Buchauszug Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg: „Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge.“

Buchauszug Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg von der „WirtschaftsWoche“: „Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge.“

 

Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg (Foto: PR/Wolf Heider-Sawall)

»WIE DER HEILIGE GEIST«

Markus Braun erreicht den Höhepunkt seiner Karriere – Wirecard steigt in den DAX auf

Am 24. September 2018 um 8 Uhr erreicht Markus Braun das, worauf er seit mehr als zehn Jahren hinarbeitet: Wirecard steigt in den DAX auf und damit in die oberste Börsenliga. Mehr geht nicht. Braun hat es damit all den Kritikern und Zweiflern gezeigt. Seine Bilanz im Jahr 2018: über 5000 Mitarbeiter, 2 Milliarden Euro Umsatz, mehr als eine halbe Milliarde operativer Gewinn. Die Aktie, die Anfang 2005 noch nicht mal 2 Euro wert war, steuert jetzt auf die 200-Euro-Marke zu.

 

Und als ob es noch eines weiteren Symbols für den Aufbruch in das neue Fintech-Zeitalter bedurft hätte, liefert Wirecard auch dieses noch: Wirecard ersetzt im DAX die Commerzbank, ein Geldhaus, das schon seit mehr als 150 Jahren existiert. Wer kann Wirecard, wer kann diesen Markus Braun noch aufhalten? Er selbst tönt: »Wir haben jetzt die Möglichkeit, den DAX anzutreiben. Das ist unser Ehrgeiz.«

 

Wer jedoch glaubt, dass Braun den Erfolg mit einem zünftigen Fest feiert, der irrt. Die Mitarbeiter in Aschheim bekommen lediglich einen Muffin geschenkt. Heller Teig, weiße Creme, hellblaue Streusel und die Aufschrift: »Wirecard enters DAX«. Das war’s.

 

Dazu passt auch die öde Repräsentanz von Wirecard. Nicht etwa am Münchner Marienplatz arbeiten Braun und Kollegen, sondern weit draußen in einem Bürokomplex im Münchner Nordosten, in einem tristen Gewerbegebiet der 10 000-Einwohner-Gemeinde Aschheim. Einsteinring 35, ein Ensemble von mehreren Betonkästen. Die einzige Attraktion der Umgebung ist »Le’s Imbiss«, in dem es »bayrische und vietnamesische Küche« geben soll.

 

Braun macht selbst aus dieser Tristesse noch eine Show: »Wir müssen uns nicht mit glänzenden Hochhausfassaden schmücken«, sagt er. Aschheim, das ist die Zukunft. Was bringt es der Commerzbank, dass sie in einem Wolkenkratzer in der Finanzmetropole Frankfurt residiert? Nichts, sie ist raus aus dem DAX. Frankfurt, das ist die Metropole der alten Finanzwelt, des Investmentbankings, der Millionen-Boni.

 

Aschheim, das ist die Zukunft. Und Wirecard die deutsche Antwort auf den amerikanischen Zahlungsgiganten PayPal. Eine Plattform – noch so ein Modewort dieses Jahres 2018 –, an die immer mehr Händler weltweit andocken. Und Braun tritt auf wie Apple-Gründer Steve Jobs, trägt Rollkragenpulli zum dunklen Anzug und eine randlose Brille, die seine blauen Augen zur Geltung bringt. Ein großer Mann, schlank, sehnige Statur, Typ Marathonläufer. Für ein Lächeln hat er keine Zeit; überall, wohin er kommt, verkauft er seine Firma in seinem Österreich-Englisch als »one of the strongest growing digital platforms«.

 

Beeindruckend ist Braun vor allem deshalb, weil er einem scheinbar ununterbrochen erfolgreichen Unternehmen vorsteht – aber nicht deswegen, weil er eine charismatische Persönlichkeit ist. Klar, bei persönlichen Treffen kennt er die Regeln der Höflichkeit, aber er versprüht keinerlei Charme. Seine Gesichtszüge wirken starr. Ob Braun sich ärgert, freut, ob er amüsiert oder interessiert ist, lässt sich kaum ausmachen. Sein Gesicht zeigt kaum Mimik. Der Mann ist schwer zu lesen. Geschäftspartner sagen, dass es schwer gewesen sei, mit ihm warm zu werden. Er wirkt verstockt und ein bisschen arrogant. So wie man sich einen Tech-Nerd vorstellt.

 

Spätere Versuche von PR-Beratern, Braun ein bisschen menschlicher rüberkommen zu lassen, scheitern. Dass Braun manchmal in der Oper weint, weil ihm die Musik so zu Herzen geht? Wirkt arg konstruiert. Auch auf Fotos wirkt Braun steif wie ein Stock. Selbst die Versuche, mal was Freches zu wagen, gehen schief: Es gibt ein Bild von Braun, das bei einem seiner seltenen Interviews mit einer Zeitung entstand. Er steht, mit grimmigem Gesicht, hinter einer Zimmerpflanze. Es sieht aus, als lauere der Wirecard-Chef hinter einem Gebüsch, um jemanden zu überfallen.

 

Kollegen von Braun meinen aber, dass ihm das Image als Tech- Nerd gefallen haben dürfte. Warum sollte er es ändern? Vor allem aber dürfte es ihm gefallen haben, jedes Jahr Erfolge zu melden. Umsatz, Gewinn, Kundenzahl – bei Wirecard geht es immer nur bergauf. Er formuliert immer steilere, immer waghalsigere Ziele. Jedes Jahr aufs Neue. Und kümmert sich wenig darum, wie die Ziele erreicht werden. Das sollen andere managen.

 

Braun ist für Wirecard sieben Tage die Woche im Einsatz, und das verlangt er auch von seinen wichtigen Mitarbeitern. Auch sonntags ruft er sie an, um mit ihnen über die Arbeit zu sprechen. Urlaub oder Feierabend? Wenn Braun etwas will, greift er zum Telefon. »Und wenn man nicht ranging«, berichtet ein Mitarbeiter, »dann rief er eben noch mal an und noch mal und noch mal.« Wenn er Nachrichten geschickt habe, sei es genauso gewesen.

 

»Unsere Büros gehörten nach seinem Selbstverständnis ihm selbst. Er kam einfach rein, ohne zu klopfen, und fing an zu reden«, sagt einer. Und die Besuche seien keinesfalls nett gewesen, denn Braun forderte permanente Einsatzbereitschaft. »Mit Braun war man ungern in einem Raum«, sagt einer. Wenn er hereinkam, dann hagelte es Befehle. Auch im Chefbüro halten sich die Mitarbeiter ungern auf, zumindest im Sommer. Weil Braun Klimaanlagen hasst, sei es oft brütend heiß bei ihm gewesen, berichten irritierte Besucher. Der Chef habe sich lieber das Hemd vom Leib gerissen und im T-Shirt weitergearbeitet, als die Klimaanlage einzuschalten. Es soll Mitarbeiter gegeben haben, die sich Brauns Aversion gegen Kühlgeräte zunutze machten – indem sie ihre Zimmer kräftig herunterkühlten, in der Hoffnung, dass Braun dann von Besuchen Abstand nehme.

 

Braun ist als Mensch bei vielen seiner Angestellten nicht unbedingt beliebt, vor allem, weil er ihnen diktiert, was zu tun ist, und Bedenken oder Kritik nach ihrer Wahrnehmung nicht annimmt. Wer Brauns Vorgaben anzweifelt, so das Gefühl einiger ehemaliger Mitarbeiter, der hat bei ihm keine Chance. Dennoch folgen auch die Kritiker dem Vorstandschef gern. Weil Braun erfolgreich ist und sein Erfolg auf sie abstrahlt. Für manche Wirecard-Leute scheint er wie eine Art Guru gewesen zu sein, der an die Firma glaubt und penetrant Prophezeiungen über die Zukunft macht – die dann auch noch eintreten. Der Kritik an sich abperlen lässt, der für seine Wirecard lebt – und durch sein Exempel andere dazu bringt, ihm zu folgen und seine Ziele zu erfüllen. Die Angriffe von außen stärken den Zusammenhalt. Wir gegen die da draußen.

 

Auch Sekten funktionieren so. Dass er die Lichtgestalt in der Bewegung Wirecard ist, daran lässt er keinen Zweifel aufkommen. Generell gilt: Wer Erfolg hat, der hat recht. Und alle partizipierten an diesem Erfolg. Es gibt so gut wie keine Verlierer. Unter Brauns Beschäftigten gibt es viele Eigengewächse und kaum Kündigungen. Warum sollte man auch woanders hingehen? Wirecard wächst. Sparrunden, Personalabbau – was in anderen Unternehmen und gerade bei Großkonzernen üblich ist – gibt es bei Wirecard
nicht.

 

Klar, auch so manch ein Angestellter versteht manchmal nicht, was Braun da vor sich hinschwurbelt. Aber nachzufragen hätten sie sich nicht getraut, sagen einige. Sie hätten nicht wie Idioten dastehen wollen. Und schließlich liefert Braun jedes Jahr beeindruckende Geschäftszahlen und damit eine Bestätigung dafür, dass er genial sein muss. Einen Betriebsrat? Braucht Wirecard nicht. Tarifverträge? Gibt es nicht. Wirecard zahlt gut. Alle sind Gewinner. Auch deshalb haben sich viele nicht getraut, zu widersprechen, haben Bedenken ignoriert und einfach weitergemacht. Braun etabliert – womöglich ohne es bewusst darauf anzulegen – ein System, in dem Ja-Sager weit kommen, die bereit sind, beide Augen zuzudrücken.

 

Ein langjähriger Mitarbeiter mit einer wichtigen Position sagt: »Wirecard hat gut bezahlt. Die Programmierer und die Verkäufer hätten woanders sicher genauso gute Jobs gefunden.« Für viele aber hätte das nicht gegolten, auch für ihn selbst. »Mir konnte es nirgendwo besser gehen. Stellst du dann unnötig viele Fragen und riskierst deine Anstellung?« Er selbst saß in Dubai und sagt: »Deutschland war doch weit weg.«

 


Melanie Bergermann und Volker Ter Haseborg: „Die Wirecard-Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge.“ 272 Seiten, 19,99 Euro, FinanzBuch Verlag https://www.m-vg.de/finanzbuchverlag/shop/article/20329-die-wirecard-story/

 

Der Insolvenzverwalter von Wirecard wird später die »attraktive Vergütungsstruktur« beziffern: Im Juni 2020 belaufen sich die Personalaufwendungen auf mehr als 2,1 Millionen Euro im Monat – das entspricht einem Betrag von 8500 Euro pro Mitarbeiter. Der Vorstand funktioniert letztlich so wie auch die ganze Firma: Braun spricht. Die anderen gehorchen. Das soll vor allem für die Vorstände Alexander von Knoop und Susanne Steidl gelten. Von Knoop ist zwar Finanzvorstand des gesamten Konzerns und müsste in dieser Funktion eigentlich der Chef über alle Zahlen sein, aber – so absurd das auch klingen mag – bei Wirecard ist es wohl anders. »Ein Teil der Finanzkennzahlen lag außerhalb seiner Zugriffsrechte.

 

Hierzu gehörte alles, was das Geschäft mit Drittpartnern betraf. Das lag bei Marsalek. Von Knoop soll zwar an die Gesamtzahlen dieses Bereichs gekommen sein, nicht aber an die Details. Wenn er mehr wissen wollte, musste er zu Marsalek«, sagt einer, der nah dran war. Das habe teilweise zu kuriosen Situationen geführt, zum Beispiel, als es in einer Sitzung um Finanzierungen gegangen sei, die das Unternehmen seinen Händlern zur Verfügung stellte. »Knoop wusste alles Mögliche nicht und hat dann immer den Marsalek angeschaut, weil die Zahlen bei ihm lagen.«

 

Ein Berater sagt: »So etwas habe ich zuvor noch nie erlebt. Da sitzt ein Finanzvorstand, und der hat keine Ahnung.« Knoop und Marsalek seien zwar formal gleichberechtigt gewesen, aber es sei immer wieder deutlich geworden: »Der von Knoop hat hier die Junior-Rolle.« Viele innerhalb des Unternehmens meinen, dass von Knoop nur deshalb Finanzvorstand geworden sei, weil er »eben so ist, wie er ist«. Von Knoop ordne sich unter, mache, was man ihm sagt, »ein netter Kerl, aber kein Machtmensch«. Sie schätzen, »dass von Knoop in einem anderen DAX-Konzern niemals Finanzvorstand geworden wäre«. Sie sagen aber auch viel Nettes über den Ex-Vorstand, nämlich dass er »absolut integer« sei, billigen ihm deswegen aber nicht weniger Schuld an der Misere zu. »Er hätte es niemals zulassen dürfen, dass ihm als Finanzvorstand ein wichtiger Teil der Finanzinformationen nicht zugänglich war. Er hätte darauf bestehen oder gehen müssen.« Ein Opfer sei von Knoop deshalb nicht.

 

Wirecard hat Karrieren ermöglicht, die woanders undenkbar gewesen wären. Das gilt vielleicht auch für Produkt-Vorständin Susanne Steidl. Alle Kollegen beschreiben sie als extrem fleißig. Sie sei sieben Tage die Woche 18 Stunden am Tag für Wirecard im Einsatz gewesen. »Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass sie irgendwann mal umfällt«, sagt einer, der nah am Vorstand dran war. Einige ihrer Projekte seien ganz gut gelaufen, andere eben nicht. Zu den anderen gehörte auch das Mammutprojekt mit dem Namen Aslan: Im ersten Quartal 2017 kauft Wirecard Portfolios mit Kunden von der Citigroup, die sich auf verschiedene Länder verteilen und damit verschiedenen Wirecard-Töchtern zugeordnet werden sollen. »Wir hätten das nie kaufen dürfen«, sagt einer, der sich intern mit der Materie zu befassen hatte. Denn diese Kunden mussten nun auf die Systeme der Wirecard gehoben werden und das sollte eigentlich Mitte 2018 abgeschlossen sein. Tatsächlich war der Prozess bis zur Insolvenz immer noch nicht vollständig abgeschlossen, was viel mit Wirecards Firmenkäufen im Ausland zu tun hat.

 

Die verschiedenen Wirecard-Einheiten sind weitgehend autark. Es ist nie ein einheitlicher Konzern entstanden, mit einheitlichen Vertragswerken und Verwaltung, mit einheitlicher, zentraler Buchhaltung oder Kundenmanagement-Systemen. Eine Integration der neuen Einheiten hat nicht stattgefunden, sagen viele im Unternehmen. Das sind fatale Voraussetzungen für Aslan. Die Kosten sind zwischenzeitlich explodiert. »Wenn Aslan nicht gewesen wäre«, sagt ein hochrangiger Insider, »dann hätte Wirecards Kerngeschäft, also auch ohne die Umsätze des Konzerns mit Drittpartnern, Gewinn gemacht«.

 

Verantwortlich für Aslan ist Steidl. Sicherlich seien die Ausgangsvoraussetzungen äußerst schlecht gewesen, aber innerhalb von mehr als zwei Jahren hätte ihre Abteilung trotzdem mehr bewerkstelligen müssen, sagen einige im Unternehmen. Stattdessen hätte einfach nur Chaos geherrscht. Insider sagen, andere Abteilungen oder Externe hätten immer wieder ausbügeln müssen, »was ihre Truppe verkackt hat«.

 

Eigentlich war Aslan ihr großes Projekt, mit dem sie beweisen sollte, dass sie für einen Vorstandsposten reif ist. Doch sie besteht die Prüfung nicht. Einige meinen, in jedem anderen Unternehmen hätte Steidl dafür die Verantwortung übernehmen und gehen müssen. Was einigen an Susanne Steidl noch auffällt: Sie hält sich immer raus. Sie ist Teil des Vorstands, aber eigentlich auch nicht. Sie schaut auf ihre Aufgabe, Produkte zu entwerfen und an den Markt zu bringen. Mit dem Rest – den Eindruck gewinnen jedenfalls einige in ihrem Umfeld – will sie nichts zu tun haben. »Wenn man sie reden hörte, dann klang es immer so, als gehe sie das Drittpartnergeschäft nichts an, weil es in Marsaleks Aufgabenbereich fiel.«

 

Wenn es toxisch wurde, habe sie sich ferngehalten – zum Beispiel von der Card Systems Middle East in Dubai, einer von zwei Wirecard-Tochterfirmen im Emirat. Über die Card Systems lief das eigentliche Geschäft, also die Transaktionen, der Umsatz. Und hierüber liefen auch die Geschäfte mit den Drittpartnern. Für diese Gesellschaften existierten auch Treuhandkonten. Zuständig war neben Bellenhaus noch Jan Marsalek. Die andere Wirecard-Tochter in Dubai war eher für die Organisation zuständig.

 

Diese zweite Gesellschaft lenkten Bellenhaus und Steidl. Als es im Jahr 2020 zu einer Fusion der beiden Dubai-Töchter kam, wollte Steidl angeblich nicht weitermachen. Mit der Card Systems wollte sie nicht unbedingt etwas zu tun haben. Als Opfer taugen weder von Knoop noch Steidl. Beide Vorstände konnten die Missstände sehen, und beide hätten etwas unternehmen können.

 

Brauns Verhältnis zu von Knoop und Steidl gilt als distanziert. Die Beziehung zu Marsalek ist deutlich enger. Die beiden arbeiten seit mehr als 15 Jahren eng zusammen. In den ersten Jahren war Marsalek eher Brauns Zuträger, wurde intern auch »Brauns Sekretärin« genannt. Mit den Jahren verändern sich beide. Marsalek emanzipiert sich. Wenn Braun ihn anruft, drückt er den Anruf regelmäßig weg, berichten viele ehemalige Kollegen. Marsalek ist für den Vorstandschef nicht mehr so einfach zu steuern.

 

Und Braun soll in den letzten Jahren immer halsstarriger geworden sein. »Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann musste es so laufen«, erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin. »Das ist immer schlimmer geworden.« Im direkten Gespräch begegneten sich die beiden zuletzt auf Augenhöhe, wie enge Mitarbeiter berichten, die regelmäßig mit beiden zu tun hatten. Zum Schluss seien Marsalek und Braun nicht mehr so eng gewesen wie in den Anfangsjahren, hätten aber immer noch zusammengehalten, meinen viele. Einer sagt: »Sie waren wie ein altes Ehepaar, das sich zuletzt ein wenig auseinandergelebt hat.«

 

Vor größerem Publikum macht allein Braun die Ansagen und Marsalek nickt. »Marsalek hat das, was Braun sagt, nicht vor anderen infrage gestellt«, sagt ein Berater. Er ist zwar für das Kerngeschäft der Firma verantwortlich, stiehlt Braun aber nie die Show. Im Gegenteil. Marsalek weigert sich oft, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er bleibt lieber im Hintergrund. Braun hingegen präsentiert sich auch außerhalb von Aschheim in der Rolle des Vordenkers, eines Vortragsreisenden in Sachen Zahlungsverkehr der Zukunft. Dass viele nicht so genau verstehen, was er da sagt, macht ihn nur noch interessanter. Es wirkt, als sei er schon in der Zukunft. Wie es da aussieht, das weiß man ja nicht.

 

Braun sitzt 2018 auf dem Podium der Digitalkonferenz DLD in München und jettet nach Paris zum FinTech Forum, er referiert über den »Sinneswandel im strategischen Denken«, über Mobilität und künstliche Intelligenz. Sein Auftritt ist zurückhaltend, hölzern, ein bisschen arrogant. Die Worte, die er spricht, haben es in sich und zeigen, welches Selbstverständnis er hat. Eine Kostprobe: »Alles, was wir bis jetzt erreicht haben, ist meines Erachtens nur ein müder Abklatsch dessen, was wir in den nächsten zehn Jahren erreichen können.« Und: »Ziel des Vorstands ist es, kraftvoll organisch die Welt zu erobern.«

 

Bei vielen kommt das an. Eine Art Tech-Nerd, der von der Zukunft spricht, spröde, langweilig, kompliziert – und dann solch fantastische Wachstumszahlen und -vorhersagen präsentiert. Das Handelsblatt schreibt 2018, die »Aufsteigerlegende« Braun sei »wie der Heilige Geist über die deutsche Finanzszene gekommen. Er gilt inzwischen als Inbegriff von ›Fintech‹ in Deutschland.«

 

Die Messe, die Braun für seine Jünger feiert, ist der Kapitalmarkttag, eine Art Jahrmarkt für Investoren und Analysten. 2018 präsentiert Braun in London seine »Vision 2025«: Bis zum Jahr 2025 soll Wirecard seinen Umsatz im Vergleich zu 2017 auf 10 Milliarden Euro fast versiebenfachen, der operative Gewinn (EBITDA) soll sich im gleichen
Zeitraum auf mehr als 3,3 Milliarden Euro verachtfachen. Bei den Vorständen von Knoop und Steidl soll der Plan nicht gut angekommen sein, heißt es in ihrem Umfeld. Sie hätten die Ankündigungen zu steil gefunden. Sie merken an: Wenn wir die Ziele nicht halten können, müssen wir eine Gewinnwarnung rausgeben. Wirklich
dagegengestemmt haben sollen sie sich aber auch nicht. Und Braun schert sich ohnehin nicht drum.

 

Im Jahr 2019, der Kapitalmarkttag findet dieses Mal in New York statt, legt er noch einen drauf: Nicht 10, sondern 12 Milliarden Euro Umsatz, und nicht 3,3, sondern 3,8 Milliarden operativen Gewinn soll es 2025 geben. Viele Analysten fahren darauf offenbar ab und hinterfragen scheinbar nicht, ob und wie die traumhaften Zahlen zu erreichen sind. Ihr Fazit lautet meist: Die Aktie unbedingt kaufen – unabhängig davon,
was Medien wie die Financial Times sagen. Brauns womöglich größter Fan in der Analysten-Schar ist Heike Pauls von der Commerzbank, die seit 2008 Analysen über den Zahlungsabwickler schreibt und dabei 199-mal ein und dasselbe Votum für die Aktie abgibt: kaufen.

 

Der Analyst der Privatbank Hauck & Aufhäuser, Robin Brass, ist  auch nicht viel besser. Als die WirtschaftsWoche im Dezember 2018 eine umfangreiche Analyse über Wirecards Kundschaft veröffentlicht, braucht er nur wenige Stunden, um die Recherchen sinngemäß als mehr oder weniger gehaltlos abzustempeln. Seine Kommentare offenbaren jedoch, dass er sich mit der Materie inhaltlich kaum befasst hat. Einige Monate später tritt Brass einen neuen Job an – bei Wirecard.

 

Genauso wie schon Lars Dannenberg, ein Vorgänger von Brass als Wirecard-Analyst bei Hauck & Aufhäuser. Die Banker des Geldinstituts scheinen einen Narren an Braun und seiner Firma gefressen zu haben. Am 23. April 2020 gibt Analyst Simon Bentlage ein Kursziel von 270 Euro aus und prognostiziert damit einen Gewinn von 100 Prozent zum aktuellen Kurs. So viel Optimismus ist bezeichnend angesichts des Umstands, dass Wirecard gerade Wirtschaftsprüfer von KPMG im Haus hat, die überprüfen sollen, ob das angeblich so erfolgreiche Geschäft mit Wirecards wichtigsten Drittpartnern überhaupt existiert.

 

Mit dem Aufstieg in den DAX hat Braun das geschafft, worauf er seit vielen Jahren hinarbeitet. Für ihn war immer klar, dass Wirecard mal in den DAX kommt, erzählen Vertraute – die Frage sei nur gewesen: Wann? Jetzt sieht er sich bestätigt. Formal ist Wirecard Ein börsennotiertes Unternehmen, an dem Braun »nur« 7 Prozent hält.
Aufgebaut aber ist Wirecard wie ein eigentümergeführter Mittelständler – zugeschnitten auf den Patriarchen. Die Mitarbeiter nennen ihn ehrfürchtig »Herr Doktor Braun«. Diejenigen, mit denen er täglich und viel zu tun hat, nennen ihn »MB« oder »Markus«.

 

Von Mitarbeitern, die nicht zu seinem engeren Kreis zählen, hält er sich eher fern. Bei Betriebsfeiern wird er oft von seinen wenigen Gefolgsleuten eingerahmt, bleibt stoisch sitzen und führt nur selten Small Talk mit Menschen, die er nicht kennt. Sogar in der Tiefgarage von Wirecard kapselt er sich ab: Der Parkplatz für den Vorstand wird abgeschirmt. Niemand kann sehen, ob Brauns Dienst-Maybach da ist oder nicht. Er ist gerne in seinem Büro und arbeitet an der Zukunft der Wirecard.

 

Seinen vierten Stock im Hauptgebäude verlässt er selten. Als er einmal bei Marsalek vorbeikommen will, der in einem benachbarten Gebäude sein Büro hat, machen Marsaleks Mitarbeiter Witze, ob Braun überhaupt hin- und wieder zurückfinden wird. Weit laufen muss er in der Regel auch nicht, um mit den Menschen zu reden, die ihm besonders wichtig sind. Mit Braun im vierten Stock der Aschheimer Konzernzentrale sitzen die Abteilungen, die der Vorstandschef als Instrumente für seinen Wachstumswahnsinn benötigt: die Leute, die für die Kommunikation mit der Presse und den Investoren zuständig sind. Und die Strategieabteilung. Braun braucht sie,
die Strategieleute, für das nächste große Ding. Die Ansprechpartner für die Investoren, um die Geldgeber einzuwickeln oder zu beruhigen. Und die Pressesprecher, um die Welt da draußen mit Jubelmeldungen zu überfluten.

 

Phasenweise arbeiten zusätzlich noch mehrere PR-Berater für Wirecard – reine Geldverschwendung. Dass er die Kommunikationsstrategie des Unternehmens ändern, vom reinen Dementieren kritischer Berichte wegkommen und auch mal Fakten liefern muss, dass er sich mehr Mühe geben muss, die Geschäfte seines Unternehmens zu erklären – davon will Braun angeblich nichts hören, berichten mehrere Personen, die eng mit ihm gearbeitet haben. »So wie ich es verstanden habe, erschien es ihm als Zeitverschwendung. Wer die Genialität seines Geschäftsmodells nicht verstehe, dem könne man auch nicht helfen. Das war in etwa die Haltung, die er vermittelt hat«, sagt einer, der für Braun gearbeitet hat.

 

Dass ihr Chef ein gesundes Selbstbewusstsein hat, merken seine Untergebenen auch, als er ihnen nach dem Aufstieg in den DAX aufträgt, Termine mit anderen DAX-Chefs zu machen. »Er brauchte die Anerkennung, dass er ein relevanter Spieler ist«, sagt ein Ex-Manager. Selbstzweifel kennt Braun offenbar nicht: »Er ist davon überzeugt, dass er permanent richtig handelt. Er bringt die Welt weiter, das denkt er«, sagt ein ehemaliger enger Mitarbeiter von Braun. Als Beleg dafür kann er stets auf die Wirecard-Aktie weisen. Am 3. September 2018 erreicht das Papier sein Allzeithoch: 195,75 Euro. Der Wert hat sich seit dem Jahresanfang mehr als verdoppelt. Wer solche Zahlen vorweisen kann, ist über jeden Zweifel erhaben. Braun sagt über sich selbst: »Ich bin ein pathologischer Optimist.«

 

Die bayerische Landeshauptstadt München mit ihrer Schickeria bedeutet Braun nicht viel. Seine Heimat Österreich hingegen schon, hier möchte er jemand sein. Häufig lässt er sich übers Wochenende nach Wien fahren, zusammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter bewohnt er dort ein Haus. Dass Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ihn in seinen wirtschaftspolitischen Thinktank holt, bedeutet ihm sehr viel, sagen Brauns Begleiter. Braun besucht den Wiener Opernball und versucht sogar, Gefühle zu zeigen, als er 2019 das Ereignis Opernball wie folgt beschreibt: »Es ist ein ästhetisches Gesamtkunstwerk, das man sicherlich auch anachronistisch sehen kann, aber auch in irgendeiner Form etwas ganzheitlich Einzigartiges ist.« Weiter führt er aus: »Es ist ein Sinneserlebnis. So muss man sich dem Opernball nähern und weniger in diesem Nützlichkeitsbereich.« Aha.

 

Gesprächspartner, mit denen sich Braun auf Augenhöhe sieht, erleben ein interessantes Gegenüber, das sich viel mit politischen und gesellschaftlichen Themen beschäftigt. Und das in seinen strategischen Überlegungen oft Vergleiche aus dem Schachspiel verwendet: Wenn ich das mache, macht der andere das, und so weiter. Letztendlich ist es das, was Braun mit allen um sich herum spielt: Schach. Er ist der Spieler, die anderen sind seine Figuren. Jahr für Jahr legt er die Messlatte für die Figuren höher. Seinen Wachstumswünschen hat sich die Belegschaft zu großen Teilen untergeordnet, meint ein Ex-Mitarbeiter, weil es scheinbar ja auch ging: »Wenn jedes Jahr 20 bis 30 Prozent Wachstum gepredigt und erreicht wird, dann wird das nach außen kommuniziert. Und dann wird es noch mit dem Prüfsiegel des Wirtschaftsprüfers EY versehen. Dann glaubt die Organisation das auch.«

 

Braun begreift sich als Visionär – aber wie um alles in der Welt seine irrwitzigen Wachstumsziele umgesetzt werden können, davon soll er weniger Ahnung gehabt haben. »Braun hat immer viele Ideen aufgebracht, aber wenn es dann um die Frage ging, wie man die umsetzen kann, dann hatte er oft nichts Schlaues mehr zu sagen«, sagt ein langjähriger Wirecard-Berater. »Braun hatte keine Ahnung, was im Maschinenraum der Firma passiert. Der saß im Elfenbeinturm.«

 

 

 

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