besonders zwischen Ost und West dienen.

Das könnte ein aufregender Job werden, dachte ich und sagte im Alter von 53 Jahren zu. Rückblickend kamen mir bei meinem Direktorenjob einige Fähigkeiten und Kenntnisse zugute, die ich in meiner Jugendzeit quasi nebenbei erworben hatte. Als 1964 die Beatles und Rolling Stones die junge Welt rockten, gründeten wir unsere eigene Band The Meters, um deren Songs zu covern. Wir waren eine klassische Schülerband für Schulpartys und Tanzabende, die in den »Häusern der Jugend« bei Betriebsfeiern und BandWettbewerben spielte. Die Blödelbarden Ingo Insterburg und Co. verblüfften uns mit den absurdesten Geschichten und Gedichten wie »Die Ampeln schalten Gelb, Rot, Grün – so ist das in Berlin«, und die USamerikanische Pop-Rockband The Monkees, die in ihren Fernsehserien auch mal ein Pferd mit auf die Bühne brachten, erzielten einen Hitparadenerfolg nach dem anderen. Gerüchte, dass sie gar keine Instrumente beherrschten, spielten keine Rolle.

Wir spielten auf besonderen Wunsch des Publikums bis zu zehnmal am Abend »I am a Believer«. Eine gute Vorbereitung für die späteren Auftritte der größten Pop- und Rockstars auf der Berlinale, wie Madonna, The Rolling Stones, The Beach Boys, Bonos U2, aber auch Harry Belafonte, George Michael und Patti Smith.
Auch das Thema kultureller Austausch zwischen Ost- und Westdeutschland kannte ich aus familiären Gründen gut. Die Familie meines Vaters lebte in Dresden, und meine Mutter kam aus einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg. Meine Eltern hatten sich in der Nachkriegszeit kennengelernt, nachdem mein Vater vor General Harris’ angeordnetem Flächenbombardement auf Dresden geflohen war. Doch kurz danach legten die britischen Bomber auch seine neue Heimat, Pforzheim, mit den mörderischen Brandbomben in Schutt und Asche.

Deutsch-deutsche Beziehungen zwischen BRD und DDR gehörten zu unserem Familienalltag und meiner Kindheit, und zwar vor allem mit »Fresspaketen«, die ich zur Post bringen musste. »Den Abschnitt der Einlieferung nicht vergessen«, sagte meine Mutter, »fürs Finanzamt.« Später dann die Verwandtenbesuche, erst in Dresden und auch bei uns zu Hause in Süddeutschland. Oma, Onkel, Tanten und Cousins. Waren wir in Dresden zu Besuch, ging es mit dem Schiff nach Pillnitz, in die Sächsische Schweiz und ins Erzgebirge und zum Gänsebraten mit Klößen und Rotkohl in den Weißen Hirschen hoch über dem Elbufer mit Blick auf das Blaue Wunder und nach Moritzburg.

Als die DDR 1961 die Mauer baute, änderte sich nicht nur das tägliche Leben in Berlin, auch die deutschdeutschen Filmbeziehungen blieben nicht verschont. Ein neues, nicht weniger politisch brisantes Kapitel begann. Und bei meinem ersten Wettbewerb als Festivaldirektor war es mir wichtig, Filme von Regisseuren aus der früheren DDR zu programmieren. Andreas Dresens Halbe Treppe war der ideale Film, um unsere beiden immer noch unsichtbar geeinten deutschen Teile zu thematisieren. Der Film begeisterte das Publikum, die Kritiker, und als großen Preis der Jury konnten Dresen und sein Ensemble den Silbernen Bären mit nach Hause nehmen. Der Film – ein gesamtdeutscher – wurde anschließend weltweit auf Festivals ausgezeichnet, erhielt deutsche und internationale Preise vom Publikum und der Filmkritik.

 

 

 

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