Buchauszug Ulrich Hemel: „Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss.“

Buchauszug Ulrich Hemel: „Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss.“

 

Ulrich Hemel (Foto: PR)

 

Digitale Identität

Wer sind wir? Wer bin ich? Seit es Menschen gibt, lässt sie die Frage nach ihrer Identität nicht los. Weil Menschen relationale, auf Beziehung hin angelegte Wesen sind, vergleichen sie sich mit anderen Menschen, mit Tieren, mit allem, was sie in ihrer Welt-Interaktion erleben können. Es ist also kein Wunder, dass mit dem Aufkommen digitaler Lebenswelten auch die Frage nach menschlicher Identität in digitalen Zeiten neu zu stellen ist. Was genau heißt digitale Identität?

Schon von Anfang an ist darauf hinzuweisen, dass die menschliche Selbstreflexion nur eine der verschiedenen Facetten digitaler Identität sein kann. Denn digitale Identität kann sich auf die Identität von Menschen oder auf die Identität von Maschinen beziehen. Die Frage nach digitaler Identität umfasst also auch die Frage danach, ob Maschinen überhaupt eine Identität haben können. Wenn ja, wie ist diese zu verstehen? Welche Analogien gibt es zu menschlichen Prozessen der Selbstwerdung und Identitätsreflexion? Und wo genau liegen die Unterschiede? Dabei gilt grundsätzlich: Menschen sind neugierig, erkunden die Welt, sind sich aber auch selbst ein Rätsel. Die grundlegende These des folgenden Kapitels lässt sich daher wie folgt zusammenfassen: Die besondere Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion und zum Selbstbewusstsein unterscheidet nach wie vor den Menschen vom Tier, aber auch von Programmen der Künstlichen Intelligenz. Denn Technik funktioniert, Menschen leben.

 

Menschliche Identität, Planungsfähigkeit und Zeitsouveränität

Die besondere Lebensform des Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen hat nicht zuletzt mit seiner Zeitsouveränität zu tun. Menschen haben eine Symbolfähigkeit, die anderen Lebewesen überlegen ist und die ihnen in ihrem Umgang mit Sprache und Welt zugutekommt (vgl. U. Hemel 2020, 152-162).
Besonders die Fähigkeit zur Versprachlichung der Welt schafft eine erste Reflexionsdistanz zwischen dem einzelnen Menschen und der Welt. Denn über Sprache können wir auch weit entfernte Gegenstände, Ereignisse und Situationen ins Bewusstsein heben und werden dadurch unabhängig von der „reinen Gegenwart“.
Reine Gegenwart erfahren wir als Menschen im Normalfall in Momenten der Kindheit, im Spiel und in der Ekstase. Unser Alltag hingegen wird fast nie von reiner Gegenwart bestimmt, sondern mindestens ebenso stark von Erinnerungen, aber auch von der Sorge, also der Aufmerksamkeit für Herausforderungen, die in der Zukunft liegen (vgl. M. Heidegger 1927).

Weiterhin zeichnen Menschen sich durch eine besondere Planungsfähigkeit aus, die den Horizont ihrer Zeit bis zum Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ausdehnt, aber auch die Erforschung vergangener Zeit und das Nachdenken oder Träumen über ferne Zukünfte ermöglicht.

Digitale Identität von Menschen ist von solchen Überlegungen zur Philosophischen Anthropologie nicht abgekoppelt (vgl. dazu R. Weiland 1995, aber auch E. Bohlken, Ch. Thies 2009, M. Heßler, K. Liggier 2019).

Neu ist nun im 21. Jahrhundert die technikaffine Zielrichtung der Reflexion. In den verschiedenen Weltreligionen wird ja das Verhältnis von Mensch und Gott betrachtet (vgl. W. Pannenberg 1983). Eine besondere Rolle spielte dabei der Gedanke der Gottebenbildlichkeit, also der Schöpfung des Menschen nach dem Bild Gottes (Buch Genesis, Kapitel 1, Vers 26; vgl. H. Schilling 1961).

In der Anthropologie vergangener Zeiten standen aber auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Tier im Mittelpunkt der Betrachtung (vgl. U. Lüke, G. Souvignier 2020). Dabei ist im Lauf der Zeit klar geworden, dass weder „instrumentelles Verhalten“ durch das Verwenden von Werkzeugen noch „kooperative Sozialformen“ den Menschen ausreichend deutlich vom Tier unterscheiden. Die besonders ausgeprägte Symbolfähigkeit von Menschen bringt es aber im Unterschied zu Tieren mit sich, dass die Spezies Mensch Symbole und Institutionen höherer Ordnung schaffen kann, etwa ein funktionierendes Geldsystem oder die Einrichtung eines demokratischen Rechtsstaates.

Es ist faszinierend, dass Fragen der theologischen Anthropologie zum Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf dort zurückkehren, wo Menschen in der digitalen Welt ihrerseits zum Schöpfer komplexer technischer Systeme werden. Denn sie sehen sich nun technischen Gebilden gegenüber, die hochwertige kognitive Operationen schneller und besser als Menschen erfüllen können.

Digitale Akteure haben bislang aber kein Bewusstsein. Sie können jedoch Bewusstseinsfunktionen technisch nachstellen. Dadurch kommt eine völlig neue Frage ins Sichtfeld: die nach der Identität digital programmierter Maschinen oder jedenfalls von digitalen Akteuren. Das ist auch der Hintergrund für das Entstehen einer völlig neuen Disziplin wie der Maschinenethik, also der Ethik von digitalen Maschinen als ethischen Akteuren (vgl. C. Misselhorn 2018).

Ethische Akteure waren in der Vergangenheit natürliche oder juristische Personen, aber nicht Maschinen. Die Ähnlichkeit eines entsprechend programmierten Outputs etwa eines Pflegeroboters mit dem Verhalten eines natürlichen Menschen mag zwar ihre Grenzen haben. Sie reicht aber aus, um Roboter, Androide oder digitale Systeme als ein „Gegenüber“ wahrzunehmen, dem die Qualität eines ethischen Akteurs zukommt. Von dieser Einsicht aus ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Erörterung der „digitalen Identität“ von Maschinen oder gar dem Status von Maschinen als Personen. Diese Diskussion soll aber erst in Kapitel 8 vertieft werden.

Selbst wenn wir uns zunächst auf die Betrachtung von Menschen beschränken, sind verschiedene Perspektiven zu unterscheiden. Denn die digitale Identität von Menschen umfasst zumindest drei Ebenen.

Die erste Ebene digitaler Identität betrifft subjektives Bewusstsein und somit die individuelle Ebene persönlicher digitaler Identität. Wer bin ich, wenn ich digital handle?

Die zweite Ebene digitaler Identität betrachtet die soziale und kollektive Ebene sowie die rechtlichen und politischen Ausgestaltungen des Umgangs mit dieser digitalen Identität. Wem wird Identität und Verantwortung zugeschrieben, wenn aus meiner digitalen Identität Handlungen hervorgehen?

Die dritte Ebene digitaler Identität thematisiert die philosophische Frage der Unterscheidung menschlicher Identität von der Identität der Tiere und der Maschinen, speziell mit Blick auf Entwicklungen im digitalen Zeitalter. Wie unterscheiden wir also Person und Identität?

Und wie unterscheiden sich Mensch, Tier und Maschine?

Diese umfassende Auslegung des Begriffs digitaler Identität schützt vor der Verengung auf eine rein subjektive oder eine rein sozialethische Perspektive. Außerdem stellt sie die Frage nach digitaler Identität in ihren geschichtlichen Zusammenhang.
Eine These der vorliegenden „Kritik der digitalen Vernunft“ ist es, dass die digitale Transformation einen echten Epochenbruch bezeichnet, der erhebliche soziale Folgen nach sich zieht. Reflexionen über den Kern des Menschseins, was immer dieser sein mag, kommen besonders stark in Zeiten von solchen technischen und politischen Epochenbrüchen zur Sprache. Denn jede neue Technik, vom Ackerbau bis zur Schrift, vom Buchdruck bis zum Fernsehen, von der Zeitung bis zum Internet, bringt neue Fragen hervor und wirft neues Licht auf bisherige Antworten. Nur in wenigen Fällen greifen technologische Veränderungen so tief in den Alltag der Menschen ein, dass in deren Bewusstsein ein „Vorher“ und „Nachher“ eingegraben wird, einfach weil technische Veränderungen und Veränderungen der sozialen und individuellen Lebensform von Menschen so grundlegend sind, dass sie praktisch alle Aspekte des Alltags durchziehen.

Wichtig ist dabei regelmäßig die Balance aus Diskontinuität und Kontinuität, aus der Anerkennung und Wahrnehmung dessen, was wirklich neu ist, aber auch aus der Berücksichtigung fortdauernder Kräfte und Prozesse. Schließlich sind Kontinuität und Diskontinuität nicht so eindeutig verteilt, wie es bisweilen scheinen mag, wenn neue Technik bis in das Alltagsleben der Menschen eingreift.

Im Folgenden soll die anthropologische und philosophische Frage nach dem Menschen, seiner Identität und seiner Person den Hintergrund bilden für die praktischen und technischen Fragen digitaler Identität.

Eine erste Annäherung gilt dabei der Veränderung in unserer Sprache. Ein kleines Beispiel soll dies zeigen. Denn ein Wort wie „Identitätsmanagement“ kam in vor-digitalen Zeiten nicht vor. Es war zwar auch im letzten Jahrhundert schon möglich, sich selbst in unterschiedlichen Rollen und Situationen zu inszenieren. Ein eigenes „Identitätsmanagement“ war aber unbekannt.

Das Wort „Identitätsdiebstahl“ war vor allem auf Versicherungsbetrüger, Heiratsschwindler und Kreditkartenbetrüger begrenzt. Menschen konnten sich zwar auch in früheren Zeiten selbst verlieren oder mit anderen verwechselt werden. Sie konnten Identitätskrisen erleben oder als Geheimagenten eine falsche Identität annehmen. Das Wort „Identitätsdiebstahl“ hat aber in digitalen Zeiten neue Bedeutungsfacetten und erst recht eine neue Brisanz gewonnen.

 

 

Ulrich Hemel: „Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss.“  400 Seiten, 32 Euro, Herder Verlag https://www.herder.de/geschichte-politik-shop/kritik-der-digitalen-vernunft-gebundene-ausgabe/c-34/p-19313/

 

Digitale Identität als Epochenbruch der Selbstwahrnehmung

Das beispielhafte Wort „Identitätsdiebstahl“ kann uns helfen, das Ausmaß in der Veränderung menschlicher Selbstwahrnehmung in digitaler Zeit zu erfassen. Interessant ist im Kontext der digitalen Welt speziell die hybride Mischung aus technischen und personalen Aspekten.

Denn mit „Identitätsdiebstahl“ gemeint sind unbefugte technische Zugriffe auf Elemente digitaler Identität wie ein Passwort, eine Mail-Adresse und dergleichen, sodass Angreifer sich „tarnen“ können und Zugänge gewinnen, die ihnen nicht zustehen, weil sie sich als Personen ausgeben, die sie nicht sind.

Das Wort „Identitätsdiebstahl“ enthält eine rechtliche und moralische Wertung: es handelt sich um Diebstahl, um einen kriminellen Akt. Wir sind hier also in der Sphäre des Sozialverhaltens und des Rechts. Gestohlen wird aber mit digitalen Hilfsmitteln, und Gegenstand des Diebstahls sind Elemente der digitalen Existenz einer Person.
Das Wort „Identitätsdiebstahl“ mischt also digitale, technische Voraussetzungen mit den Normen und Kriterien sozialen Zusammenlebens. Anders gesagt: Die Norm „Du sollst nicht stehlen“ ist Teil der biblischen Zehn Gebote und seit Langem als Handlungsrichtlinie in der analogen Welt bekannt. Der Ausdruck „Identität stehlen“ ist in der digitalen Anwendung neu. Er kann uns dazu veranlassen, die Einsicht in das gesamte Universum rund um unsere Identität zu vertiefen. Denn eine Person geht in ihrer digitalen Existenz ja nicht auf. Sie muss über ihr digitales Leben hinaus notwendigerweise essen und trinken, schlafen und atmen wie andere Menschen auch. Und das sind ausdrücklich nicht-digitale Lebensäußerungen.

In analogen Zeiten verwies Identität auf die Ganzheit der Person. Der Anspruch der Ganzheit wird nun auf verschiedene Art und Weise verändert. Denn „digitale Identität“ verweist ja gerade nicht auf das Ganze des Lebens, sondern auf einen Ausschnitt, sozusagen auf das digitale Fenster unseres Lebens. Dieses „digitale Fenster“ markiert denjenigen Ausschnitt unserer ganzen Person, bei dem es um unsere Gegenwart, Wirkung, Geltung und Aktivität in der digitalen Welt geht.

Da dieser digitale Ausschnitt der „ganzen“ Welt einen immer größeren Raum des Lebens einnimmt und zur Zugangsvoraussetzung persönlicher Teilhabe wird, können die Folgen eines digitalen Identitätsdiebstahls verheerend sein: Vom Ausschluss aus dem Arbeitsleben bis zur Sperrung von Bankkonten, von fehlender digitaler Teilhabe in sozialen Medien zur gefühlten sozialen Isolation.

Ein Wort wie „digitale Identität“ verweist folglich darauf, wie sehr unser Leben eine hybride Gestalt aus digitalen und nicht-digitalen Elementen, aber auch Erlebnissen und Aktivitäten angenommen hat. Die vertiefte Frage nach digitaler Identität ist nur bedingt mit dem eigenen Bewusstsein und Selbstbewusstsein gekoppelt. Identitätsdiebstahl kann auch passieren, während ich schlafe. Neu daran ist nicht, dass Diebe in der Nacht kommen können. Neu ist, dass „Identität“ gestohlen werden kann ohne Wachbewusstsein. Wenn jemand meine Identität stiehlt, kann er sich digital als Alias-Person meiner selbst ausgeben und einen Vermögens- und Reputationsschaden anrichten. Das bedeutet aber auch, dass digitale Identität aufgrund der technischen Konnotation des Begriffs wie oben ausgeführt nicht an Bewusstsein und an Aufmerksamkeit geknüpft sein muss.

Eine Person ohne Bewusstsein war in der traditionellen Welt allenfalls als Spezial- und Sonderfall vorstellbar. Eine Person ohne Bewusstsein sind wir, wenn wir schlafen, wenn wir ohnmächtig sind, während einer Anästhesie. Die Person ohne Bewusstsein kann aber im Grunde nicht gedacht werden ohne Bezugnahme auf die Vollgestalt der bewusstseinsfähigen, verantwortlichen und rechtsfähigen Person. Wer ohne Bewusstsein ist, schließt keine Rechtsgeschäfte ab und kann – etwa im Zustand des Vollrauschs – nur bedingt zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn feinsinnige Juristen den Ausdruck der actio libera in causa artikuliert haben, also dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass eine berauschte Person Verantwortung zu übernehmen habe zumindest für die Ursache (causa) des Rausches, also die zurechenbare und bewusste Einwilligung in ein Trinkverhalten, welches das Bewusstsein erheblich trübt oder gar ganz ausschaltet (vgl. M. Hettinger 1988, E. Schmidhäuser 1992).

Der Vollbegriff der Person mit ihrer personal zurechenbaren Verantwortung ist nur bedingt auf den Begriff der digitalen Identität anwendbar. Digitale Identität ist zwar eine Erscheinungsform und eine in aller Regel zurechenbare Gestalt meiner analogen, physischen Person.

Sie ist aber zugleich mehr und weniger: Mehr, weil die technische Wirkmacht digitaler Identität über die Grenzen der eigenen Person hinausreichen kann, und weniger, weil es keine Deckungsgleichheit zwischen der physischen Person und ihrer digitalen Identität gibt. Der Begriff der Person als „Persona“, als dem Durchtönenden durch die Maske im griechischen und römischen Theater, gewinnt hier wieder an Bedeutung: „Hinter“ der Maske steht und agiert ein Mensch. Konkretisiert wird dieser durch die Perspektive und die Handlungsmöglichkeit der Rolle, die durch die Maske versinnbildlicht wird.

Das Auseinanderfallen von Person und „Identität“ ist nicht einfach ein Detail als Folge neuer technischer Möglichkeiten. Es markiert einen Epochenbruch der Selbstwahrnehmung. Das geht bis hin zu markanten Auswirkungen der digitalen Welt auf Erziehung, auf Körperwahrnehmung und Selbstbewusstsein.

Durch moderne Bildbearbeitungsprogramme können beispielsweise Inszenierungen des eigenen Körpers erreicht werden, die von der nackten Realität mehr oder weniger weit entfernt sind. Das geht so weit, dass es bereits durch Instagram induzierte Schönheitsoperationen gibt. Das sind Korrekturen des Körpers in Richtung eines Schönheitsideals, das einem vorgestellten Idealkörper entspricht, wie er durch Instagram-Posts als wünschenswert dargestellt wird. Bemerkenswert
an dieser Entwicklung ist nicht, dass es sich verstärkende soziale Prozesse gibt. Neu ist vielmehr, dass diese Prozesse digital angestoßen und verstärkt werden. Anders gesagt: Die digital abgebildete Welt nimmt wirksam Einfluss auf die reale Welt bis hin zur menschlichen Leiblichkeit. Es gibt folglich nicht nur analog-digitale, sondern auch digital-analoge Rückkopplungsschleifen im menschlichen Verhalten. Das wiederum kann als zusätzliches Indiz für einen Epochenbruch der Selbstwahrnehmung gedeutet werden.

 

Drei Ebenen der Person: Physisches Ich, digitales Ich und Cloud-Ich

Eine Kritik der digitalen Vernunft wird folglich wahrzunehmen haben, dass der Begriff der Person, des Selbst, des Ichs umfassender gedeutet werden muss als in analoger Zeit.
Dabei geht es nicht nur um die schon klassische Unterscheidung zwischen Person und Rolle, zwischen beruflicher und privater Existenz, zwischen öffentlicher und nicht-öffentlicher Erscheinung. Diese Unterscheidungen sind weiterhin von Bedeutung, aber sie müssen für die digitale und die nicht-digitale Welt neu ausbuchstabiert werden.
In digitalen Zeiten gibt es tatsächlich jeden einzelnen Menschen als „dreifache Person“, also in dreifacher Gestalt: Als physische, menschliche Person, als digital erweiterte Person in Gestalt der eigenen Bilder und Daten im Internet und im Smartphone sowie als digital virtuelle Person in Gestalt der gar nicht bewusst zugänglichen Informationen über eine Person im Internet und in allerlei Datenspeichern.

Die Verdopplungsfunktion der digitalen Welt (A. Nassehi 2019, 108-151) macht also vor der Definition einer Person nicht halt. Noch mehr: eine „digitale Person“ kann auch nach dem Ableben der physischen Person existieren. Die Diskussionen um das Recht auf
„digitales Vergessen“ geben davon Zeugnis ab (vgl. V. Mayer-Schönberger 2010; M. Welker 2018).

Die digitale Transformation führt, wie an dieser Stelle erkennbar wird, zu einer Umgestaltung sozialkultureller Lebensformen, die ähnlich grundlegend ist wie der Übergang von der nomadischen Lebensweise der Jäger und Sammler zur sesshaften Lebensweise der Bauern. Dabei wäre es ein Irrtum zu glauben, das ganze Leben werde nun digital oder die nicht-digitale Welt gäbe es bald gar nicht mehr. Richtig ist vielmehr, dass wir von einer analogen in eine durch und durch hybride Lebensform übergehen, bei der analoge und digitale Anteile nicht leicht zu unterscheiden sind. Die physische Person Sophia Maier existiert also wie folgt:

1. Sophia Maier, physische Person oder „Persona 1“, mit eindeutigem Geburtsdatum und Geburtsort, ausgewiesen durch einen Reisepass oder Personalausweis. Diese Person kann sprechen und handeln, sie atmet und muss essen und trinken. Persona 1 ist an die physische Existenz von „Sophia Maier“ gekoppelt.

2. Sophia Maier, digital erweiterte Person oder „Persona 2“, erfasst durch Registrierung einer Smartphone-Nummer, erfasst als User durch eine angemeldete IP-Adresse, erfasst bei Daten- und Social-Media-Anbietern, identifiziert durch Passwörter, Verträge und Einwilligungen. Diese Person kann sich digital mitteilen und wirksam handeln; sie ist in aller Regel eine Handlungs- und Äußerungsform von Person 1 und braucht Stromversorgung und Datenverbindungen. Sie kann mit oder ohne das Bewusstsein von Persona 1 existieren und ist, von Ausnahmen wie beim Identitätsdiebstahl abgesehen, an die physische Existenz von Persona 1 gekoppelt.

3. Sophia Maier, digital virtuelle Person oder „Persona 3“, erfasst durch Daten, digitale Handlungen und digitale Spuren auf der Grundlage von Handlungen der Persona 2. Diese Person existiert nicht in bewusster Gestalt, sondern ist virtuell in dem Sinn, dass es sich um das immer nur fragmentiert zugängliche gedankliche Konstrukt der „vollständigen Datenspur“ von Persona 2 handelt. Diese Datenspur teilt sich auf private Anbieter und staatliche Behörden auf und wird nirgends zusammengeführt. Persona 3 existiert komplett außerhalb des Bewusstseins von Persona 1 und Persona 2.

Die Unterscheidung von Persona 1, Persona 2 und Persona 3 macht unmittelbar verständlich, warum eine Analyse digitaler Identität immer auch die Frage nach Selbstkontrolle und Kontrollverlust mitbedenken sollte.

Dass eine Person keinerlei Spuren in der digitalen Welt verursacht, ist heutzutage in Europa unwahrscheinlich, auch für hochbetagte Personen wie für meinen über 90-jährigen Vater. Wir wissen im Grunde nicht, welche Datenspuren wir hinterlassen und welche unserer analogen Lebensäußerungen sozusagen digital gespiegelt werden – etwa eine Vereinsmitgliedschaft, der Facebook-Eintrag einer Person, die wir kennen und die uns zufällig fotografiert, und vieles mehr.

Wir können uns zwar eine geistig hochstehende Podiumsdiskussion an einer deutschen Universität ausdenken, bei der feinsinnig die Schlussfolgerung artikuliert wird, die „eigentliche Person“ sei doch nur die „Persona 1“. Richtig daran ist, dass wir ohne die „Persona 1“ keinen Anker und keinen Referenzpunkt für Persona 2 und Persona 3 hätten. Und schon aus Gründen der menschlichen Selbstachtung tun wir gut daran, in unserer Existenz als selbstbewusste physische Person die entscheidende Voraussetzung für unsere digitale Identität zu sehen. „Hinter“ einer digitalen Identität steht eben eine persönlich, moralisch und rechtlich zurechenbare Person.

Dennoch geht die Realität der „hybriden Person“ im Gesamtzusammenhang von Persona 1, Persona 2 und Persona 3 deutlich über den klassischen Begriff der Person hinaus. Denn auch wenn Persona 1 der Anker ist, fehlt es Persona 2 und Persona 3 nicht an Realität. Sie sind gewissermaßen Erweiterungen unserer Persona 1, entziehen sich aber in einigen Aspekten unserer bewussten Kontrolle.

 

 

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