Buchauszug Ulrike Winzer: „Stark durch Veränderung – Warum manche zögern und andere einfach handeln“

Ulrike Winzer (Foto: PR)
Wahrheit macht Klarheit – Veränderung will Durchblick
»Sie sind hinterfotzig!« Grabesstille im Raum. Die Miene meines Oberbosses erstarrte. Ein bekannter Wirtschaftsprofessor und Changemanagement-Experte war eingeladen worden, dem Führungskreis unseres Konzerns in einem Veränderungsprojekt ab und zu Feedback zu geben. Das heutige Meeting mit ihm hatte harmlos begonnen. Wir saßen im Stuhlkreis, jeder konnte jeden sehen. Da plötzlich sagte der Professor dem Vorstand ins Gesicht: »Sie sind hinterfotzig!«
Ich versuchte nicht zu atmen, um bloß kein Geräusch zu machen. Blöde Idee. Ich besann mich eines Besseren und atmete ganz leise. Vorsichtig beobachtete ich aus meinen Augenwinkeln die übrigen Anwesenden. Auch sie schienen starr vor Schreck auf ihren Sitzen zu kleben.
Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde. Unser Vorstand hatte dem Professor vor einiger Zeit gesagt: »Reden Sie Klartext!« Bestellt und geliefert. Nur eine Koryphäe wie dieser Professor konnte es sich in unserer Konzernkultur erlauben, einem Vorstand solche Worte an den Kopf zu werfen.
Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht
Alle im Raum wussten, dass der Professor im Prinzip recht hatte. Bloß hatte bisher niemand den Mut gehabt, dieses spezielle Verhalten des Big Bosses anzusprechen. Mein Chef forderte nämlich alle immer auf, kreativ zu sein, eigene Ideen zu entwickeln, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und ihm – natürlich – jederzeit zu widersprechen. Sobald jedoch jemand der Aufforderung nachkam, wurde er rundgemacht. Vordergründig gab unser Boss sich gerne offen, doch am Ende setzte er immer seine Vorstellungen durch. Das war, nun ja, hinterfotzig. Der Ausdruck traf es ziemlich gut.
Der Professor war ein Kommunikationsprofi. Nachdem er den Schuss vor den Bug abgesetzt hatte (und gefühlt endlose Sekunden lang hatte wirken lassen), begründete er sachlich, detailliert und Punkt für Punkt nachvollziehbar, was ihn zu seiner Aussage bewogen hatte. Ich wäre am liebsten aufgestanden und aus dem Raum gegangen, damit die beiden Alphatiere dieses heikle Gespräch unter vier Augen führen konnten. Aber es schien Teil des Plans zu sein, den der Professor gehabt hatte, dass wir diesem Schauspiel beiwohnten.
Mein Chef nahm das Feedback schließlich ruhig und äußerlich ungerührt an. Zum Glück ging es dann erst einmal in die Kaffeepause.
Lieber einen kurzen Schrecken als ein langes Elend
Nach der Pause war mein Chef irgendwie verändert. Erst waren es nur Nuancen, die ich wahrnahm. Ich fragte mich, ob ich mir das vielleicht einbildete. Doch nach einer halben Stunde hatte ich keinen Zweifel mehr, dass er sich anders verhielt. Er hörte den anderen im Raum aufmerksamer zu. Hielt länger Augenkontakt. Machte sich öfter Notizen. Als ein Bereichsleiter einen Vorschlag machte, sagte mein Chef sogar: »Das ist eine gute Idee.« Das waren ganz neue Töne von ihm.
In den kommenden Wochen verfestigte sich mein Eindruck. Vorschläge waren meinem Chef jetzt wirklich willkommen und wurden offen diskutiert. Dadurch trauten sich endlich mehr Mitarbeiter, ihre Ideen einzubringen. Unser festgefahrenes Veränderungsprojekt nahm wieder Fahrt und Energie auf. Denn so, wie mein Chef sich bisher verhalten hatte, kamen wir einfach nicht voran.
Der Professor hatte eine Wahrheit ungeschönt ausgesprochen. Dadurch hatte er Klarheit geschaffen. Die offenen Worte bewirkten die entscheidende Veränderung im Verhalten.
Rheinisches Grundgesetz, Artikel 1: Et es wie et es
»Frau Winzer, ich will ja!« Mein Coaching-Klient sah mich geradezu flehend an. »Ich will mich ja auf die Veränderung einlassen. Ich will anders und besser mit der Situation umgehen und an Kraft und Stärke gewinnen. Aber ich fühle mich ausgelaugt. Und ich mache mir Sorgen über meine Zukunft. Wo fange ich bloß an?« Solche Gesprächssituationen erlebe ich in meinem Alltag immer wieder. Wenn Sie mich fragen, womit Sie bei anstehenden Veränderungen am besten anfangen, dann sage ich: Ein wirklich guter Anfang ist die ehrliche Bestandsaufnahme. Sich klarmachen, wo man jetzt im Augenblick steht. Bereit sein, sich ungeschminkt damit zu konfrontieren. Das gilt für den einzelnen Menschen genauso wie für Unternehmen. Und daran hapert es fast immer.
Manche haben mehr Angst vor der Wahrheit als vor dem Tod
Eine nüchterne Konfrontation mit dem, was Sache ist, setzt unmittelbar neue Energie frei. Energie, die einem den nötigen Schub verleiht, um sich auf einen Veränderungsprozess einzulassen. Das ist das Schöne an der Wahrheit. In dem Moment, in dem ich mir selbst und anderen nichts mehr vormache, fällt eine große Last von mir ab. Sobald ich bereit bin anzuerkennen, was los ist, kann ich durchatmen. Ich fühle mich frei und schöpfe daraus eine neue Stärke. Warum machen das dann nicht alle? Weil die Wahrheit unangenehm sein kann. Eigentlich tut die Wahrheit immer nur einen kurzen Moment lang weh. Aber vor diesem Augenblick haben wir Angst. Nicht umsonst hat der Ausdruck »die Stunde der Wahrheit« so etwas Dramatisches an sich. Denn jeder erinnert sich an solche Momente.
Als mein damaliger Chef von einem externen Experten hörte, er sei »hinterfotzig«, hieß das ja nicht »hinterhältig«. Niemand stellte seine guten Absichten infrage. Aber im Ergebnis sagte der Professor, dass dieser Vorstand in puncto Leadership total versagt hatte. Setzen, Sechs. Wer will so etwas schon gerne hören? Doch war gerade diese unangenehme Wahrheit der Startschuss für einen Neubeginn. Nachdem der Vorstand bereit war, der Wahrheit ins Auge zu sehen und diese zu akzeptieren, begann er, sich anders zu verhalten. Dadurch bekam unser Projekt eine neue Dynamik. Die anderen hatten ja auch nicht alles richtig gemacht. Es hatte ihnen der Mut gefehlt, Probleme offen anzusprechen. Jetzt löste sich alles. Alle atmeten auf und schöpften neue Kraft.
Ulrike Winzer: „Stark durch Veränderung – Warum manche zögern und andere einfach handeln“Business Village Verlag, 272 Seiten, 24,95 Euro https://www.businessvillage.de/Stark-durch-Veraenderung/eb-1080.html
Was die Stimme im Kopf sagt, ist leider häufig Bullshit
Bestimmt kennen Sie Sätze wie: »Es gibt keine (objektive) Wahrheit.« Oder: »Die Tatsachen sind stets relativ.« Oder: »Was wahr ist, kommt auf den Blickwinkel an.« Das ist einerseits völlig richtig – und spielt hier andererseits überhaupt keine Rolle. Wenn ich von Wahrheit spreche, dann meine ich nicht in erster Linie irgendeine objektive Wahrheit. Es geht mir auch nicht so sehr um messbare Zahlen, Daten und Fakten. Sondern es geht mir in allererster Linie um Ihre persönliche Wahrheit und Klarheit! Was kommt ans Licht, sobald Sie beginnen, sich zu hinterfragen? Was verstecken Sie vor sich selbst und anderen? Wo machen Sie sich selbst – wenn Sie mal ehrlich sind – schon lange etwas vor?
Bei vielen Menschen dominiert die meiste Zeit der innere Schwätzer. Begierig greift diese Quasselstrippe alles auf, was sie dazu gebrauchen kann, einen nach allen Regeln der Kunst einzulullen und abzulenken: Gerüchte, Flurfunk, Fake News, Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien. Überwinden Sie die Bullshit-Schranke! Bedanken Sie sich bei Ihrem inneren Schwätzer für seine zahlreichen Anregungen und sagen Sie ihm dann, dass er nun lange genug das Wort hatte und für die nächsten Monate in den Winterschlaf gehen darf. Selbst wenn es gerade Hochsommer ist. Weil Sie nämlich jetzt eine Bestandsaufnahme machen und dabei von Ihrem inneren Untergrundaktivisten nicht sabotiert werden möchten.
Die wichtigsten Antworten finden wir nur in uns selbst
So, jetzt sind Sie endlich mal mit sich selbst allein. Zeit, sich an einen Ort zurückzuziehen, an dem Sie ungestört sind, und sich ein paar zentrale Fragen zu stellen: Wo stehe ich? Wie sieht meine Situation nüchtern betrachtet aus? Was ist richtig für mich und nicht bloß für andere? Was und wer tut mir wirklich gut? Wer geht wie mit mir um und will ich das so? Was ist mein Weg? Wie bin ich mit mir, meiner Aufgabe, meiner Erfahrung und meinem Wissen beruflich aufgestellt? Wie wichtig bin ich für meinen Arbeitgeber (oder meine Kunden) und wie gut geht es mir damit? Wie geht es mir privat? Lebe ich so, wie ich das will? Wie gut funktioniert – falls vorhanden – meine Beziehung, wenn ich ehrlich bin? Wie bin ich finanziell aufgestellt? Wie steht es um meine Gesundheit?
Seien Sie schonungslos ehrlich zu sich selbst! Alles andere ist Selbstbetrug. Betrachten Sie dann im zweiten Step die anstehenden Veränderungen: Was könnte am Ende eines Veränderungswegs möglicherweise alles besser sein? (Einmal unabhängig von der Frage, wie lang und steinig Ihnen dieser Weg jetzt noch erscheint, was Sie zögern lässt, wovor Sie Angst haben, welche Hürden Sie sehen.) Ändern Sie auch mal die Perspektive und sehen Sie Ihren Job nicht als Summe einzelner Tätigkeiten, sondern fragen Sie sich, welchen Sinn Ihre Arbeit für Sie hat. Wem nützen Sie? Wem helfen Sie? Wen machen Sie glücklicher?
Bei einer nüchternen Bestandsaufnahme werden Sie vielleicht feststellen, dass Sie viel besser aufgestellt sind, als der innere Schwätzer Ihnen das die ganze Zeit verkaufen wollte. Erfolge zu sehen, Glück wertzuschätzen, Freude zu registrieren, Erfahrungen anzuerkennen, gehört genauso zu einer Bestandsaufnahme wie der Blick auf die unschönen Knackpunkte, die nach Veränderung schreien.

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