Buchauszug Hajo Schumacher: „Kein Netz! Geld, Zeit, Laune, Liebe – wie wir unser wirkliches Leben zurückerobern.“
Stecker raus, Stecker rein
Nur wenige Klicks, in drei einfachen Schritten, sofort – zu den größten digitalen Schwindeleien gehört das Versprechen vom leichteren Leben.
Es war mitten in der ersten Corona-Quarantänewelle, als mein Lieblingssender RBB beschloss, unser Talkrunde „Die Beobachter“ nicht im Studio aufzunehmen, sondern die Gesprächspartner von zu Hause zuzuschalten. Mit digitaler Übertragungstechnik und Programmen wie Skype oder Zoom sollte das kein Problem sei, so war ja überall zu lesen. Eine gute Stunde versuchte ich, gemeinsam mit dem Aufnahmeleiter und zwei Technikern, eine stabile Leitung hinzubekommen. Mal war das Bild in Ordnung, dann der Ton. Aber nie beides. „Die Sicherheit“ murmelte der Aufnahmeleiter. Die Technik macht keinen Unterschied zwischen Hackern und langjährigen, unbescholtenen freien Mitarbeitern. Jeder ist verdächtig.
Der Sender schickte mir per Taxi einen Adapter, damit sich ein anderes Mikrofon in meinen Rechner stöpseln ließ. Vergeblich. Ein Internet-Spezialtechniker ließ mich eine App auf mein Smartphone laden, die mit sehr langen Passwörtern gefüttert werden musste. Vergeblich. Schließlich wurde mir ein weiteres Smartphone mit dem Taxi nach Hause geschickt. Parallel dazu tauchte der Technikchef des Senders auf, um die Live-Übertragung zu überwachen. Auf meinem Rechner hatte ich schließlich das Bild der Kollegen, über mein Privat-Smartphone bekam ich den Ton, das Gerät des Senders schließlich schickte mein Bild. Der Technikchef war nach einem 14-Stunden-Arbeitstag eingedöst. Beim Abschied erzählte er, dass er es nach einem halben Jahr ausdauernden Tüftelns endlich geschafft habe, das WLAN in alle Ecken seines Privathauses zu lenken.
Vielleicht habe ich einfach nur Pech gehabt in meinem digitalen Leben, aber: Ich entsinne mich an ungezählte Stunden, die ich kopfüber unter unserem Büroschrank verbrachte, wo die Strippen zum Router zusammenlaufen. Wer je versuchte, mehrere Musikbibliotheken zu einer gemeinsamen zusammenzulegen, wer gekaufte E-Books migrieren oder den Router updaten wollte, der weiß, wie es ist, ein Wochenende zwischen Kabeln und unter Schränken zuzubringen und nebenbei YouTube-Tutorials zu schauen, falls der Router läuft.
In meiner Erinnerung hänge ich Stunden in abgekühlten Hotlines, in Fachgeschäften beim Adapterkauf, fluchend vor Adressbüchern, die jeden Namen viermal eingetragen haben, verzweifelt vor Clouds, die manche Bilder immer wieder und andere gar nicht speichern, hilflos im Urlaub, im Kampf gegen Mobilfunkanbieter, die mit allen Tricks roamen wollen.
Wer jemals von iOS zu Android oder zurück gewechselt ist, der weiß, dass die große Freiheit und Einfachheit allenfalls für den gelten, der sich lebenslänglich an ein Betriebssystem kettet. Und wen der liebe Gott bestrafen will, den lässt er online den günstigsten Preis für ein Hotel suchen. Profitipp: direkt anrufen und reservieren.
Das Chaos hat System. Die Konzerne wollen Umsatz durch Verwirrung. Ich soll das alte, aber komplett funktionstüchtige Smartphone nicht mit dem frischesten Betriebssystem auszustatten, sondern ein neues kaufen. Ich soll nicht mit der Hotline sprechen, weil das Personal zu teuer ist. Ich soll mit der Bedienungsanleitung klarkommen, die automatisiert in zwanzig Sprachen übersetzt worden ist. Der alte Trick, Haushaltsgeräte zu nieten statt zu schrauben, um das Reparieren zu verhindern, wird in der digitalen Welt auf unzähligen Ebenen immer neu angewendet.
Die Logik der Digitalisierung will nicht den bestmöglichen Kundendienst bieten, sondern errechnet eiskalt, mit wie wenig Aufwand, Personal und damit Kosten ein Unternehmen auskommen kann. Künstliche Intelligenz weiß, wie lange man Kunden quälen kann. Spoiler: irre lange.
Nehmen wir eine Frage zum angeblich günstigen Familienmobilfunktarif, die sich weder in den FAQ noch über YouTube, noch via Hilfsforen klären ließ. Also die Service-Hotline, ein Begriff, der bereits zwei Lügen in sich trägt: Denn weder von „Service“ noch von „Hotline“ kann die Rede sein.
In den ersten drei Minuten herrscht unbändige Freude, überhaupt durchgekommen zu sein und nun in einer Schlange warten zu dürfen, deren Länge aber leider unbekannt ist. Neulich warnte meine Lieblingsfirma, ein Telekommunikationsunternehmen, dass es fünfundvierzig Minuten dauern könnte, bis ich mit einer Fachkraft verbunden würde. Mieser Trick, dachte ich, die wollen mich abwimmeln, das geht bestimmt schneller. Nach vierzig Minuten war ich nicht mehr so sicher.
Hajo Schumacher: „Kein Netz! Geld, Zeit, Laune, Liebe – wie wir unser wirkliches Leben zurückerobern.“ – 271 Seiten 20 Euro, Eichborn Verlag
https://www.luebbe.de/eichborn/buecher/digitale-welt/kein-netz/id_7769028
Warteschleife ist wie ein Schwergewichtsboxkampf über zwölf Runden. Vor einer Viertelstunde hieß es: „Nur noch drei Kunden vor Ihnen“. Mein Wille soll gebrochen werden. Nervige Musik grillt das Hirn. Der wiederholte Hinweis auf die Webseite mit den beantworteten Fragen anderer Kunden zermürbt die Ausdauer. Ziel ist es nicht mir zu helfen, sondern mich fertigzumachen.
Aber nicht mit mir. Wenn ich das Telefon laut stelle, lässt sich nebenbei die Hausarbeit erledigen: Spülmaschine ausräumen, Wäsche aufhängen, Steuerunterlagen sortieren. Wir wollen schon seit längerem die Küche renovieren, deren Wände mangels Dunstabzugshaube ins Speckige spielen. Vielleicht sollte ich alle unerledigten Hotline-Anrufe und die Renovierung auf einen Tag legen. Während der ersten Warteschleife abkleben, bei der zweiten streichen, bei der dritten aufräumen. Dann ist der Tag rum. Die Küche fertig. Und nur noch zwei Kunden vor mir. Profi-Tipp: Das Telefon am Strom lassen. Nichts ist furchtbarer als Drankommen, wenn der Akku abraucht. Und: Atmen. Emotionen ziehen lassen. Wie Wolken. Alles wird gut.
Es ist ein Geduldsspiel. Halte ich durch? Oder kommt er doch, dieser Moment, da ich die Verbindung mit einem bestialischen Fluch beende und beim Augenlicht all meiner Angehörigen den grimmigen Schwur ausstoße, dieser Firma, diesem Netzanbieter, diesem Pay-TV-Giganten oder diesem Geldinstitut nie, nie, nie, aber auch wirklich nie wieder auch nur einen Cent zukommen zu lassen? Drei Tage später tue ich´s dann doch wieder.
Die Daten wissen sowohl um meine Geduldsspanne als auch um meine Bereitschaft zu verzeihen. Künstliche Intelligenz hilft dabei. Aus den zahllosen Anrufen bei Hotlines, aus wütenden Mails und tatsächlich vollzogenen Abbestellungen können Konzerne präzise errechnen, wie viel Ungemach sich Kunden zumuten. Daten werden nicht genutzt, um uns das Leben zu erleichtern, sondern, im Gegenteil, um herauszufinden, welche Kundenpersönlichkeit sich welche Tricks und Zumutungen gefallen lässt. Die Digitalisierung sorgt also dafür, dass Kundendienste konstant schlechter werden.
Am billigsten für Unternehmen ist es nun mal, wenn möglichst wenige Hilfesuchende bis zum persönlichen Gespräch mit einem Berater durchhalten. Diese Fachkräfte sind teuer, sie müssen aufgebrachte Zeitgenossen erstens mit psychologischem Feingefühl behutsam auf den Teppich zurückholen und zweitens ein vertracktes technisches Problem lösen. Jeder Mensch, der sich aus der Warteschlange schubsen lässt, bedeutet weniger Kosten fürs Callcenter.
Die Software verfeinert nun die Kunst des systematischen Verärgerns, bis unmittelbar vor den „Breakpoint“, die Bruchstelle, an der der Kunde den Vertrag kündigt. Smarte Algorithmen, so berichtet das Wall Street Journal, finden sekundengenau die roten Linien: Wie viel Wartezeit, welches Musikgedudel, welche Ansagen sorgen dafür, dass Kunden auf ein automatisiertes Antwortprogramm ausweichen, sich durch endlose Frage- und-Antwortlisten quälen oder Erste Hilfe bei YouTube suchen. Moderne Software kann bereits an der Stimme eines Anrufers erkennen, ob seine Wut noch im hell- oder bereits im dunkelroten Bereich brodelt. In den USA wurden Kunden 2019 befragt, wer den lausigsten Telefonservice bietet. Ergebnis: Ausgerechnet die, die am allerbesten verdienen, allen voran Facebook.