Buchauszug Wiebke Köhler und Ingo Hamm: „Wettbewerbsfaktor Mensch. Wie man durch Mitarbeiterbegeisterung und moderne Führung Mehrwert schafft.“

Buchauszug Wiebke Köhler und Ingo Hamm: „Wettbewerbsfaktor Mensch. Wie man durch Mitarbeiterbegeisterung und moderne Führung Mehrwert schafft“

(Wiebke Köhler (Foto: PR)

Ingo Hamm (Foto:PR)

Führen heißt Begeistern

Mitarbeiter erwarten, grob gesagt, an ihrem Arbeitsplatz keine „Basisdemokratie“. Sie betrachten Führung nicht als notwendiges Übel. Vielmehr wollen Mitarbeiter geführt werden. Nun könnte man erwidern: Prima – es wird ja bereits geführt. Jedes Unternehmen hat Führungskräfte. Jedoch: Führen sie begeisternd?
Man könnte als Antwort darauf eine repräsentative Anzahl von 360°-Feedbacks analsieren. Oder man könnte die Top  8 der ermittelten repräsentativen Begeisterungsfaktoren konsultieren und beim Blick auf die Rangfolge feststellen:

• Rang 2: authentische Führung
• Rang 3: Fürsorge
• Rang 6: ermunternde Führung

Allein drei der stärksten acht Begeisterungsfaktoren sind Faktoren, die aufs engste mit dem Thema „Führung“ verbunden sind: Mitarbeiter finden Führung begeisternd. Und zwar nicht irgendeine Führung, sondern eine Führung, die durch diese drei Faktoren gekennzeichnet ist – wir nennen diese Art der Führung „solide“ Führung. Offenbar besteht aber ein Manko an begeisternder, solider Führung in deutschen Unternehmen. Das offenbart der ermittelte Erfüllungsgrad der genannten drei Begeisterungsfaktoren.

 

162 7 Was wirklich zählt: Solide Führung

Bei allen drei genannten Charakteristika der Führung melden die Befragten einen star- ken Handlungsbedarf der Führung in ihrem Unternehmen an. Denn die Erfüllungsgrade dieser Begeisterungsfaktoren rangieren in der Faktoren-Tabelle in der unteren Hälfte, respektive im unteren Drittel:

• Ermunternde Führung: 60 % Erfüllungsgrad
• Authentische Führung: 58 %
• Fürsorge: 56 %

Die geringen Erfüllungsgrade dieser drei Faktoren drängen zwei Schlussfolgerungen auf: Die repräsentativ Befragten wünschen sich eine andere Führung als jene, die sie bislang erleben, und sie wünschen sich mehr von dieser anderen Führung in einem stärkeren Ausmaß (Erfüllungsgrad), als sie es bislang erleben. Es besteht daher ein deutlich fest- stellbarer Handlungs- und Veränderungsbedarf, weg von aktuell praktizierten Führungsstilen und hin zu einer soliden Führung. Anders gesagt: Ein neues Leitbild der Führung ist überfällig.

 

Mitarbeiter wollen nicht nur geführt, sie wollen solide geführt werden

Mitarbeiter wünschen sich Führung. Sie wünschen sich solide Führung. Wenn Mitarbeiter unter anderem authentisch, ermunternd und fürsorglich geführt werden wollen und gleich- zeitig – nach eigenem Bekunden – noch zu wenig von dieser gewünschten Führung erfahren, dann braucht es mehr Führungskräfte, die diesem neuen Anspruch stärker gerecht werden. Der Führungsauftrag der Führungskräfte des Landes verändert sich. Er verändert sich im Widerspruch zu aktuellen Führungsmoden.
Betrachtet man aktuelle Strömungen in der Führungsdiskussion, reichen diese von „im digitalen Zeitalter braucht es weniger bis keine Führung“ über „ein Chef muss nur zwei Stunden am Tag führen“ (Backovic 2019) bis hin zu „am besten, alle führen“ oder zu
„selbstorganisierte Teams führen und steuern sich selber“.

 

Zum Thema der angeblich in modernen Zeiten erheblich reduzierten Führung liefern die Medien immer wieder leuchtende Beispiele für einen vermeintlich komplett neuen Führungsstil. Diese Beispiele stammen jedoch recht häufig aus dem doch sehr speziellen IT-Bereich (Brebaum und Richter 2019). Der in solchen Äußerungen und Publikationen verbreiteten weitgehenden Absage an eine starke, umfassende Führung widersprechen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Diese Ergebnisse zeigen: Mitarbeiter wollen mehr, nicht weniger Führung. Und sie wollen eine andere Führung. Gewünscht werden Führungskräfte, die solide führen können und wollen.

 

Die daraus sich ergebende Erfordernis konstituiert nicht nur einen neuen Anspruch an Führungskräfte, sondern stellt gleichzeitig eine Entlastung der Führung dar: Führungskräfte müssen nicht mehr den nahezu im Monatsrhythmus wechselnden, jeweils als neu und angesagt propagierten Führungsstilen hinterherlaufen. Sie können sich vielmehr auf das konzentrieren, was Mitarbeiter nachweislich begeistert und was sie sich wünschen: solide Führung.

Eine dergestalt wunschgemäße Führung bedeutet einen Paradigmenwechsel: Führung ist nicht länger das, was Führungskräfte ihren Mitarbeitern direktiv und ausgerichtet an einem theoretisch postulierten „Führungsstil“ angedeihen lassen. Führung ist das, was sich Mitarbeiter ganz konkret wünschen und was sie begeistert. Um eine Metapher aus der Kommunikation zu bemühen: Mitarbeiter stellen die Führungsfrage. Führungskräfte, die diese Frage korrekt (im Sinne der fünf konstituierenden Elemente solider Führung, beantworten, begeistern.

 

Führung im Wandel der Zeit

Dass wirksame, begeisternde Führung im Sinne eines Dialogs zwischen Führung und Geführten als „korrekte Antwort auf eine gestellte Führungsfrage“ interpretiert werden kann, verkörpert einen umwälzenden Gedanken, wenn wir Führung im Wandel der Zeit betrachten.

 

In den 60er- bis 80er-Jahren war Führung im Gegensatz zu diesem Gedanken noch kein Dialog, sondern überwiegend ein von Führungskräften wie Mitarbeitern weitgehend akzeptierter Monolog. Es wurde in der Regel hierarchisch, von oben herab, zumeist monologisch geführt. Führungskräfte gaben dezidiert Anweisung und Mitarbeiter führten sie (meist schweigend) aus. Das war (und ist es mancherorts noch) eher direktiv als fürsorglich (Begeisterungsfaktor #3). Eine Ermunterung (Begeisterungsfaktor #6) erübrigte sich darüber hinaus bei jemandem, dem man allein via Anweisung führen durfte und führen konnte; Authentizität (Begeisterungsfaktor #2) war für eine reine Auftragserteilung nicht nötig (selbst wenn die Dissonanz zwischen dem, was Führungskräfte sagten und dem, was sie taten, auch damals schon von vielen Mitarbeitern als wenig begeisternd wahrgenommen wurde).

In den späten 80er-Jahren kam der kooperative Führungsstil auf: Mitarbeiter wurden stärker in Entscheidungsfindung und Aufgabensteuerung einbezogen. Führung bewegte sich weg vom Autokratisch-Hierarchischen. Sie entwickelte sich in Richtung auf einen fürsorglichen Führungsstil hin, erreichte ihn jedoch noch nicht.
Heute ist die Entwicklung bei selbststeuernden Teams und selbstorganisierten Organi- sationseinheiten angekommen: Führung scheint hauptsächlich auf die Art und Weise der Arbeitssteuerung und Entscheidungsfindung fokussiert. Dass Mitarbeiter, wenn einmal zufriedenstellend geklärt ist, wie Arbeit, Leistung, Entscheidungen und Ergebnisse gesteuert werden, darüber hinaus auch ermuntert werden möchten, eine authentische Führungskraft und ein gewisses Maß an Fürsorge erwarten, erscheint dagegen nicht im Fokus der aktuellen Diskussion und Führungspraxis. Hier weist die gegenwärtige Führungsdiskussion einen blinden Fleck auf, den die Studie zur Mitarbeiterbegeisterung mit dem Konzept der soliden Führung erhellen und ausfüllen kann. Dieses Konzept wird im Folgenden näher erläutert.

 

These: Führung sollte sich kümmern, aber nicht „pampern“
Die fünf Elemente solider Führung

Mitarbeiter erwarten solide Führung. Wie fünf der wichtigsten führungsrelevanten Begeisterungsfaktoren illustrieren, verstehen wir – faktenbasiert, abgeleitet aus unserer repräsentativen Studie – darunter eine Führung, die

1. authentisch ist
2. Klarheit über die Unternehmensstrategie vermittelt
3. fürsorglich ist
4. Sicherheit gibt
5. ermuntert

 

Man könnte diese Faktoren auch schlagwortartig auf den Slogan verkürzen: „Kümmere dich um deine Leute!“ Oder auf Neudeutsch: „Care, don’t pamper!“
Das ist, zugegebenermaßen, nicht so medienspektakulär wie „teilautonome Teams“ oder „die selbststeuernde Organisation“. Vielleicht ist es gerade deshalb wirkungsvoller und begeisternder. Nicht alles, was neu, trendig und spektakulär ist, muss gleichzeitig wirksam und begeisternd sein – oder aus Sicht der Mitarbeiter den Erwartungen an eine solide Führung entsprechen. Was heißt es, sich um seine Leute zu kümmern, sie aber nicht zu „pampern“ (verhätscheln)?

 

Der feine Unterschied zwischen Kümmern und Hätscheln

„Sich um seine Leute kümmern“ klingt unmissverständlich, provoziert gestandene Prakti- ker jedoch oft zu spontanen Äußerungen wie: „Ich will aber nicht mit meinen Mitarbeitern Händchen halten!“, wobei ebenso viele Mitarbeiter unterschiedlichster Generationen genauso wenig „Händchen gehalten haben wollen“. Manchmal empört sich eine Führungskraft auch: „Ich bin Managerin und nicht die Caritas!“ Solche und andere verbreiteten Missverständnisse erfordern eine Klarstellung dessen, was Mitarbeiter unter begeisternd, fürsorglich, authentisch, ermunternd und solide verstehen. Mitarbeiter erwarten nicht,

• dass sie verhätschelt werden, sondern dass sich Vorgesetzte im Rahmen ihrer Möglichkeiten um ihre Belange und Nöte kümmern – und sie nicht „im Regen stehen lassen“. Noch einmal zur Klarstellung: Es geht den allermeisten Mitarbeitern dabei um berufliche Belange und Nöte, nicht die privaten!
• einen Übervater oder Helikopter-Chef, sondern einen nahbaren, ansprechbaren Vor- gesetzten.
• eine Politik der stets offenen Bürotür, jedoch einen Chef, der mit sich reden lässt, wenn das nötig ist.
• einen Deus-ex-machina-Problemlöser, aber einen Vorgesetzten, der sich allfälliger operativer Probleme nicht floskelhaft mit „Machen Sie mal! Sie haben mein vollstes Ver- trauen!“ entledigt.
• dass ihnen der Stift in der Hand geführt wird, aber sie erwarten sehr wohl eine Führungskraft, die sie in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung unterstützt.

Wenn Mitarbeiter einerseits die kurzfristige Arbeit erledigen, dann erwarten sie andererseits jemanden, der sich um ihre langfristige berufliche Perspektive kümmert und ihnen für eben diese Arbeit den Rücken freihält, Hindernisse aus dem Weg räumt und die nötigen Ressourcen organisiert.
Gerade in Zeiten üppiger New-Work-Diskussionen scheint der Aspekt der offenen Bürotür besonders präsent, zumal moderne  Bürokonzepte ohnehin quasi „wenig Tür, viel Raum“ propagieren. Als modern wird eine Büroarchitektur erachtet, in der Chefs nicht räumlich abgeschottet arbeiten.

Selbst in Weltkonzernen rühmen sich Topmanager zuweilen, sich Büros mit Vorstandskollegen zu teilen oder keine eigenen, festen Büros mehr zu haben. Doch offene Türen, offene Räume sollten dem schnellen, informellen Austausch – ohne langwierige Terminfindung – dienen und nicht eine Atmosphäre des ständigen Zusammenseins, ein Vermengen von Privatheit mit Profession, erzeugen.

Mitarbeiter erwarten, dass sich die Führung unter anderem auch um sie kümmert. Eine Erwartung, die fast schon selbstverständlich anmutet, im Führungsalltag jedoch oft problematisch wird. Zum Beispiel regelmäßig dann, wenn die Führung meist spontan und reflexiv, aber in der Regel unreflektiert „Das hat bei uns noch nie funktioniert! Damit kommen Sie nicht an Controlling vorbei“ antwortet, sobald der Mitarbeiter einen Wunsch oder Vorschlag außerhalb des Üblichen anmeldet. Anstatt fürsorglich und ermunternd (und möglichst authentisch) zu antworten: „Guter Vorschlag. Ich würde ihn aus dem Stand genehmigen – wenn ich dafür das Controlling auf unserer Seite hätte. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde mich darum bemühen. Vielleicht können wir ja auch improvisieren. Jedenfalls: Gute Idee, weiter so.“

Manchmal wenden gestandene Manager ein, dass es lediglich am ungewohnten „Wor- ding“ (Formulierung) liege, wenn solche ermunternden Worte selten zu hören sind. Das ist ein valider Einwand. Solide Führung hat sozusagen eine eigene solide Sprache, ein eigenes Vokabular der Solidität. Das ist einerseits unbequem: Führungskräfte, die sich kümmern wollen, müssen quasi eine Fremdsprache erlernen. Andererseits macht das die Sache auch einfach: Für jede Fremdsprache ist ein Vokabular vorhanden, das sich jeder Sprachneuling problemlos und aufwandsarm mit bewährten Sprachlernmethoden aneignen kann – keine große Sache. Man braucht lediglich etwas guten Willen dafür.

Gerade bei schwierigen Entscheidungen und in diffizilen Situationen sollte man Abstand nehmen vom „Manager-Sprech“. Dieser kann leicht den Anschein erwecken, dass sich der Sprecher bei einer schwierigen Entscheidung hinter abgehobenen Formulierungen zu verstecken versucht. Also statt zum Beispiel „Das ist eine echte Challenge, für diese Idee müssen wir erstmal alle Stakeholder mit ins Boot holen, weil wir nicht im Lead sind, und jeder muss dabei die Extrameile gehen!“ wirkt doch deutlich besser: „Schwierige Sache, lassen Sie mich das erst klären, und machen Sie bitte so lange mit Volldampf weiter.“

Doch selbst wenn eine positive Absicht und genügend „Sprachkenntnisse“ bei der Führungskraft vorliegen, kann es beim Bemühen, sich um seine Mitarbeiter zu kümmern, zu Problemen kommen; vor allem bei komplexeren Vorhaben. So kolportiert zum Beispiel eine Abteilungsleiterin eines Konzerns, ihr Bereichsleiter habe anlässlich eines Team- Meetings seiner Abteilungsleiter zum Thema „Health Care Management“ eine Tüte mit Schrittzählern auf den Tisch geschüttet und gemeint: „Die schnallen wir jetzt alle um. Das ist gut für die Gesundheit!“ Ganz gewiss verfolgte der Bereichsleiter damit eine fürsorgliche und ermunternde Intention (auch wenn er es selber nicht so bezeichnen würde). Doch die mehrheitliche Reaktion der Abteilungsleiter war: „Jetzt überwacht die Bereichsleitung auch noch jeden unserer Schritte! Was kommt als nächstes? Gewaltmärsche im Morgengrauen mit Sturmgepäck?“

Diesem Eindruck konnte auch nicht dadurch abgeholfen werden, dass der Bereichsleiter am nächsten Morgen die Tour durch die Büros machte, stolz seine Schrittzahl vom Vortag präsentierte (es waren 12.600) und jeden fragte: „Und? Wie viele haben Sie geschafft?“ Was als fürsorglicher Akt gedacht war, wurde im Endeffekt und ganz im Gegenteil als „Big Brother Is Watching You“, als unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre interpretiert – ziemlich unnötig.

Ein anderer Bereichsleiter des Konzerns demonstrierte im Rahmen derselben Health Care-Offensive, wie es auch anders gehen kann: Er startete die Offensive, indem er selber „vorturnte“, den Schrittzähler umschnallte und mehrfach wöchentlich authentisch darüber berichtete, wie viel er geschafft, respektive nicht geschafft hatte und wie sich das auf seine Gesundheit, Fitness, sein Wohlbefinden und seine berufliche Leistungsfähigkeit auswirkt. Einzelne seiner Führungskräfte interessierten sich spontan dafür, und jedes Mal, wenn sich jemand dafür interessierte, bot er ihm oder ihr einen Tracker an: „Ist eine gute Sache und: Die Firma übernimmt sämtliche Kosten. Wenn Sie wollen, hilft unser Administrator Ihnen mit dem Einrichten der App. Machen Sie das ruhig während der Arbeitszeit; das mache ich auch. Alle Daten sind natürlich absolut persönlich, geheim und geschützt. Und wenn Sie nicht wollen, müssen wir nie wieder darüber sprechen.“ Keiner, der nicht mitmachen wollte (es war knapp ein Fünftel des Teams), wurde verbal dafür angegangen: No Blaming Game. Auch solche „Schwarzer Peter“-Spiele zu unterbinden, ist Ausdruck des Sich-Kümmerns.

Anhand solcher und ähnlicher Beispiele aus der Praxis erkennen wir, dass solide Führung keineswegs etwas komplett Neues ist. Sie ist viel eher eine komplexe Rückbesinnung auf traditionelle, praxisbewährte Werte, die von etlichen Führungskräften bereits praktiziert wird. Das heißt jedoch nicht, dass jene, die sie noch nicht (ausreichend) praktizieren, sie mehrheitlich aus dem Stand beherrschen könnten. Solide Führung mag per se nichts Neues sein – für viele Führungskräfte ist sie dagegen neu im Sinne von „abweichend vom gewohnten Verhalten“ und unterliegt damit den üblichen Voraussetzungen des Erwerbs von neuen Skills. In anderen Worten: Solide Führung ist Trainingssache. Zu erwarten, dass Führungskräfte auf Anweisung und von sich aus quasi über Nacht solide führen können (und wollen), ist eine Erwartung, die in der hektischen Praxis leider oft zum Scheitern verurteilt ist. Training is the breakfast of champions.

 

„Sich kümmern“ ist nicht so einfach wie behauptet

Wenn wir die These „Führung sollte sich kümmern“ mit gestandenen Praktikern diskutieren, hören wir häufig den Einwand: „Aber natürlich kümmern wir uns um die Mitarbeiter. Was denken Sie denn von uns?“ Solche Pauschalbescheide verhindern oft (unbewusst aber nachdrücklich) die Einzelfallbetrachtung, die sich lohnt, weil eine Führung, die sich kümmert, nicht ganz so einfach ist wie der Einwand suggeriert.

So schickt zum Beispiel eine Laborleiterin eines Biotech-Unternehmens einen ihrer Spezialisten spontan nach Hause, weil dieser einen überraschenden Todesfall in der Familie erlitten hat und pflichtbewusst trotzdem zum Dienst angetreten ist: „Sie brauchen die nächsten Tage hier nicht zu erscheinen. Regeln Sie in Ruhe alles, was nötig ist. Stehen Sie Ihrer Familie bei. Wir verteilen Ihre Workload auf die Kollegen. Ich rufe Sie Ende der Woche an, dann sehen wir weiter.“

Es bedarf nicht der Erwähnung, dass diese fürsorgliche (und authentische) Maßnahme nicht nur beim Betroffenen großen Eindruck machte. Auch bei seinen Kollegen hat sich über die Jahre durch solche fürsorglichen Gesten der Ein- druck verfestigt: „Die kümmern sich um uns!“ Leider ist keine simpel anmutende Geste des Sich-Kümmerns so simpel, dass sie nicht gründlich missverstanden und falsch angewendet werden könnte.

So schickt ein ähnlich um seinen Mitarbeiter besorgter Vorgesetzter den Betreffenden ebenfalls wieder nach Hause, weil der Mitarbeiter nach dem schweren Arbeitsunfall eines Kollegen am Vortag sichtlich durch den Wind am Arbeitsplatz erschienen ist: „Gehen Sie nach Hause! Erholen Sie sich erst mal in aller Ruhe von dem Schock!“ Und das, obwohl der Mitarbeiter vorher etwas kleinlaut geäußert hatte: „Wenn ich jetzt zu Hause rumsitze, kriege ich den Hüttenkoller! Ich brauche Ablenkung, ich will arbeiten, das bringt mich auf andere Gedanken.“ Sich gut um seine Mitarbeiter zu kümmern ist nicht ganz so einfach wie der Pauschaleinwand „Wir kümmern uns schon!“ glauben machen möchte. Wie jede andere Aufgabe kann man sie gut oder weniger gut ausführen.

Sich um seine Mitarbeiter zu kümmern, bedeutet beispielsweise nicht, den Mitarbeiter nach dem Motto „Boss knows best“ und im Sinne einer fürsorglichen Belagerung wohlgemeint zu entmündigen, sondern ihn vielmehr in dem zu unterstützen, was unter Berücksichtigung seiner eigenen Willensäußerung und der objektiven Gegebenheiten tatsächlich das Beste für ihn ist. Anders formuliert: Der Mitarbeiter hat bei dem, was gut für ihn ist, durchaus ein Mitspracherecht.

In einem ähnlichen Fall wie dem geschilderten (Todesfall in der Familie) nimmt eine andere Abteilungsleiterin ihre sichtlich traumatisierte Mitarbeiterin tröstend in den Arm, bevor sie sie nach Hause schickt. Das ist gut gemeint, wird jedoch oft als übergriffig empfunden. Einen Mitarbeiter auch in nicht-körperlicher Art und Weise emotional zu trösten ist mit hohem Risiko verbunden, erfordert in solchen Situationen fast schon Psychotherapie- Kenntnisse, wird von Führungskräften nicht erwartet und zählt nicht zu dem, was bei der Arbeit unter „sich kümmern“ verstanden werden kann oder verstanden werden sollte.

Man braucht und sollte den Mitarbeiter in so einer und jeder vergleichbaren Situation nicht emotional aufzufangen (wohl aber zu verstehen): Ein Vorgesetzter ist weder Psychotherapeut noch Ersatz-Vater/Mutter. Es ist des Kümmerns Genüge getan, wenn man ihn nach Hause schickt, damit er die Dinge regeln kann, die zu regeln sind: Eine Führungskraft ist kein Trauma-Therapeut und kein Coach und sollte diesbezüglich auch keine Ambitionen entwickeln – selbst wenn die Versuchung dahingehend groß sein mag.

Man sollte bei solchen und ähnlichen Fällen auch die oft „ganz normal“ weiterlaufende Kommunikation per E-Mail & Co nicht zu regeln vergessen. Denn es kommt durchaus vor, dass die wohlmeinende Führungskraft den Mitarbeiter einfühlsam nach Hause schickt, aber außer Acht lässt, dass in den folgenden Tagen ungezählte Mails denselben Mitarbeiter auf cc halten. Denn schließlich soll der Mitarbeiter komplett eingebunden bleiben im „Informations-Flow“. Dass dieser, vielleicht als Automatismus, vielleicht auch wegen eines schlechten Gewissens gegenüber den Kollegen, immer mal wieder in „seine“ Mails schaut, dabei aber wieder mental komplett in den Arbeitskontext hinein gerät, wird dabei leider oft vergessen.

 

Das Gegenteil von kümmern: Mitarbeiter steht im Regen

Selbst in Unternehmen mit ausgeprägter Silo-Bildung und Wagenburg-Mentalität ist eine Abteilung keine Insel: Ihre Mitarbeiter müssen mit den Mitarbeitern anderer Abteilungen gedeihlich zusammenarbeiten. Das wirft in der Regel zahlreiche Probleme auf, die fast ebenso regelhaft von Vorgesetzten mit den Worten beschieden werden: „Regeln Sie das unter sich. Sie sind alles erwachsene Leute!“ Ganz gleich, wie sehr solche Vorgesetzte von ihren Worten überzeugt sind, von ihren Mitarbeitern wird diese Verantwortungsübereignung meist negativ interpretiert: „Ich kann doch nicht zum Abteilungsleiter der Nachbar- Abteilung gehen und ihm sagen, er solle seinen Mitarbeiter an die Kandare nehmen, damit er für unser Projekt endlich sein längst überfälliges Arbeitspaket abliefert. Das steht mir nicht zu. Nur der Chef kann mit dem Chef einer anderen Abteilung reden!“ Demgemäß erwarten Mitarbeiter im Rahmen einer Führung, die sich kümmert, dass der Vorgesetzte

• Hindernisse ausräumt, deren Beseitigung ihre eigene Kompetenz überschreitet
• jene Ressourcen zur Verfügung stellt, die für eine ordnungsgemäße Ausführung der ihnen übertragenen Aufgaben nötig sind
• in anderen Worten alles bereitstellt oder zumindest bereitzustellen versucht, was sie brauchen, um ihren Job (gut) machen zu können
• Konflikte moderiert oder löst, die ihre Konfliktkompetenz übersteigen
• Entscheidungen trifft, wann sie anfallen (und nicht aussitzt, liegen lässt oder hinaus zögert)
• ihnen bei Angriffen von außen den Rücken stärkt und nicht zulässt, dass Kunden, hö- her gestellte Vorgesetzte oder Abteilungsfremde sie ungebührlich maßregeln
• sich also „vor seine Leute“ stellt
• bei Konflikten nicht automatisch ihnen die Schuld zuweist („sie in die Pfanne haut“), nur um Kunden oder andere Führungskräfte zu besänftigen
• sie bei akuten Problemen nicht im Regen stehen lässt („Kümmern Sie sich darum – da- für werden Sie bezahlt!“), sondern sie bei der Problemlösung unterstützt.

Diese – längst nicht abschließend aufgeführten – Mitarbeiter-Erwartungen erscheinen trivial. Der Vorgesetzte soll seine Mitarbeiter nicht im Regen stehen lassen? Das ist doch selbstverständlich! Ist es eben nicht, wie der geringe Erfüllungsgrad des Begeisterungsfaktors „Fürsorge“ (56 Prozent) erkennen lässt. Das bedeutet: Aus Sicht der Mitarbeiter kümmert sich die Führung zu wenig um sie. Eine Abteilungsleiterin in einem großen Dienstleistungsunternehmen gab uns den Hinweis: „Wenn sich zwei Abteilungsleiter bei einem gemeinsamen Projekt hoffnungslos zerstritten haben, sagt unsere Bereichsleiterin oft: ‚Machen Sie dem Streit ein Ende. Kümmern Sie sich darum!‘ Doch eben weil wir schon hoffnungslos zerstritten sind, erwarten wir, dass nicht wir uns weiter darum kümmern müssen, sondern dass sich unsere Vorgesetzte endlich darum kümmert.“ Wer kümmert sich? Das ist die Frage, die über solide Führung entscheidet.

 

Wer kümmert sich um Zielkonflikte?

Wir haben bereits mehrfach über Zielkonflikte gesprochen. Dass diese beim Thema „Wir kümmern uns um unsere Mitarbeiter“ die zentrale Rolle eines massiven Praxistests für Führungskräfte darstellen, liegt auf der Hand. Mitarbeiter, die zum Beispiel einerseits den Kunden der Firma den „bestmöglichen Service“ angedeihen lassen sollen (was mitunter zu etwas längerer Betreuung pro Kunde führt), andererseits jedoch nach erzieltem Umsatz bezahlt werden (was sich mit der Anzahl der Kundenfälle pro Zeiteinheit steigern ließe), arbeiten täglich weniger im vielgepriesenen System des
„Führens mit Zielvereinbarungen“ als vielmehr in einem fatalen Double Bind (Doppelbindung): Ganz gleich, wie sie es auch machen, sie machen es falsch. Gleichgültig welchem Ziel sie folgen, sie vernachlässigen dabei das andere Ziel. Ein Zielkonflikt entsteht, der den Mitarbeiter nachvollziehbar nicht begeistert, sondern im Gegenteil demotiviert, frustriert, ausbremst, in die innere Emigration und schlimmstenfalls in den Burnout führt.

Diese Auswirkungen haben Zielkonflikte. Wer kümmert sich darum? Wie vom Mitarbeiter erwartet, der eigene Vorgesetzte? Oder erwartet der Vorgesetzte stattdessen, dass seine Mitarbeiter „schon alleine damit zurechtkommen“? Das tun sie nolens volens in vielen Unternehmen tatsächlich – es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Doch das begeistert sie nicht. So gesehen ist solide Führung und die damit verbundene Steigerung der Mitarbeiterbegeisterung eine einfache, wenn auch keine leichte Angelegenheit: Vermeiden Sie Zielkonflikte! Und sollten sie unvermeidbar sein: Moderieren und managen sie Zielkonflikte! Lassen Sie Mitarbeiter damit nicht im Regen stehen. Kümmern Sie sich darum!

 

Brauchen wir dafür wirklich einen neuen Führungsstil?

Die Erwartung der Mitarbeiter, dass Führungskräfte sich um Zielkonflikte kümmern, regt Führungspraktiker zum Einwand an: „Dass Ziele und ihre Klärung Sache des Chefs sind, ist ja wohl klar. Das gehört zur Führungsaufgabe. Dafür brauchen wir keinen neuen Führungsstil!“ Das stimmt theoretisch. Man könnte die Führungsaufgabe, sich um allfällige Zielkonflikte zu kümmern, durchaus unter einen aktuell modischen oder praktizierten Führungsstil subsumieren. Rein theoretisch. Rein praktisch jedoch wird diese Einordnung in der real gelebten Führungspraxis eben nicht in ausreichendem Maße praktiziert. Bei Zielkonflikten fühlen sich viele Mitarbeiter nach wie vor im Regen stehen gelassen: „Niemand kümmert sich darum!“ Wenn das Kümmern bei den etablierten Führungsstilen zu kurz kommt, muss sich eben die solide Führung des Kümmerns annehmen.

 

Erfolg ist kein (unbedingtes) Kriterium

Insbesondere ziel- und erfolgsorientierte Führungskräfte legen ihr vordringliches Leistungskriterium häufig und meist unbewusst auch an die Führungsaufgabe an, sich um ihre Mitarbeiter zu kümmern. Wir hören dann oft aus der Praxis mit dem Unterton der Enttäuschung: „Eigentlich hätte ich mich darum kümmern müssen, dass meine Leute eine zusätzliche Schulung für die neue Software bekommen. Ich rede mir höheren Orts seit Tagen den Mund fusselig, aber die IT-Abteilung bremst mich hinten und vorne aus.“ Führungskräfte, die mit der soliden Führung vertraut sind, bescheinigen sich daraufhin oft: „Damit führe ich dann wohl unsolide.“ Sie reagieren positiv überrascht, wenn wir ihnen sagen: Keineswegs! Nicht nur aus unserer Sicht, sondern auch im Urteil der eigenen Mitarbeiter.

Denn im Gegensatz zur landläufigen Annahme ist „sich kümmern“ nicht an das absolute Erfolgskriterium gebunden. „Bei großen Dingen genügt es auch, sie gewollt zu haben“, wie es der römische Dichter Properz formuliert. Die Mitarbeiter halten sich überwiegend an diesen Sinnspruch. Sie sind nicht naiv. Wo wegen der gegebenen Umstände objektiv nichts zu holen ist, erwarten sie vom eigenen Vorgesetzten nicht, dass er Wunder wirkt und übers Wasser wandelt. Aber sie erwarten recht wohl, dass er „sich kümmert“, also sichtbare und sinnvolle Anstrengungen unternimmt, alles in seiner Macht Stehende tut, sich nicht drückt oder sich mit Floskeln aus der Affäre stiehlt wie: „Da ist nichts zu machen. Das brauche ich gleich gar nicht zu versuchen.“

 

Wer sich kümmert, nimmt sich der Dinge an, derer sich angenommen werden muss – er muss sie jedoch nicht zwingend und ausnahmslos (was ohnehin unrealistisch ist) zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Wer unter Erfolgsdruck steht, kümmert sich gemeinhin weniger um das, worum er sich kümmern sollte – um nicht zu „scheitern“ und am vermeintlichen Misserfolg gemessen zu werden. Sobald Führungskräfte erfahren, dass es diese Art von Misserfolg beim Sich-Kümmern nicht gibt, empfinden sie das als so erleichternd, dass sie sich (wieder) stärker kümmern.

 

Mitarbeiter erwarten einen Chef, der Chef ist, und nicht Freund

Was zum Thema „sich um seine Mitarbeiter kümmern“ gesagt wurde, könnte zur Schlussfolgerung verleiten: Ein Chef, der sich wirklich gut um seine Mitarbeiter kümmern möchte, sollte am besten eine Coaching-Ausbildung mitbringen. Dem widerspricht das empirische Studienergebnis: Die „Führungskraft als Coach“ rangiert ganz am Ende der Tabelle auf Rang 20 von 22. Der Chef als Coach wird überwiegend nicht gewünscht. Mitarbeiter wollen ihren Chef nicht als Coach, Freund, Kumpel, Vertrauten, emotionalen Puffer, Extra-Familienangehörigen, Beichtvater oder als Bester-Freund-Ersatz. Indirekt kann das auch als Absage an ein überzogenes Verständnis von Work-Life-Balance gewertet werden.

Dieses (überzogene) Verständnis plädiert häufig für eine Balance zwischen Arbeit und
„Leben“ in einer Form, in der auch die Arbeit in einer familiären Atmosphäre („Wir sind alle eine große, glückliche Familie!“) stattfinden soll. Dabei wird übersehen, dass viele Menschen ihre Arbeit als willkommene Abwechslung vom auf seine ganz eigene Art oft als belastend empfundenen Familien- und Beziehungsalltag betrachten, ausüben und schätzen. Ein Coach könnte dafür sorgen, dass man sich auch bei der Arbeit „ganz wie zu Hause“ fühlt – was viele Familienstress- und Beziehungskisten-Geschädigte nicht gutheißen, sondern geradezu abschrecken würden. Irgendwann ist auch mal gut, und man braucht gelegentlich eine Verschnaufpause vom Familien- und Beziehungsalltag. Insoweit unter Work-Life-Balance eine Fusion von Arbeit und Leben verstanden wird, erfährt diese durch den empirischen Befund eine deutliche Absage.

Doch nicht nur Mitarbeiter finden einen coachenden Chef nicht unbedingt erquicklich. Auch Aufsichtsräte und/oder Anteilseigner trennen sich gelegentlich sogar von Vorständen, die bis zu ihrem Abschied allseits beliebt waren, weil sie ihre CEO-Rolle nicht über- wiegend direktiv, sondern moderierend auslegten – und genau das entpuppt sich in disruptiven Zeiten oft als „Kündigungsgrund“. Denn wenn es hart auf hart kommt, wirkt einer, der immer erst allen zuhört und sich angestrengt am bemühten Ausgleich aller Interessen orientiert, leider oft etwas schwach, dem turbulenten Zeitgeschehen nicht gewachsen. Disruptive Zeiten erfordern eben häufig auch, dass die Führungskraft klare Kante zeigt, eine Linie vorgibt, die Richtung weist und unpopuläre Entscheidungen hin und wie- der kraft Amtes und gegen die Partialinteressen mancher Betroffener „durchdrückt“. Ein Moderator, Mediator, Prozessbegleiter oder Coach kann, darf und will das nicht – ganz gleich, ob er Chef ist oder nicht.

 

Die Stelle, an der falsch abgebogen wurde

Die repräsentative empirische Absage an den „Chef als Coach“ ist angesichts der Popularität des Coaching-Konzeptes keine Lappalie. Mitarbeiter wünschen nicht, was Medien bejubeln? Das bedarf der Erläuterung.
Erhellend wirkt eine Betrachtung der Coaching-Historie. Als Coaching sich vor Jahren in der Unternehmenspraxis verbreitete, kamen anfänglich meist nur Topführungskräfte in dessen Genuss. Wohlgemerkt: Die Rede ist hier von Coaching durch einen externen Coach. Wegen dieses Privilegs und wegen der unbestreitbaren Wirkung und Attraktivität von externem Coaching setzte sich mit den Jahren immer mehr und immer stärker durch, dass auch nachgeordnete Ebenen in den Genuss dieses fraglos wirksamen Instruments der beruflichen und persönlichen Entwicklung kommen sollten – bis hinunter auf die Ebene der operativen Mitarbeiter. Viele Unternehmen unterhalten inzwischen Coaching-Pools mit externen und internen (hauptamtlichen und ausgebildeten) Coaches. Die Coaching-Idee kaskadierte mit den Jahren sozusagen von ganz oben nach ganz unten.

Vom Ende dieser Kaskade bis hin zum „Chef als Coach“ war es da nur noch ein kleiner Schritt. Man wollte das Gute so weit wie möglich verbreiten. Oder wie es in Amerika heißt: Everything worth doing is worth overdoing. Dabei wurde Coaching letztendlich übergeneralisiert, jenseits seiner Wirkungsgrenze ausgedehnt. Man hat es übertrieben. Wie stark übertrieben, zeigt die empirische Ablehnung des Chefs als Coach durch diese repräsentative Befragung: Der „einfache“ Mitarbeiter wünscht nicht vom Chef gecoacht zu werden. Einmal ganz vom häufig übersehenen Umstand abgesehen, dass die meisten Vorgesetzten über keine Coaching-Ausbildung verfügen (warum sollten sie auch?). Wobei unstrittig ist, dass besser führt, wer weiß, wie er und andere Menschen ticken (Teil einer guten Coaching-Ausbildung).

Einen in diesem Sinne unheilvollen Einfluss hatte und hat auch das informelle Benchmarking von Startups. Beim Betrachten der sehr erfolgreichen Exemplare dieser Spezies (die weitaus zahlreicheren Business Flops werden geflissentlich ignoriert) fällt durchaus eine oft komplett andere Gestaltung der Chef-Rolle auf. Der typische Startup-Chef verströmt nicht die distinktive Aura der Macht, sondern gibt sich als Primus inter Pares, der auch mal seine Kumpels coacht, wenn diese die Köpfe hängen lassen, weil zum Beispiel immer noch kein potenter Investor für ihren genialen Business Case gefunden wurde. Oder wie es die Geschäftsführerin eines großen Mittelständlers ausdrückt: „Wenn du Startups besuchst, merkst du in der ersten Stunde gar nicht, wer hier der Chef ist!“ Denn der Chef ist nicht „Chef“, sondern Best Buddy und kommt mit dem distinktionslos gleichen Kapuzen-Pulli zur Arbeit wie ein Großteil seiner Mitarbeiter/Kumpels.

Ein verführerisches Konzept – dessen Übertragbarkeit auf Nicht-Startups und die Wünsche von Nicht-Startup-Mitarbeitern niemand ernsthaft überprüfte.
Dass es in vielen Unternehmen, Organisationseinheiten, Abteilungen und Projektgruppen jedoch durchaus Mitarbeiter geben mag, die sehr wohl vom eigenen Vorgesetzten Ersatzvater-Qualitäten im Sinne eines verspäteten Reparenting (Nach- oder Neubeelterung, ein Begriff der Psychotherapie) erwarten, ändert dabei nichts am empirisch- repräsentativen Tatbestand: Die meisten Mitarbeiter erwarten am Arbeitsplatz keine Ersatzeltern. Was mit jenen vereinzelten Mitarbeitern geschehen soll, die vorgesetzte Überväter oder Übermütter durchaus am Arbeitsplatz erwarten, ist ein anderes Thema und ein weites Feld, das den Rahmen dieses Buches sprengen würde.

 

Abschließende Würdigung des coachenden Chefs

Eine schlagende Begründung für die Ablehnung des Chefs als Coach durch die Mitarbeiter lieferte, wie könnte es anders sein, eine gestandene Praktikerin aus dem Middle Management eines Konzerns. Sie führte aus: „Auch in Ehe oder Partnerschaft kann der Partner nicht Beziehungspartner und gleichzeitig Beziehungscoach sein – oder Familientherapeut. Das kann er und das will er, wenn er ehrlich ist, überhaupt nicht leisten und das wäre auch ein unüberwindlicher Interessenkonflikt. Kein ‚Coachee‘, Ehe- oder Beziehungspartner wüsste zu keinem Zeitpunkt: Spricht er nun schon als Coach oder noch als Beziehungspartner zu mir? Die Verwirrung wäre komplett, beide Partner völlig überfordert und die Kommunikation kaputt.“ Das bringt es auf den Punkt.
Und mit diesem Punkt findet der Einzug des zutiefst Privaten, Familiären via Coaching in den Berufsalltag nicht statt. Der coachende Chef begeistert nicht. Die meisten Mitarbeiter erwarten nicht, dass der Chef ehrlich und mit hörbarem, authentischem Interesse fragt und eine ausführliche Antwort erwartet: „Wie war Ihr Wochenende?“ Sie wollen das nicht und profitieren nicht davon.

Mithin sehen die meisten Mitarbeiter einen essenziellen Unterschied zwischen „Chef kümmert sich“ und „Chef coacht“. Der Chef muss zum Beispiel nicht die traumatische Kindheit seines Mitarbeiters aufarbeiten – was ein externer Coach, beispielsweise aus dem Coaching-Pool des Unternehmens, ganz sicher aus gegebenem Anlass tun muss und tun wird.

Schließlich taucht eine extrem folgenschwere, jedoch häufig auftretende Variante des angesprochenen Interessenkonflikts zwischen Chef und Chef als Coach meist dann auf, wenn es um Karrierefragen geht. Ein verantwortungsvoller externer Coach könnte und wird zu gegebenem Zeitpunkt durchaus sagen (weil er das beste Interesse seines Coachees verfolgt): „Entwickeln Sie sich mittelfristig aus diesem Unternehmen/Bereich heraus. Da haben Sie absehbar keine Zukunft.“ Hier liegt die Crux: Ein Chef als Coach könnte und würde das schwerlich sagen, weil er heilfroh ist für den mittlerweile überqualifizierten Mitarbeiter. Ausgenommen ist hier der eher selten vorzufindende Chef, der nicht seine eigenen Interessen im Blick hat, sondern dem es ein Anliegen ist, seinen Mitarbeiter bestmöglich weiter zu entwickeln.

Der „durchschnittliche“ Chef kann und wird dagegen so einen herausragenden Leistungsträger nicht so ohne weiteres gehen lassen, ja tunlichst nicht einmal darauf ansprechen und damit durch Unterlassung seine weitere Karriere sabotieren. Nicht weil er die Karriere des Mitarbeiters ausbremsen möchte, sondern weil der Chef ohne diesen ausgesprochenen Leistungsträger seine eigenen Leistungsziele absehbar nicht erreichen kann. Auch Vorgesetzten ist verständlicher- und legitimerweise Jacke näher als Hose – seien sie nun „bloß“ Chefs oder coachende Chefs.

Allein diese Überlegung weist auf eine einleuchtende Alternative hin: Anstatt den Chef zum Coach zu machen, könnte und müsste die entsprechende Funktion der Personalentwicklung gestärkt werden. Denn sie kann Karrierepfade einrichten, anbieten und pflegen und die Mitarbeiter dafür qualifizieren – auch und gerade über die Grenzen ihrer aktuellen Abteilung hinaus. Ein Chef, der coacht, ist dafür weder nötig noch gewünscht.

 

Solide führt, wer auhentisch führt
Der authentische Chef

Mitarbeiter wünschen sich solide Führung. Zu diesem Wunsch zählt auch die Erwartung, von ihren Führungskräften authentisch geführt zu werden. Wie bereits erörtert  ist authentische Führung weniger ein Führungsstil als eine innere Überzeugung, Einstellung, Werthaltung; neuhochdeutsch ein Leadership Mindset. Der authentische Vorgesetzte

• tut, was er sagt („Practice what you preach“).
• lässt seinen Worten Taten folgen.
• hält, was er verspricht.
• hängt im Umgang mit seinen Mitarbeitern sein Mäntelchen nicht nach dem Wind.
• fordert von seinen Mitarbeitern nur das, was er selbst zu leisten bereit ist.
• geht mit gutem Beispiel voran.
• verhält sich kongruent zu den eigenen und den Werten des Unternehmens.
• verfolgt langfristig gleichbleibende Werte und wechselt sie nicht opportunistisch.

Erreicht die Zahl der authentischen Führungskräfte die kritische Masse, wird auch die Firmenkultur authentisch – eine attraktive und in einigen Unternehmen bereits realisierte Perspektive. Authentizität wird quasi zum sich selbst reproduzierenden System, wird kulturprägend.

Wobei wir vorab noch ein häufiges Missverständnis klären sollten. „Authentisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang eben nicht das, was viele Dating-Sites, ihre millionenschwere TV-Werbung und viele Dating-Ratgeber suggerieren: „So wie du bist, bist du klasse! Gib dich einfach so wie du bist!“ Wenn „so wie du bist“ jedoch zum Beispiel ein wenig empathischer, überempfindlicher und andere ständig verbal entwertender Egozentriker ist, führt dieses Verständnis von „Authentizität“ absehbar weder zu einem zweiten Date noch zu solider Führung. Deshalb verstehen wir hier unter Authentizität grob die oben aufgeführten Attribute und eben keine schonungslose Selbstentblößung der eigenen charakterlichen Schwächen.

Ein Chefärztin erzählte uns zum Beispiel: „Wenn ich einem Patienten eine Krebs- Diagnose mitteilen muss und der flippt total aus, dann könnte ich manchmal aus der Haut fahren. Mein berufliches Ich und die gesellschaftliche Norm erwarten jedoch, dass ich Empathie zeige und ihn beruhige.“ Auch das ist Authentizität im beruflichen Kontext: Authentizität ist auch das, was innerhalb bestimmter Normen akzeptiert wird.

Doch selbst diese relativ abstrakte Aufzählung der Attribute von Führungsauthentizität könnte dazu verführen, sich voreilig und fälschlich vollinhaltlich zur Authentizität zu be- kennen: „Dann bin ich ja schon total authentisch!“ Deshalb wollen wir im Folgenden authentisches Führungsverhalten nicht nur in der abstrakten Aufzählung, sondern im ganz konkreten Führungsalltag beleuchten.

 

Der Grund, weshalb Authentizität nicht unbedingt populär ist

Das folgende Beispiel ist ein Klassiker, der dem Wirtschaftslaien meist etwas überzeichnet erscheint, jedoch recht häufig in der Unternehmenspraxis, wie wir sie beobachten, vorkommt: Der Chef verhängt im Mai eine Kostensenkung und genehmigt sich im November einen stattlichen oder den üblichen Bonus (während seine Mitarbeiter am Nötigsten sparen müssen oder sogar Lohnabstriche hinnehmen mussten). Einhelliges Urteil (der Mitarbeiter): Der Chef verhält sich nicht authentisch. Er verlangt von seinen Mitarbeitern, dass sie den Gürtel enger schnallen, genehmigt sich jedoch selber ein sattes Bonus-Festmenü.

So etwas löst den Authentizitäts-Alarm der Mitarbeiter aus – und dieser Alarm aktiviert sich nicht nur bei einer derart deutlichen Divergenz zwischen proklamiertem Anspruch und eigenem Verhalten. Der Alarm klingelt schon in weitaus weniger spektakulären Situationen. Wenn mitten in laufenden Sparprogrammen oder inmitten anderer verhängter Restriktionen, wegen denen Mitarbeiter oft aufs Nötigste verzichten müssen, Vorgesetzte dann wie selbstverständlich im – gar nicht unbedingt exaltierten – Firmenwagen vorfahren oder zu einem wichtigen Management-Meeting um den halben Globus fliegen. Die faktische Notwendigkeit solcher Fernreisen ist das Eine, ihre Wirkung auf die Mitarbeiter und damit die Authentizität von „Parolen & Programmen“ ist das Andere. Oder wie Watzlawick sagte: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Jede Handlung hat per se eine kommunikative Wirkung. Und meist sind es die handlungsinhärenten Widersprüche, die sehr viel leichter ins Auge fallen als konsistentes Handeln. Authentizität hat eine Handlungskomponente. Wer sie im Auge behält, wirkt als Chef authentisch.

So häufig solche Beispiele mangelnder Authentizität zu beobachten sein mögen: Sie sind noch kein Beleg dafür, dass Chefs jene Karrieristen sind, als die sie in den sozialen Medien oft dargestellt werden. Das eben geschilderte typische Beispiel für eine eklatante Divergenz zwischen Preach und Practice erklärt vielmehr, warum es auch in anderen Be- langen im Führungsalltag häufig an Authentizität mangelt: Authentizität ist anstrengend. Es ist für keinen (nicht nur für Chefs) sonderlich erquicklich, auf einen Bonus zu verzichten, bloß um auf andere authentisch zu wirken (die Paradoxie ist intendiert).

Wer wegen dieser Pein lieber nicht tut, was er sagt: Wer würde auf ihn den ersten Stein werfen wollen? Wer hat sich von diesem Schmerz nicht selbst schon vom rechten Tun abhalten lassen? Bezeichnenderweise hält dieser Schmerz des rechten Handelns jedoch etliche Führungskräfte nicht davon ab, trotzdem authentisch zu führen. Sie nehmen die oft damit verbundene persönliche Belastung, den Aufwand und die Anstrengung ganz im Gegenteil aus aktivem eigenem Beschluss auf sich, da aus ihrer Perspektive Authentizität zu ihrer persönlichen Entwicklung und Reife (und zu ihrem langfristigen persönlichen und beruflichen Erfolg) mehr beiträgt als Geld – selbstverständlich erst jenseits eines gewissen Sättigungspunktes, ab dem der Grenznutzen des Geldes rapide abnimmt.

Zur Erinnerung: Die meisten Führungskräfte verdienen nicht schlecht; also (weit) jenseits dieses Sättigungspunktes. Wie anstrengend authentische Führung im Führungsalltag empfunden werden kann, zeigen auch Beispiele aus dem Kulturwandel von Firmen. Derzeit wollen viele Unternehmen etwa „agil und flexibel“ werden, betreiben einen entsprechenden Kulturwandel und werden dann via Flurfunk von der vielbeschworenen Basis mit Meldungen konfrontiert wie: „Da oben reden sie davon, dass wir agiler werden müssen, aber wenn ich im Seminarraum ein neues Flipchart für 65 Euro brauche, muss ich dafür immer noch drei Unterschriften einholen, was regelmäßig Wochen dauert. Ist das etwa agil?“ Das ist es zweifellos nicht.

Authentisch ist es ebenfalls nicht: Die Hierarchie fordert Agilität, verhindert diese jedoch selbst. Warum? Ganz einfach: Um auch mit der Forderung nach mehr Agilität authentisch zu sein, müssten ein bis zwei Verantwortliche, deren Unterschrift bislang selbst für Bagatellbestellungen nötig war, auf diese Status-Distinktion verzichten – das schmerzt (manche). Es fällt mithin leichter, zu fordern, was man selbst nicht zu leisten willens ist.

Je heikler die verhandelten Themen, desto gravierender ist oft die von den Mitarbeitern wahrgenommene Beschädigung der Führungsauthentizität, zum Beispiel bei der Gleichstellung: Das Unternehmen gibt große Summen für die Frauenförderung aus, während die Basis immer wieder von diskriminierenden Kommentaren einiger Vorgesetzten berichtet, die hinter vorgehaltener Hand abgegeben werden.
Angesichts der Fülle der authentizitätsbeschädigenden Anekdoten des Berufsalltags könnte man schlussfolgern: Authentizität ist ein zentrales Problem der aktuellen Führungskultur. Nichts spricht gegen diese Schlussfolgerung – außer der Best Practice, die in einigen Unternehmen heute bereits praktiziert wird. Man kann als Führungskraft durchaus seinen eigenen Worten eigene Taten folgen lassen. Das macht zugegebenermaßen mehr Aufwand, erzeugt jedoch auch mehr Begeisterung – bei Mitarbeitern wie Chefs. Authentizität ist nicht aufwandsneutral, lohnt sich jedoch für alle Beteiligten.

 

Ingo Hamm/Wiebke Köhler: „Wettbewerbsfaktor Mensch. Wie man durch Mitarbeiterbegeisterung und moderne Führung Mehrwert schafft.“ – Spinger Gabler Verlag 2020, 234 Seiten, 37,99 Euro

 

Kontextvariabilität vs. Authentizität

Bei der anekdotischen Diskussion wenig authentischen Führungsverhaltens könnte der Eindruck entstehen, dass die Führungskultur vielerorts dezidiert unehrlich ist. Das wäre eine voreilige Schlussfolgerung, da Unehrlichkeit in gewissem Maße Absicht unterstellt. Die häufig anzutreffende eingeschränkte Authentizität im Management liegt eher an einer Besonderheit des Erwartungsniveaus: Der archetypische Manager wird nicht (in erster Li- nie) für seine Authentizität bezahlt, sondern danach, in jeder denkbaren und undenkbaren Situation so flexibel, kontextvariabel und situationsangepasst wie möglich zu handeln und zu managen, also zum Beispiel durchaus heute mit vollen Händen Geld auszugeben, ob- wohl er gestern noch Kostendisziplin predigte – schlicht weil sich über Nacht die Gegebenheiten oder die Prioritäten geändert haben. „Opportunistisch“ ist in diesem Zusammenhang kein abwertender Begriff, sondern tragendes Element seiner Job Description. Opportunistisch im Sinne von maximal opportun, also der konkreten Situation bestangemessen.

Ein Manager tut das, was in der gegebenen Situation das Beste (für Ziele und Strategie) ist – auch wenn er eben noch etwas völlig anderes verkündet oder geglaubt hat. Das ist seine vorrangige Aufgabenstellung – und nicht Authentizität. Dass es im Spannungsfeld zwischen sach- und zieldienlichem Opportunismus und begeisternder Authentizität zu einem geradezu chronischen und notorischen Ziel- und Verhaltenskonflikt kommen muss, ist daher eine gegebene Rahmenbedingung allen wirtschaftlichen (und anderweitigen) Handelns. Dieser Konflikt enthebt unter rationaler Betrachtung jedoch keine Führungskraft der reizvollen und begeisternden Herausforderung, trotzdem oder gerade deshalb keine dieser beiden Erfordernisse über Bord zu werfen, sondern beide in einen fallweisen und fortlaufenden Interessenausgleich zu bringen. In klaren Worten: Opportunismus verhindert keine Authentizität.

Sich unter der Bürde dieser zweidimensionalen Aufgabenstellung (zweckdienlicher Opportunismus vs. begeisternde Authentizität) im Führungsalltag an feste Werte zu halten, ist trotzdem keine Selbstverständlichkeit – und fast schon als dritte Dimension im sehr komplizierten Handlungsraum einer Führungskraft zu sehen. Sich situationsübergreifend gemäß eigener Überzeugungen (also authentisch) zu verhalten, impliziert jedoch, dass man so eine handlungsleitende Überzeugung zunächst einmal gewonnen haben muss. Im gelebten Berufsalltag ist das nicht die Regel, weshalb in typischen Situationen auf der operativen Ebene auch ständig Fragen auftauchen und von den Handlungsträgern gestellt werden wie: „Sind wir als Unternehmen angesichts der Art, wie wir unsere in der Fertigung anfallenden Giftstoffe entsorgen, nun nachhaltig oder nicht?“ Oder: „Kommt auch dieser Kunde an erster Stelle oder sind es in diesem Fall doch die Kosten?“

Vorbildlich authentisch gemanagte Unternehmen sind auch deshalb so authentisch, nicht weil sie a priori so „ehrlich und anständig“ wären (sie sind es mitunter), sondern weil sie jene Werte, die grundlegend für ihre Authentizität sind, in den alltäglich sich ergeben- den Situationen ad hoc diskutieren und abklären, indem zum Beispiel der Vorgesetzte, Meinungsführer oder ein Mitglied der Geschäftsleitung klärend ausführt: „Wir sind und bleiben prinzipiell uneingeschränkt nachhaltig – doch insbesondere für unsere Giftstoffe gibt es aktuell noch keine machbare Lösung, die nachhaltiger wäre als die aktuelle. Aber wir sind dran, eine nachhaltigere Entsorgung zu entwickeln.“ Oder: „Auch wenn wir bei diesem Kundenauftrag draufzahlen, kommt der Kunde immer noch an erster Stelle – weil wir das langfristig wieder reinholen.“

Authentizität in der Führung wird daher nicht von einer publikumsträchtigen und ein- maligen Proklamation hehrer Werte determiniert, sondern von der permanenten situationsweisen Abklärung einmal proklamierter Werte parallel zum täglichen Einerlei des Führungsalltags. Individualpsychologisch formuliert: Bei der Führungsauthentizität geht es darum, eigene Überzeugungen zu entwickeln; Vorstellungen, für die man eintreten kann. Herauszufinden, wofür man stehen möchte – und das dann auch zu leben und im fortlaufenden Diskurs zu klären, was den schwierigeren Part darstellt.
So kann man nicht „100 Prozent Qualität“ fordern – und dann gewisse Schlampereien in Fertigung und Kundenbetreuung unkommentiert durchgehen lassen oder gar im Rahmen von „Aus-Fehlern-lernen“-Initiativen als positiven Quell für Innovation verbuchen; auch wenn das der bequemere Weg wäre.

Man kann nicht Nachhaltigkeit fordern und dann beide Augen zudrücken, wenn Müll im Graubereich entsorgt wird; auch wenn dies bedeutend einfacher wäre: Authentizität ist unbequem. Diese Unbequemlichkeit wird von Novizen der Authentizität oft als „Aufwand, größtenteils lästig“ deklariert. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass geübte Praktiker der Authentizität diesen Frame, diese geistige Kategorisierung nicht teilen. Sie reframen den vermeintlichen Aufwand vielmehr als interessante Herausforderung, deren Meisterung ein unvergleichliches Hochgefühl verleiht, langfristige bessere Ergebnisse bringt – und die Mitarbeiter begeistert. Authentizität lohnt sich für alle Beteiligten.

 

Die im Rahmen der Studie befragten Mitarbeiter und Führungskräfte vermelden ein Manko authentischer Führung, einen Mangel an werteorientiertem Verhalten. Da erhebt sich die Frage: Welche Werte sind gemeint?

Denn in nahezu jedem Unternehmen finden sich Führungskräfte (und Mitarbeiter), die sich in früheren Tagen absolut authentisch verhielten – und dafür sanktioniert wurden. Weil ihre individuelle Authentizität mit den kollektiv akzeptierten oder auch nur vorherrschenden Werten des Unternehmens oder ihrer direkten Vorgesetzten in Konflikt gerieten. Wer zu seinen eigenen Werten stand, wurde als unbotmäßiger Kritiker der Firmenwerte (miss)verstanden und entsprechend gemaßregelt. Also lernten die Gemaßregelten in unter- schiedlichem Ausmaß, weniger Wert auf persönliche Authentizität zu legen und ihr Mäntelchen fallweise nach dem Hierarchie-Wind zu hängen.

Sie gingen dazu über, regelmäßig auch das von oben herab Propagierte nachzubeten, um nicht unangenehm aufzufallen. Paradoxerweise wird auch deshalb echte Authentizität so stark nachgefragt: Die Befragten haben die Nase voll von diesem taktischen Verhalten und vom begleitenden nichtssagenden Gerede, das kaum ausgesprochen, bereits vom beobachtbaren Führungsverhalten konterkariert wird. Leider wirkt der Umstand, dass die Basis die Nase voll davon hat, in der Regel nicht sonderlich authentizitätsfördernd.

Denn je höher ein Vorgesetzter in der Hierarchie aufsteigt, desto größer wird auch seine (berechtigte) Furcht vor dem nächsten Shitstorm im Intranet, in internen Mails und Meetings, vor den Kontrolleuren der Political Correctness, der sozialen Hysterie, vor dem Top-Führungskräftekreis und der modischen Skandalisierungs- und Empörungskultur, sollte sich tatsächlich einmal ein Top-Entscheider trauen, den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit die ungeschminkte und oft harte Wahrheit authentisch zu kommunizieren.

Also flüchtet man sich lieber in aalglatte Artikulation und sagt, was die Leute hören wollen, auch wenn die Authentizität dabei verloren geht. Was wie ein Dilemma, ein fataler Trade- off zwischen Authentizität und Aalglatt-Artikulation erscheint, wird von Führungskräften, die trotzdem oder gerade deshalb um Authentizität bemüht sind, als spannende Aufgabe, wenn nicht Gebot der Stunde aufgefasst. Oder wie es die Vertriebsleiterin eines Kosmetik- Unternehmens formuliert: „Ich werde nicht dafür bezahlt, Beliebtheits-Wettbewerbe zu gewinnen. Manchmal ist die Wahrheit hart. Aber wer die Traute hat, sie auszusprechen, ist nicht nur authentisch, sondern wird dafür auch belohnt. Lügen funktionieren immer nur kurzfristig. Langfristig honorieren die Menschen es, wenn man ehrlich zu ihnen ist.“ Wie es unsere Studie belegt.

 

Alles Trainingssache

Anzunehmen, dass Führungskräfte qua Beschluss authentisch(er) führen würden, sobald sie erkennen, wie sehr sich ihre Mitarbeiter das wünschen, ist eine heroische Annahme. Selbst wenn Führungskräfte sich nicht aus unternehmenspolitischem Erfordernis ein nebulöses Vokabular angewöhnt haben, von dem sie nun entwöhnt werden müssen: Authentisch zu kommunizieren ist meist so ungewohnt, dass schlicht die Worte, die Musterformulierungen und die Übung dafür fehlen. Und fehlen diese, wirken die spontanen Authentizitätsäußerungen meist auch so: spontan, ungelenk und etwas verunglückt. Diesbezüglich die Artikulation der Führungskräfte in jedweder Form (Workshop, Coaching, E-Learning) zu trainieren, ist eine normale und gebotene Angelegenheit und sollte als solche betrachtet und behandelt werden.

 

Solide Führung nutzt die Kraft der klaren Strategie

Das große Strategie-Tabu

Mitarbeiter wollen solide geführt werden. Zu diesem Wunsch zählt auch, dass sie Klarheit über die Strategie ihres Unternehmens erhalten wollen – denn diese Klarheit begeistert sie. Wir haben diskutiert, welche konkreten Maßnahmen zur Strategieklärung beitragen und wie damit die Begeisterung der Mitarbeiter gesteigert werden kann. Sobald wir den Begeisterungsfaktor „klare Strategie“ unter dem „Super-Faktor“ der soliden Führung subsumieren, ergeben sich jedoch weiterführende Aspekte, die wir an dieser Stelle ergänzen und vertiefen möchten, darunter zum Beispiel das Strategie-Tabu.

Das Thema „Strategie“ unterliegt in der realen Wirtschaft abseits der Lehrbuch- Wirklichkeit einem gewissen Tabu. Selbst wenn die Strategie eines Unternehmens, wie bei vielen Konzernen, mittels Vierfarb-Hochglanz-Broschüre kommuniziert wird: Im realen Führungsalltag wird das Thema „Strategie“ teils bewusst, teils unbewusst (das Dringende verdrängt das Wichtige) häufig tabu-artig vermieden, um keine unangenehmen Strategie- fragen beantworten zu müssen. Bei unseren Workshops stellen wir zwei dieser Fragen dennoch des Öfteren und bitten jeweils ums Handzeichen:

• Wer von den Anwesenden hat in seinem Unternehmen eine dokumentierte und kommunizierte Strategie? Ein erstaunlich großer Anteil der Teilnehmer hebt die Hand nicht, wobei dieser Anteil quer über alle Unternehmensgrößen verteilt ist (mit Ausnahme von Konzernen, die meist eine ganze Strategieabteilung oder einen Strategiestab vorhalten).
• Ist bei jenen, die auf die erste Frage hin die Hand gehoben haben, diese Strategie auch allen Führungskräften und Mitarbeitern bekannt und verstehen diese sie? Etliche der ohnehin mittelmäßig vielen erhobenen Hände gehen wieder nach unten.

Insgesamt bleiben also jede Menge Hände unten, wenn es um die Strategie des eigenen Unternehmens geht. Das ist für alle Anwesenden im Workshop oder Seminar eine unangenehme Offenbarung. Etwas, das die Lehrbuch-Literatur als Selbstverständlichkeit, wenn nicht gar als conditio sine qua non darstellt, ist in Teilen der Wirtschaftspraxis weniger häufig als man erwartet hätte. Der geneigte Beobachter bekommt das bei Praxis-Exkursionen auch unverblümt zu hören.

 

Die Basis ist in ihrer Artikulation erfahrungsgemäß wenig zimperlich. Wir hören häufig: „Ehrlich gesagt: Bei uns weiß keiner so genau, wo es langfristig hingehen soll.“ Oder:
„Der letzte Vorstand hat den Konzern dezentralisiert, der aktuelle zentralisiert wieder – wohin es gehen soll, ändert sich bei uns je nach Wetterlage.“ Oder auch: „Im Prinzip wissen wir nicht wirklich, wofür unser Unternehmen steht. Wir machen halt jeden Tag unsere Arbeit. Für mehr werden wir auch nicht bezahlt.“ Begeistert klingt das nicht.

Eher im Gegenteil. Deshalb ist eine klare Strategie auch nicht nice to have, sondern ein bedeutender Begeisterungsfaktor. Es begeistert jeden halbwegs wachen Menschen, wenn er weiß, wofür das eigene Unternehmen steht und zu welchem großen Ganzen er als Einzelner wertschöpfend beiträgt – eine nachvollziehbare, fast schon triviale Erkenntnis. Man übersieht dabei leicht, dass diese Trivialität im Unternehmensalltag leider nicht vollflächig, ja nicht einmal großflächig realisiert ist. In vielen Unternehmen besteht ein Strategiedefizit, das unweigerlich ein Begeisterungsdefizit nach sich zieht. Solide ist das nicht.

 

Wofür wir stehen

Manchmal fallen Äußerungen wie die eben zitierten selbst dann, wenn im betreffenden Unternehmen eine Strategie formuliert und dokumentiert ist – was offenbar für ein grundlegendes strategisches Verständnis an der Basis nicht ausreicht: Eine Strategie darf nicht nur formuliert und dokumentiert werden. Sie muss auch disseminiert und kommuniziert werden. Und das weitaus öfter als der Durchschnitt der Führungskräfte unterstellt: Einmal ist keinmal. Oft werden wir bei Beratungen und in Workshops gefragt: „Wie oft und lange müssen wir denn über die Strategie reden, bis sie dem Mitarbeiter klar ist?“ Die logische Antwort: So lange, bis sie ihm klar ist. So lange – und sollte es Monate dauern (was es in der Regel tut) – bis die komplette Belegschaft (oder zumindest eine kritische Masse) die Strategie kennt, also weiß, wofür das eigene Unternehmen steht. Wobei „Kenntnis“ und „Wissen“ nicht gleichzusetzen sind mit „Verstehen“.

Stellt man als Vorgesetzter, Berater oder Prozessbegleiter die Verständnisfrage („Was bedeutet die Strategie in Ihren eigenen Worten?“), erntet man oft genug hilflose Versuche bis ganz erstaunliche und nicht selten unfreiwillig komische Fehlinterpretationen. Das „Buch der fehlinterpretierten, hochfliegenden Strategien“ wäre sicher ein Bestseller – man erinnere sich an die damals überaus populäre TV-Show „Dingsda“, bei der Kinder Begriffe der Erwachsenenwelt auf so überragend wie unfreiwillig komische Art und Weise erklärten. Wobei die von der Belegschaft angestellten Interpretationen der Unternehmensstrategie starkes Potenzial zu ähnlicher Erheiterung versprechen: Zuweilen interpretieren sie das genaue Gegenteil des strategisch Intendierten in die Strategie hinein. Das wäre als reines Sprachphänomen (das Missverständnis ist der Regelfall der Kommunikation) zwar durchaus erheiternd (daher das Bestseller-Potenzial), wenn es dabei nicht um die langfristig wichtigste Frage für jedes Unternehmen und eine der wichtigsten für solide Führung und Mitarbeiterbegeisterung ginge.

Es ist für die nötige Klärung der Strategie auch nicht hilfreich, wenn der eigene Vorgesetzte in dieser Frage die Hände in die Luft wirft und deklamiert: „Was weiß ich denn, was die da oben sich dabei gedacht haben! Ich verstehe das auch nicht. Kümmern Sie sich lieber wieder um Ihre Arbeit.“ Ohne die nötige Begeisterung? Ohne solide Führung? Ohne verlässliche Abklärung der missverstandenen Unternehmensstrategie?

Im Ablauf-Plan der begeisternden Strategievermittlung muss der Kommunikationssaturation zwingend die Verständnisklärung folgen, nach der bekannten Maßgabe für deren Dauer: As long as it takes … So lange, bis das nötige Verständnis sich in toto oder zumindest bei der kritischen Menge der Mitarbeiter einstellt. Warum erleben wir das so selten in der gelebten Unternehmenspraxis?

 

Der Need-to-Know-Mindset

Wer sich in der unternehmerischen Praxis aufmerksam umhört, begegnet bei der Frage nach dem Strategieverständnis der Mitarbeiter erstaunlich oft der Antwort von Seiten der Führung: „Das müssen die nicht wissen. Darum sollen die sich nicht kümmern. Die sollen lieber ihre Arbeit machen. Strategie ist Sache der Unternehmensleitung und des Managements.“ Unzählige Strategie-Meetings gibt es in kleinen und großen Unternehmen, und stets sind sie nur für einen erlauchten Kreis von (höheren) Führungskräfte zugänglich. In anderen Worten: Der „einfache“ Mitarbeiter muss nicht wissen, wo es langgeht. Strategie ist für den „einfachen“ Mitarbeiter nicht „need to know“. Das ist, soweit es Einstellungen und Denkhaltungen betrifft, ein legitimer Mindset: Die Gedanken sind frei, wie Hoffmann von Fallersleben es formulierte. Man(ager) darf so etwas denken.

Aber sollte man es auch? Auf dem Hintergrund der in vielen Unternehmen mangelnden Mitarbeiterbegeisterung und des drohenden oder akuten Fachkräftemangels? Eher nicht. Nicht, wenn eine klare und verstandene Strategie die Mitarbeiter begeistert wie wenig anderes. Im Sinne der Mitarbeiterbegeisterung ist die Unternehmensstrategie deshalb durchaus „need to know“. Solide Führung lässt die Mitarbeiter wissen, wo die Fahrt langfristig hingeht, was das Big Picture, das große Ziel ist, was Sinn und eigentlicher Zweck des Arbeitsalltags-Daseins sind. Wie könnte das durchdringende Verständnis dessen, wo- für wir eigentlich arbeiten, nicht begeistern?

 

Die Königsklasse der Strategievermittlung

Auch wenn Mitarbeiter (und Führungskräfte) die Strategie ihres Unternehmens kennen und verstehen, kann sie in der Regel noch nicht als „vermittelt“ gelten. Denn die meisten Mitarbeiter (und Führungskräfte), die sie kennen und verstehen, können die Strategie nicht auf Anhieb, nicht ausreichend oder nicht handlungsleitend in den passenden Zusammenhang mit dem stellen, was sie täglich tun. Deshalb taucht in Strategie-Workshops auch regelmäßig die meist zaghaft artikulierte Frage auf: „Und was hat das alles nun mit meiner eigentlichen Arbeit zu tun?“ Eine berechtigte Frage. Wer beantwortet sie?

Es reicht dabei nicht, den groben Zusammenhang zwischen großer Strategie und kleinen Strategiebeiträgen des einzelnen Mitarbeiters herzustellen (was bereits Denk-Arbeit genug bereitet). Soll die Strategievermittlung handlungsleitend und vor allem begeisternd sein, ist zumindest eine Do’s & Don’ts-Checkliste nötig mit allen denkbaren Tätigkeiten und Verhaltensweisen des Mitarbeiters, die strategiförderlich und allen, die strategieschädlich sind. Nur diese konkrete Auf-, respektive Auslistung erlaubt dem Mitarbeiter die Überprüfung seiner Arbeit in Echtzeit auf ihre Strategieverträglichkeit, seinen eigenen wertschöpfenden Strategiebeitrag – und letztendlich auch die damit verbundene Begeisterung am Ende jedes Arbeitstages im Sinne von: „Heute habe ich wieder nachweisbar zum großen Ganzen beigetragen! Und ich weiß auch genau, womit (und womit nicht).“

Wie sehr der Strategiebeitrag des einzelnen Mitarbeiters begeistert, ist auch daran abzulesen, wie schnell solche Kataloge dem Mitarbeiter „in Fleisch und Blut“ übergehen und auswendig wiedergegeben werden können; zum Beispiel in der Diskussion mit Kollegen: „Nee, dieses hier lassen wir lieber, das tut der Firma nicht gut – dafür machen wir jenes, weil uns das echt voranbringt.“ Wer als Vorgesetzter solche Äußerungen mithört, kann sicher sein: Er führt solide. Und begeisternd. Einmal ganz davon abgesehen, dass er damit auch die unfreiwillige strategische Selbstsabotage seiner Mitarbeiter verhindert, die immer dann unweigerlich geschieht, wenn Mitarbeiter nicht wissen, dass das, was sie gerade tun, vielleicht kurzfristig sinnvoll ist, dafür aber langfristig das eigene Unternehmen schädigt.

 

Solide Führung managt Strategie-Konflikte

In der unternehmerischen Praxis konkurrieren etliche Ziele um Aufmerksamkeit, Energie, knappe Zeit und Ressourcen. Leider ist von diesen Zielkonflikten auch nicht die Unternehmensstrategie ausgenommen, im Gegenteil. Da im stressigen Alltag gewohnheitsmäßig das Wichtige vom Dringenden verdrängt wird, sind strategische Zielkonflikte häufig an der Tagesordnung.

Da strebt zum Beispiel die Geschäftsleitung eines Anlagenbauers strategisch postuliert und intensiv kommuniziert „die Innovationsführerschaft in unserem Markt“ an, während der Entwicklungschef des Unternehmens das dritte Jahr in Folge sein Budget erst nach Abstrichen genehmigt bekommt, die Quantensprung-Entwicklungen mangels ausreichen- der Finanzierung so gut wie unmöglich machen. Die Konsequenzen daraus sind so absehbar wie fatal: „Die Strategie ist doch ein Witz!“ lautet das geflügelte Wort in seiner Entwicklungsabteilung. Begeistert klingt das nicht, eher frustriert. Nicht weil die Strategie nicht begeisternd wäre: Sie ist es. Es begeistert, sein Feld anzuführen oder anführen zu wollen. Doch diese Begeisterungswirkung wird zunichte gemacht von den zwangsläufig auftretenden Zielkonflikten.

Dabei liegt deren begeisterungsschädigende Wirkung nicht in ihrem Auftreten, sondern im Fehlen jeglicher (ausreichender) Ziel- und Konfliktklärung durch die Führung: Wie passen postulierte Innovationsführerschaft und reale Budgetstreichungen zusammen? Wie können beide Ziele in friedlicher Koexistenz miteinander harmonieren? Der Chefentwickler erwartet Zielklärung vom Vorstand. Der Vorstand erwartet dasselbe vom Chefentwickler. Wer liegt mit seiner Erwartung richtig?

Gemäß den Ergebnissen unserer Studie ist es der Chefentwickler: Mitarbeiter erwarten, dass die Führung unvermeidliche strategische Unklarheiten ausräumt und sie bei allfälligen Zielkonflikten nicht „im Regen stehen lässt“. Wobei das Ausräumen von strategischen Zielkonflikten bereits zur Hohen Schule der Strategieklärung zählt. Doch auch auf der handwerklichen Ebene bremst vieles die Begeisterung.

 

Handwerkliche Mängel beliebter „Strategien“

In unseren Workshops hören wir als Antwort auf die Frage nach der Strategie der Teilnehmer oft: „Natürlich haben wir eine Strategie! Wir müssen in allen Belangen besser wer- den! Besser als die Konkurrenz.“ Das stimmt meist auch. Das ist bloß keine Strategie. Es ist eine Absichtserklärung.

Was heißt „besser“ zum Beispiel für den Vertrieb des konkreten Unternehmens? Für die Buchhaltung? Für die IT-Abteilung? Absichten sind löblich, doch eine Strategie ist im Gegensatz dazu ein messbares Ziel. „Besser“ ist nicht messbar. „50 Prozent weniger Ausschuss in allen Fertigungslinien binnen fünf Jahren“ dagegen wäre es. Oder: „Wir wollen in den nächsten drei Jahren im Kunden-Ranking auf Platz 1 sein!“

Mit so einer konkreten, überprüfbaren, da messbaren Formulierung könnte man über- legen, planen und konzipieren: Wie schaffen wir das? Was müssen wir dafür tun? Wer kann wie dazu beitragen? „Für unsere Kunden nur das Beste“ oder „Kulturwandel“ sind dagegen zwar flotte Formulierungen, doch keine Strategie und damit auch kein Begeisterungselement. Weitere Buzzwords, die uns bei Praxiskontakten als vorgebliche Strategien entgegenschlagen, sind unter anderem:

• „Flache Hierarchie!“
• „Wachstum“
• „Wir erfinden uns immer wieder neu!“
• „Die Bedürfnisse der Kunden in den Mittelpunkt stellen“ oder kurz: „Customer Centricity“
• „Effektivere Entscheidungswege“
• „Agiler und flexibler werden“
• „Digitale Transformation“

Das ist Buzzword-Bingo und keine Strategieformulierung. Diese Schlagworte sind durchaus attraktiv und werden deshalb selbst an der Basis oft wiederholt. Doch sie ermöglichen keine eindeutige und anerkennenswerte Klarheit darüber, ob der operative Mitarbeiter am Abend eines Arbeitstages verbrieft behaupten kann, dass er auch heute wieder messbar zu einem größeren Ganzen beigetragen hat: Das ist ihm und allen anderen schlicht nicht klar. Sobald es geklärt wird, kann der eigene Strategiebeitrag beginnen und begeistern.

 

Sprachbarriere im Management

Immer wieder hören wir aus den Reihen der Praxis: „Ob ich jetzt ‚Customer Centricity‘ sage oder dass wir im Kunden-Ranking die Nr. 1 sein wollen – das macht doch keinen Unterschied. Was gemeint ist, ist doch eh’ jedem klar.“ Äußerungen wie diese sind ein Hinweis darauf, warum in vielen Unternehmen der Begeisterungsfaktor „klare Strategie“ brachliegt: Die Führung nimmt an, dass die Strategie „eh’ jedem klar“ ist, während sie den Mitarbeitern – wie unsere Studie zeigt – alles andere als klar ist. Man könnte das als übliches Missverständnis in der alltäglichen Kommunikation einordnen: Man redet halt oft aneinander vorbei.

Man könnte das aber auch als mangelndes sprachliches Differenzierungsvermögen betrachten: Wer Missverständnisse der Kommunikation in Umlauf bringt, sie nicht erkennt und sie nicht behebt, legt den Verdacht nahe, dass seine Artikulationsfähigkeit für eine klare Kommunikation, eine wirksame Begeisterung und eine solide Führung schlicht nicht ausreicht. Wir hielten diesen Verdacht lange Zeit für eine Nahezu-Beleidigung der betroffenen Führungskräfte, bis uns ein Konzern-Vorstandsmitglied sagte: „Von der Digitalisierung haben die Kollegen im Management bislang auch nur schwach eine Ahnung. Das nötige Wissen müssen wir uns alle erst aneignen.“ Warum also nicht auch die für eine begeisternde Kommunikation nötige differenzierte Artikulation?

 

Strategie vom Hörensagen

Im Allgemeinen scheitert die begeisternde Klärung der eigenen Strategie nicht an hochfliegenden, im eigentlichen Sinne „strategischen“ Fragen (wohin wollen wir in fünf, zehn Jahren?). Sondern wie eben erwähnt an einer simplen Sprachbarriere im Management oder noch einfacher an den Banalitäten der Dissemination. Immer wieder stellen wir fest, dass große Teile von Belegschaften vieler Unternehmen von der Strategie des eigenen Unternehmens nicht vom Vorstand oder den Vorgesetzten erfahren, sondern stark verkürzt und daher wenig begeisternd aus der Zeitung, dem Intranet oder den Medien. Wenn überhaupt.

Das ist natürlich mehr als unglücklich und begeisterungsdämpfend, liegt jedoch oft am Need-to-know-Mindset (Abschn. 7.6.3): Mit den Medien redet man lieber als mit den eigenen Mitarbeitern. Vor der Presse kann man mit hochfliegenden Strategien glänzen, aber welchen Distinktionsgewinn bringt der Applaus der eigenen Mitarbeiter? Den setzt man doch als gegeben voraus.

Manchmal fragen wir Experten eines Unternehmens nach der unternehmensinternen Kommunikationsstrategie für die Unternehmensstrategie und ernten erst hochgezogene Augenbrauen, dann Aussagen wie: „Pressemitteilung (die ist für die Presse, nicht für die Mitarbeiter), Homepage (welcher Mitarbeiter besucht schon die eigene Homepage?) – und die jeweiligen Vorgesetzten sollten die Strategie thematisieren.“ Sollten sie? Oder tun sie es auch tatsächlich? Und wenn nicht? Dann tangiert das keinen im Management.

Was schade ist. Denn auf diese Weise geht zu geringsten Kosten (Reden kostet nichts, nur etwas Zeit) eine Menge Begeisterungspotenzial verloren. Wie viel Potenzial das sein kann, erweist sich regelmäßig beim Besuch von Praktikern der Best Practice, respektive ihrer Mitarbeiter. Wie diese gerne und oft betonen: „Unser Chef hämmert uns täglich dutzendfach ein: Bringt das, was ihr gerade tut, das Unternehmen voran? Ja? Dann weiter so! Und wenn nein: Lasst den Mist!“ In der Regel sprechen so die Vertreter von Vorzeige-Abteilungen. Denn ihr Strategie-Verständnis begeistert nicht nur, sondern befeuert auch ihr herausragendes Leistungsniveau.

 

Solide Führung ist fürsorglich

Was würde der Chef sagen, wenn ein Mitarbeiter sein Leistungsziel nur zur Hälfte erreicht? Mitarbeiter wollen solide geführt werden. Dazu zählt auch, dass sie von Führungskräften und Vorgesetzten eine gewisse Fürsorge erwarten. Noch einmal: Das bedeutet nicht, dass sie gepampert werden wollen oder sollten (der Standard-Einwand einiger Praktiker gegen den Begeisterungsfaktor „Fürsorge“). Einzelne Mitarbeiter – und Führungskräfte, High Potentials, Leistungsträger – mögen Pampering durchaus erwarten (jeder Vorgesetzte kennt seine Kandidaten), jedoch nicht die repräsentative Mehrheit. Leider wird die a priori verständliche, legitime und nutzentragende Erwartung der Fürsorge bislang im Führungsalltag in deutlichem Ausmaß enttäuscht.
Das zeigt der empirisch erhobene geringe Erfüllungsgrad dieses Begeisterungsfaktors mit den mehrfach erwähnten lediglich 56 Prozent.

Wenn wir diese empirische Basis etwas überstrapazieren wollen, könnten wir auch sagen: Deutsche Führungskräfte werden nur zu 56 Prozent von ihren Mitarbeitern als fürsorglich empfunden. Drehen wir den Spieß um: Wenn ein Mitarbeiter für eine übertragene Aufgabe seinem Vorgesetzten lediglich einen Zielerfüllungsgrad von 56 Prozent rückmelden würde – was würde der Vorgesetzte wohl dazu sagen? Und warum sollte Mitarbeitern im Gegensatz zu Führungskräften dieses wenig schmeichelhafte Urteil nicht zustehen? Warum sollten sie keine Konsequenzen ziehen aus diesem negativ ausfallenden Urteil in Form von Demotivation, Dienst nach Vorschrift, geringer Produktivität, wenig Engagement, wenig Begeisterung und hoher innerer Emigration?
Was als Vorwurf ans Management missinterpretiert werden könnte, ist tatsächlich eine große, weitgehend brachliegende und relativ kostengünstige Chance auf Begeisterung: Fürsorge ist keine Millionen-Investition und erfordert keine Fabrik-Neubauten. Im Gegenteil: Mit relativ geringen und jederzeit verfügbaren Mitteln kann eine fürsorgliche Führung sehr viel dafür tun, dass sich ihre Mitarbeiter fürsorglich und damit solide geführt fühlen. Sie danken es mit Begeisterung.

 

Die durchs Raster fallen: Karrieremodelle und Förderung

Ein zentrales Fürsorge-Problem in der Wirtschaftspraxis ist nicht so sehr, dass die Führung generell als zu wenig fürsorglich wahrgenommen wird. Es ist vielmehr oft so, dass zu wenige Adressaten in den Genuss dieser Fürsorge kommen. Ein Paradebeispiel dafür ist die Karriereplanung: Sie ist in vielen Unternehmen zwar vorhanden und wird als durchaus fürsorglich wahrgenommen. Sie ist jedoch oft lediglich den „höheren Kadern“ vorbehalten. Alle anderen fallen durchs Raster und fühlen sich möglicherweise als Mitarbeiter zweiter Klasse, „als ob wir nicht gut genug wären“.

Mit dieser Einschätzung liegen die Vernachlässigten oft nicht gänzlich falsch: Viele Führungskräfte betrachten eine persönliche Karriereplanung durchaus als das verbriefte Privileg gehobener Kreise. Nichts gegen elitäres Denken. Es hat durchaus Berechtigung. Es gibt unbestreitbar in jedem Unternehmen auch Leistungsträger, die mehr leisten und daher im weitesten Sinne mehr verdienen als jene, die weniger leisten. Das dahinterstehende Leistungs- und das damit verbundene Äquivalenzprinzip (jedem nach seiner Leistung) sind jedoch keine absoluten Größen. Sie stoßen vielmehr an die Grenzen ihrer Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit exakt an jener Stelle, an der sie mit dem Fürsorge-Bedürfnis in Berührung kommen: Wer sich diskriminiert fühlt, reagiert garantiert nicht begeistert und fühlt sich nicht fürsorglich behandelt. Nichts spricht daher gegen den Slogan und das HR-Konzept: Karrierewege und -modelle für alle!

Selbst wenn es in einem Unternehmen ausgesprochene Plateau-Positionen gibt, von denen aus eine weitere Karriere faktisch so gut wie ausgeschlossen ist: Man kann und sollte den betreffenden und betroffenen Mitarbeiter fördern. Doch auch hier blockiert ein vereinzelt auftretender Mindset die Fürsorge: „Wozu will der Mitarbeiter auf dieses Seminar? Das braucht er doch gar nicht für seine Arbeit!“ Für seinen Job vielleicht nicht – aber für sein Job Enrichment, „mal was Anderes kennenlernen“, seine persönliche Entwicklung, die weitergehende Entfaltung seines vollen Potenzials und das Bewusstsein, dass ihn seine Vorgesetzten fürsorglich behandeln. Einmal ganz davon abgesehen, dass selbst sachlich und fachlich sinnvolle, wenn nicht sogar nötige Förderungs- und Qualifizierungsmaßnahmen oft mit dem Pauschalbescheid „Das braucht der Mitarbeiter nicht!“ geblockt werden.

Ergo: Für eine als ausreichend wahrgenommen Fürsorge tut aktive Förderung möglichst aller Mitarbeiter not. Wie dieser Normativ ausgestaltet werden kann, machen die Klassenbesten vor. In einigen Unternehmen verfügt tatsächlich jeder Mitarbeiter über ein persönliches Förderungs- Budget und/oder eine verbriefte Anzahl von Seminar-Tagen und eine praktisch uneingeschränkte Verfügungsgewalt darüber: Jeder darf damit jene Maßnahmen, Seminare, E-Learning-Programme, Massive Open Online Courses, Workshops, Kongresse oder Exkursionen besuchen oder buchen, die ihm zusagen. Natürlich könnte es bei so weitgehender Verfügung auch zu Missbrauch kommen („Wozu braucht ein Vertriebsingenieur für einen vierstelligen Betrag einen Online-Kurs in Politischer Ökonomie des MIT?“).

Doch erstens ist eine generell existierende Missbrauchsgefahr kein Grund, eine Maßnahme a priori nicht anzubieten, wenn das Nicht-Anbieten einen deutlichen Fürsorge-Mangel konstituieren würde. Und zweitens: Der Vertriebsingenieur wird seinen Online-Studiengang sicher nicht buchen wollen, um seinen Arbeitgeber zu schädigen oder ausschließlich Hobby-Interessen zu frönen. So irrational sind Menschen nicht. Wenn er also darin einen Nutzen sieht und sich auf den Nebenher-Studiengang freut: Warum ihn nicht mit freundlicher Geste teilnehmen lassen? Fürsorge bezieht sich auch auf den Menschen im Arbeitnehmer und nicht immer nur auf die Arbeit an sich.

 

Top-Management Commitment

Dass mehr Führungskräfte fürsorglich und damit solide und begeisternd führen, wird meist auch dadurch be- oder verhindert, dass konkrete Beispiele von Fürsorge oft eher verdeckt geleistet und verschämt verschwiegen werden. Damit wird signalisiert: „Wenn ein Vorgesetzter fürsorglich führt, ist das seine Privatsache und wird von oben nicht gern gesehen.“ So wird Fürsorge nicht zum tragenden Pfeiler solider Führung, sondern geradezu stigmatisiert, in den Untergrund gedrängt, als Begeisterungsfaktor desavouiert.

Die Innendienst-Leiterin einer Verkaufsorganisation zum Beispiel erkennt, dass die in den nächsten Wochen neu anzuschaffenden ergonomischen und höhenverstellbaren Arbeitspulte ihrer Abteilung zwar den Erfordernissen der Einkaufsabteilung, aber nicht in ausreichendem Umfang jenen ihrer 47 Mitarbeiter entsprechen werden. Also erreicht sie in zähen Verhandlungen mit Procurement und unter Aufbietung abteilungseigener Budgetanteile ein Upgrade für ihr Team. Der Team-Flurfunk meldet, symptomatisch für wahrgenommene Fürsorge: „Die Chefin kümmert sich um uns! Die weiß, was wir brauchen und die ficht das, wenn nötig, auch ganz oben durch.“ So weit so gut. Warum redet die Chefin dann mit keinem Wort darüber?

Weil es in ihrem Unternehmen Mittelmanagement-Kollegen gibt, die sie dann pfeilschnell mit dem Stigma „Mitarbeiter-Versteherin“ (warum sollte das ein Schimpfwort sein?) etikettieren würden. Mitarbeiter solide und fürsorglich zu führen, gilt in seltenen Umfeldern leider noch als unter der Würde eines Managers. Man fraternisiert nicht mit der Basis. Diese Stigmatisierung produziert doppelten Schaden an der Solidität der Führung. Zum einen traut sich in so einem restriktiven Klima kaum eine Führungskraft, fürsorglich zu führen. Zum anderen traut sich keiner, über sporadisch auftretende positive Bei- spiele zu sprechen. Fürsorge wird zur Tugend des Guerilla Managements: höchstens im Untergrund praktiziert. Bis ein neuer Vertriebsleiter (von außerhalb) den alten ablöst.

Sobald er von sporadischen Beispielen vorgesetzter Fürsorge hört, erwähnt er diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zum Beispiel: „Unser Regionalleiter Süd hat den Ki- ckern seiner Betriebssport-Mannschaft den Freitagnachmittag nach ihrem Sieg beim Gerümpel-Turnier freigegeben, damit sie ihren Muskelkater auskurieren können. Finde ich eine nette Geste.“ Erreichen seine Anstrengungen der Entstigmatisierung ein entsprechendes Level, kann Fürsorge in der Führung großflächig im Unternehmen Fuß fassen: What gets communicated, gets done. Anders ausgedrückt: Wozu sich das Top-Management sichtbar, konsistent und konsequent committed, das wird auch auf breiter Basis akzeptiert und praktiziert.

 

Fürsorgliche Lösungsorientierung

Der vielleicht einfachste und zugleich dankbarste Ansatzpunkt für eine fürsorgliche Führung sind die ganz alltäglichen, sublimen Probleme und Problemchen der Mitarbeiter. Bei unseren Praxis-Besuchen fallen uns zum Beispiel an jedem dritten Arbeitsplatz fehlende Bildschirmbrillen, veraltete Hilfsmittel oder schlicht Bagatel-Missstände auf, die mit dem Besuch in jedem Büro- oder Heimwerker-Markt für wenig Geld behoben werden könnten, jedoch: „Das gammelt schon seit Jahren so vor sich hin, das kümmert da oben keinen, unter welchen Bedingungen wir hier arbeiten müssen, ist denen doch egal.“ Anti- Fürsorge, sozusagen.

Fürsorge bedeutet auch, dass die Führung Lösungen für die Probleme der Mitarbeiter findet oder sich zumindest ernsthaft darum bemüht (erfolgreiche Problemlösung ist nicht das maßgebliche Kriterium).

 

Der fürsorge-affine Mindset

Es gibt kaum ein Verhalten oder eine Fähigkeit, die mit entsprechendem Mindset nicht eher, leichter und erfolgreicher von der Hand ginge. Demgemäß ist eine Führungskraft umso eher geneigt, sich gegenüber ihren Mitarbeitern fürsorglich zu zeigen,

• je eher sie sich die Einstellung zu eigen macht: „Das sind meine Leute und ich fühle mich selbstverständlich nicht nur für ihre Leistung, sondern auch für die Voraussetzungen dieser Leistung verantwortlich!“ – im Gegensatz zu: „Die werden dafür bezahlt, dass sie leisten – also sollen sie das auch!“
• je weniger sie der immer noch verbreiteten Klassenkampf-Ideologie „Wir hier oben, die da unten“ folgt und je stärker sie verinnerlicht hat: „Ob uns das passt oder nicht: Wir sitzen im selben Boot – lediglich an unterschiedlichen Plätzen.“
• je intensiver sie sich als Mensch versteht, in dessen unmittelbarer Umgebung sich andere Menschen entfalten können und weniger als jemand, der in heimlicher Konkurrenz selbst zu Untergebenen steht.
• je weniger sie die Vorstellung des Nullsummen-Spiels („Dein Verlust ist mein Ge- winn“) und je eher sie jene der Win-Win-Situation („Wenn jeder etwas für den anderen tut, gewinnen alle dabei“) verfolgt.

 

Die fürsorgliche Führungskraft

In der Wirtschaft (und anderen Teilen der Gesellschaft) finden wir auch einige fürsorgliche Führungskräfte. In fast jedem Unternehmen finden sich zumindest einige, die deutlich fürsorgliche Tendenzen zeigen. Man erkennt solche Führungskräfte nicht nur an diesen Tendenzen, sondern auch daran, dass sie großen Respekt bei ihren Mitarbeitern genießen, dass die Mitarbeiter für so einen Chef gerne auch Leistungen erbringen, die jenseits der Pflicht liegen, dass sie für solche Vorgesetzte durchs Feuer zu gehen bereit sind und dass sie sich ihnen gegenüber sehr loyal verhalten, was sich auch in der geringen Fluktuation innerhalb des Führungsbereichs von fürsorglichen Führungskräften zeigt: Warum sollte man so einen Chef verlassen? Besser wird man es woanders kaum treffen (es sei denn, man hat einen sehr kompetitiven Charakter und legt persönlich wenig Wert auf Fürsorge).

Wenn wir diese Klassenbesten vor Führungspublikum oder beim Executive Coaching diskutieren, kommt häufig der Einwand: „Aber wenn man Mitarbeiter zu nett behandelt, wird man ausgenutzt!“ Das ist eine naheliegende Befürchtung, die jedoch eher für das skeptische Misstrauen des Befürchtenden spricht als für die reale Faktenlage. Wer konkrete und mehrfache eigene Erfahrung mit fürsorglichem Verhalten hat, hegt solche Befürchtungen nicht, weil seine Erfahrung ihnen widerspricht. Die häufigste Reaktion auf Fürsorge ist nämlich nicht das Ausnutzen des Fürsorgenden (außer in deutlich pathologischen sozialen Systemen, die in Unternehmen so selten zu finden sind wie in der Gesellschaft als solche), sondern Dankbarkeit, Reziprozität (man versucht, sich für die Wohltat zu revanchieren) – und eben Begeisterung samt ihren positiven Folgen.

Außerdem gilt bei der Führung wie im Rest des Lebens: Ob man sich ausnutzen lässt oder nicht, entscheidet man alleine. Niemand kann jemanden dazu zwingen. Wer leicht und oft ausgenutzt wird, wird das mit oder ohne Fürsorge. Anders ausgedrückt: Auch fürsorgliche Führungskräfte können sehr wohl, sehr oft und sehr abgrenzungsstark Nein sagen. Die Fähigkeit zur Fürsorge beeinträchtigt in keiner Weise die Fähigkeit der Abgrenzung. Fürsorge ist nicht Schwäche (auch wenn sie in seltenen Fällen als solche missinterpretiert wird).

 

Tablet statt Fürsorge

Fürsorge als tragendes Element solider Führung wird insbesondere dann interessant, wenn wir sie mit dem vergleichen, womit sie landläufig substituiert wird. Unter dem Druck des Fachkräftemangels verschenken viele Firmen inzwischen auch „Antrittsprämien“ an neue (oder treue) Mitarbeiter: teures Luxus-Tablet, E-Scooter, kostenloser Kita-Platz fürs Kind, günstige Firmenwohnung, großzügiger Fahrtkosten-Zuschuss, Incentives (Luxus-Seminar auf den Kanaren) – der Reichtum der Palette scheint unbegrenzt.

Dann tritt der auf diese Weise „prämierte“ neue Mitarbeiter seinen Job an und erzählt unter anderem: „Der Chef verhängt oft zehn Minuten vor Feierabend zwei, drei Überstunden. Die Dienstreisen- und Spesenabrechnung läuft noch über ein fünfseitiges Formular und die Prozesse sind arthritisch wie noch was.“ Eine leitende Angestellte bei einem großen Dienstleister erzählt: „Ich verstehe, dass wir 24 Stunden für unsere Kunden da sein müssen. Aber ich verstehe nicht, warum die Dienstpläne so bescheuert erstellt sind, dass wir ständig Doppel- und Fehlbelegungen erleben, dass Kollegen aus dem Urlaub zurückgerufen wer- den und dass Familienurlaube einen halben Tag vor Urlaubsantritt abgesagt werden müssen oder die Familie mit nur einem Elternteil verreisen muss.“

Das alles wird von Mitarbeitern in der Regel auch als Symptom mangelnder Fürsorge interpretiert: „Warum tut uns der Chef das an?“ Anders gefragt: Was nutzt die tollste Antrittsprämie oder lukrativste Kandidaten-Köder, wenn der neue Mitarbeiter nach Dienstantritt auf solche Missstände mangelnder Fürsorge trifft? Kein noch so teures Tablet kann echte Fürsorge ersetzen.

Gewiss: Die für solche Symptome der Vernachlässigung verantwortlichen Führungs- kräfte werden dafür (auch) realwirtschaftliche Gegebenheiten (überraschende Nachfragespitzen, Ausfälle in der Lieferkette, Personalknappheit) verantwortlich machen. Doch Kommunikation entsteht zwar beim Sender, aber wirkt beim Empfänger: Die Rezipienten am bösen Ende dieser Versäumnisse interpretieren solche Vorkommnisse mit sicherer Hand als mangelnde Fürsorge: „Das kann man auch anders managen, anders organisieren, anders kommunizieren. Dass Überstunden notwendig sind, weiß man normalerweise schon mindestens einen Tag vorher, und andere Abteilungen kriegen bei selber Personal- decke doch auch Dienstpläne mit der Hälfte unserer Fehlbelegungen erstellt. Also warum wir nicht?“ Weil das Thema nicht wichtig genug genommen wird. Und das wird hinter vorgehaltener Hand auch oft so kommuniziert.

Wenn wir betroffene Führungskräfte darauf ansprechen, hören wir, auf das zentrale Argument verkürzt, nicht selten: „Was will der Mitarbeiter denn? Er wohnt doch in einer supergünstigen Firmenwohnung! Also ich würde die Wohnung nehmen und die Klappe halten.“ Das würde der Chef ganz sicher. Der Haken ist: Der Mitarbeiter offensichtlich nicht. Er erwartet nicht nur eine günstige Firmenwohnung, sondern auch Fürsorge. Auf Basis der Studienergebnisse könnte man auch sagen: Er schätzt Fürsorge mehr als eine Firmenwohnung. Auch darin liegt der Benefit von repräsentativen Studien: Man muss sich als Vorgesetzter nicht auf die eigene Sicht der Dinge verlassen. Vielen Chefs sind materielle Vorteile (Tablet, Scooter, Kita-Platz) wichtiger als fürsorgliche Gesten – also warum sollten sie bei ihren Mitarbeitern etwas anderes voraussetzen? Weil zum Beispiel die vorliegende Studie anderes belegt: Der Chef mag großen Wert auf Materielles legen – der repräsentative Mitarbeiter bewertet Fürsorge dagegen höher. Oder wie es eine Marketing-Expertin etwas despektierlich, aber zutreffend formulierte: „Kein Angler hängt Sahnetorte an den Angelhaken, bloß weil ihm Sahnetorte schmeckt. Der Forelle schmeckt Torte nämlich nicht. Was ein Mitarbeiter gut findet, entscheidet der Mitarbeiter, nicht der Chef.“

 

Wer fragt, verliert: Der Glucken-Effekt

Wie jedes Instrument, so hat auch Fürsorge seine Wirkungsgrenzen. Man kann zu wenig und man kann zu viel Fürsorge aufwenden. Wer zu wenig fürsorglich ist, kann das leicht ändern. Wer dagegen zu viel des Guten tut, beschädigt das Instrument der Fürsorge und seine eigene Autorität oft massiv und auf Dauer. Auch aus diesem Grund ist zum Beispiel das in den 80er-Jahren populäre Führungsinstrument „Wer fragt, der führt“ heute praktisch (zu Unrecht) von der Bildfläche (zumindest der Führungsdiskussion) verschwunden: Man hat es übertrieben.

Aus vielen Unternehmen, in denen Chefs plötzlich fragend zu führen begannen, kamen verunsicherte Meldungen von Teilen der Belegschaft: „Was ist mit dem Chef los? Warum stellt der neuerdings so viele Fragen? Wieso ist er auf einmal so verunsichert? Haben wir etwas falsch gemacht? Hat er eine Krise?“ In manchen Unternehmen wurde der Slogan der Fragetechnik verballhornt zu: „Wer fragt, verliert.“ Daran ist nicht die Technik, son- dern die Höhe ihrer Dosierung, eine verbreitete Rollenerwartung und eine kulturelle Besonderheit schuld.

Dieselbe dreifache Gefahr droht auch dem Faktor Fürsorge der soliden Führung: Man kann Fürsorge auch übertreiben. Nicht nur in Richtung Pampering, sondern auch in Richtung Gluckenhaftigkeit. Man stellt zu viele besorgte Fragen über Problemchen und Befindlichkeiten der eigenen Mitarbeiter, was einige (!) Mitarbeiter nicht als Fürsorge, son- dern als Schwäche missdeuten. Man hat zu viel gefragt, die Fürsorge (aus Sicht der betreffenden Mitarbeiter) übertrieben.

Zu diesem Missverständnis trägt auch ein selbst im 21. Jahrhundert noch verbreitetes Rollenverständnis von Führung (bei vielen Mitarbeitern) bei: „Der Chef weist an, er fragt nicht.“ So altmodisch diese Rollenerwartung sein mag, sie ist in manchen Teilen der Wirtschaft immer noch anzutreffen. Verstärkt wird dieser negative Effekt durch eine weit verbreitete kulturelle Besonderheit: Viele Menschen assoziieren Fürsorge mit Schwäche. Sie verzeihen einem Chef lieber einen Fehlgriff als zu viel Fürsorge. Auch deshalb, weil sich viele dann nicht mehr ernst genommen fühlen: „Der Chef muss uns nicht auch noch die Schuhe binden! Das kriegen wir schon selber hin!“ Also sollten Führungskräfte lieber auf Fürsorge verzichten?

Dieser Schlussfolgerung nach müsste man auch das Treppensteigen bleiben lassen, weil man dabei auch mal einen Fehltritt machen könnte. Der Glucken-Effekt ist kein Argument gegen Fürsorge, sondern gegen deren überdosierte Anwendung. Gestandene Praktiker dosieren erfolgreich. Wie uns einer versicherte: „Bei manchen Mitarbeitern habe ich die Erfahrung gemacht: Wenn die über Problemchen klagen – beseitige sie bloß nicht! Dann fühlen die sich nämlich in ihrer schweren Lage nicht mehr ausreichend gewürdigt. Also bewundere ich sie ordentlich ob ihrer gravierenden Probleme und frage nach, ob ich etwas für sie tun kann.“ Meist ist ein Nein die Antwort: „Das kriegen wir schon selber hin.“ Das Phänomen kennt man in der Psychologie unter dem Titel „Fishing for compliments“, wobei es im beschriebenen Beispiel eher um das Suchen nach Aufmerksamkeit und Mitempfinden geht.
Auch das Instrument der Fürsorge ist nicht gegen Pauschalanwendungen immun: Gut, wer einschätzen kann, welche Mitarbeiter wieviel Fürsorge erwarten, wünschen und vertragen. Es geht um eine differenzierte Anwendung und damit um eine Variation und Differenzierung im Führungsstil.

 

Systemische Abwertung

Die Empfehlung, solide und insbesondere fürsorglich zu führen, trifft nicht überall auf eine Willkommenskultur. In vielen Unternehmen im Speziellen und in der Gesellschaft im Allgemeinen verstärkt sich in den letzten Jahren eine Tendenz zur systemischen und systematischen Abwertung, wie zum Beispiel der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung (Kister 2019) konstatiert: „Die sich selbst beschleunigende Bewegung der herabsetzenden Kommunikation hat den Umgang vieler Menschen mit anderen Menschen stark verändert.“

Was von Praktikern oft als „normaler rauer Umgangston“ bezeichnet wird, zeichnet sich durch ständiges oder überwiegendes Kritisieren, Abwerten, Ironisieren, Bagatellisieren und Herabwürdigen im verbalen Umgang aus – in Ausprägungen verschiedenster Intensität. Je nach Intensität kann es schwierig bis unmöglich werden, in einer derart antagonistischen Kultur überhaupt an Fürsorge zu denken, geschweige denn sie zu praktizieren. Wer so „weichgespült daherkommt“, erzielt damit unter solchen adversen Umständen keinen fürsorglichen, sondern einen selbstabwertenden Aspekt: Die Rezipienten der intendierten Fürsorge verwechseln reflexhaft Freundlichkeit und Fürsorge mit Schwäche.

Dieser Reflex kann gemildert bis verhindert werden, wenn das Geschehen explizit gemacht und thematisiert wird: „Leute, sich gegenseitig runterzumachen ist kein Umgang für uns!“ Wie bei allen Veränderungen gilt: Wenn keiner sich ändert, ändert sich nichts. Einer muss den Anfang machen – und dann großes Stehvermögen beweisen. Eine Allianz der Willigen, eine mobilisierte Hausmacht erleichtert und beschleunigt den Erfolg des Kulturwandels.

 

Anspruchsmentalität

Manche Manager weisen darauf hin, dass angesichts einer grassierenden und ständig zunehmenden Anspruchsmentalität bei gewissen Mitarbeiter-Zielgruppen es „fast schon eine Zumutung“ sei, diesen „unersättlich fordernden und nie zufriedenen“ Bedürfnisträgern dann auch noch Fürsorge angedeihen zu lassen: „Wenn man denen nicht alles gibt, was sie fordern – und das möglichst gestern – dann wechseln die wegen 50 Euro mehr im Monat zum nächstbesten Wettbewerber!“ Es stimmt, dass beim vorherrschenden Fach- und Führungskräftemangel viele Leistungsträger und sogar schon Berufsanfänger Ansprüche er- heben, auf die Altgediente eher mit Empörung reagieren. Doch deshalb Fürsorge als Begeisterungsfaktor per se zu verwerfen, hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Natürlich schließen sich Anspruchsmentalität (nahezu ein Zeitgeist-Phänomen) und Fürsorge beinahe kategorisch aus. Doch es gibt in jedem Unternehmen noch genügend, wenn nicht die überwiegende Zahl der Mitarbeiter, die in ihren Ansprüchen realistisch geblieben sind und selbst ein geringes Maß an Fürsorge zu schätzen und manchmal auch zu würdigen wissen. Wie Mitarbeiter mit einem starken „Sense of Entitlement“, wie dieser narzisstische Zug vor allem in der amerikanischen Management-Sphäre genannt wird, idealerweise und idealerweise so geführt werden sollten, dass man sich als Führungskraft nicht von ihnen erpressen lassen muss, steht auf einem anderen Blatt und würde den Rahmen dieses Buches sprengen.

 

Wissen ist gut, Vergewissern ist besser

In Zeiten der Digitalisierung oder auch des wirtschaftlichen Abschwungs treffen wir häufig auf unterschiedlich stark verunsicherte Mitarbeiter, die um ihre Jobs, um Status, Gehalt, Bonus, Einfluss, Kompetenzen, Leistungsvermögen („Mithalten können“) oder Prestige bangen. Und das, obwohl wir häufig jede Wette halten würden, dass genau jenen Mitarbeitern, die verunsichert vor uns stehen, als allerletzte gekündigt würde. Doch leider: Sie wissen es nicht.

Wobei korrekter wäre: Sie wissen es zwar, weil man es ihnen schon einmal gesagt, sie aber in diesem Wissen seither zu vergewissern versäumt hat. Für sicherheitsrelevantes Wissen gilt: Einmal ist keinmal. Und fünfmal ist nicht wesentlich besser. Warum nicht?
Weil die Signale der Unsicherheit und der Bedrohung täglich mehrdutzendfach auf Mitarbeiter einprasseln. Über die Nachrichten, die Presse, die sozialen Medien, TV, den betrieblichen „Flurfunk“, via Bekannte, Familie, Kollegen … Da nützt es so gut wie nichts mehr, wenn der Vorstand vor drei Monaten versichert hat, dass die Jobs sicher sind. Gegenüber dieser weit zurückliegenden Versicherung wiegt die tägliche Überfülle an Bad News in Intensität und Wirkung weitaus schwerer. Kaum einer erinnert sich noch der Zusage, sondern glaubt nur noch den letzten Horrormeldungen aus dem Äther der Schwarzseher. Worauf Vorgesetzte manchmal einwenden: „Aber ich kann doch meinen Leistungsträgern nicht täglich hundert Mal sagen, dass ihr Job sicher ist.“ Natürlich nicht. Aber warum nicht ein halbes Dutzend Mal? Das kostet nichts, außer etwas gutem Willen.

Häufig hören wir auch: „Wir müssen nicht ständig darüber reden, dass die Jobs sicher sind. Wir haben doch eine Betriebsvereinbarung.“ Und wie präsent ist diese Vereinbarung im Bewusstsein der Mitarbeiter noch, wenn Gerüchteküche, soziale Medien und die Presse täglich unheilschwanger und dutzendfach „Risiko! Disruption! Krise!“ rufen? Der Propaganda der Medien-Kassandras nicht mit eigener Gegen-Propaganda die Wirkung zu nehmen, ist fast schon fahrlässig, nicht fürsorglich; riskant, nicht solide. Solide Führung ignoriert die mediale Verunsicherung der Mitarbeiter nicht, sie vermittelt vielmehr die im Sinne des Wortes notwendige Sicherheit. Wie oft? So oft es nötig ist. Ob und welche Mitarbeiter sich wodurch auch immer verunsichert fühlen, ist kein Staatsgeheimnis, son- dern scheint bereits in der verbalen und nonverbalen Alltagskommunikation deutlich durch. Für alle, die ein Auge und ein Ohr dafür haben.

Sichtbares Commitment

Auf einem eher nachrangigen Meeting bringt ein Leistungsträger der Finanzabteilung ein zugegebenermaßen etwas weit hergeholtes Risiko-Szenario vor. Der Finanzvorstand wischt es ungehalten vom Tisch: „Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand! Das ist doch höchstens ein Promille-Risiko.“ Jeder am Tisch stimmt ihm in der Sache zu. Doch die grobe Abfuhr verunsichert den leitenden Angestellten. Er fühlt sich herabgesetzt, unfair behandelt: „Ich wollte doch bloß auf ein Risiko hinweisen!“ Der maßregelnde Vorgesetzte empfindet das, was er dem Mitarbeiter zu verstehen gab, weder als Abfuhr noch kann er die verunsichernde Wirkung des Gesagten (an)erkennen. Diese Wirkung ist so beträchtlich wie fatal.

Menschen tendieren nämlich dazu, Beziehungsbotschaften den Vorrang vor Sachaussagen zu geben; etwa nach dem Motto: „Wer mich auf dem Kieker hat (Beziehung), dem glaube ich nicht, dass er sich im Zweifelsfall an eine Job-Zusage (Sache) hält.“ In manchen betrieblichen Kontexten sind beziehungskorrosive Botschaften mit einer Häufigkeit vertreten, die empfindliche Mitarbeiter in die (innere) Kündigung treiben, aber zumindest ihr Sicherheitsgefühl beschädigen und damit ihre Begeisterung (zer)stören. Das bedeutet weder, dass Vorgesetzte ihre Mitarbeiter jetzt „mit Samthandschuhen“ anfassen sollten (was häufig als Einwand zu hören ist). Noch bedeutet es, dass sie kritische Rückmeldungen lieber verschweigen sollten, um den Mitarbeiter nicht zu verunsichern. Es heißt lediglich, dass man Feedback zwar in der Sache korrekt geben sollte, jedoch ohne dabei die Beziehung zu beschädigen (das sogenannte Harvard-Prinzip: Hart in der Sache, kulant zur Person).

Nach zwei Sitzungen Shadow Coaching (praxisbegleitendes Coaching, der Coach „beschattet“ quasi den Coachee) gelingt das dem erwähnten Finanzvorstand dann auch. In einem ähnlichen Kontext erwidert er einer Mitarbeiterin, die ihn auf eine mögliche Fehlerquelle hinweist: „Danke, dass Sie darauf hinweisen. Wir müssen da zweifellos aufpassen. Gleichzeitig möchte ich jetzt noch keine zusätzlichen Mittel darauf verwenden. Noch nicht.“

Manche Führungskräfte möchten nicht derart „jedes Wort auf die Goldwaage legen, wenn ich mit meinen Mitarbeitern spreche“. Das ist verständlich. Die Motivation für die- sen kommunikativen Extra-Aufwand wird jedoch umso stärker, je klarer sich die Erkenntnis durchsetzt, wie sehr damit das Sicherheitsgefühl der Mitarbeiter gefördert wird. Der Aufwand ist gut investiert in die innere Sicherheit der Mitarbeiter. Solide Führung toleriert keine verunsicherten Mitarbeiter. Verunsicherte Mitarbeiter arbeiten nicht begeistert mit.

 

Sicherheit im Bedrohungsfall

Vor allem in Krisenzeiten sind harte Einschnitte, Budgetkürzungen, Kündigungen und Änderungskündigungen oft nicht zu vermeiden. Manche Führungskraft meint dann, dass die Sicherheit der Mitarbeiter in solchen Krisen aus objektiven Gründen nicht mehr zu gewährleisten sei und man „nichts mehr machen“ könne. Das ist ein verbreiteter Irrtum.

 

Denn gefühlte Sicherheit hängt stärker von subjektiven als von objektiven Gegebenheiten ab (viele Berufstätige und Selbstständige fühlen sich zum Beispiel auch ohne Berufsunfähigkeitsversicherung subjektiv absolut sicher – bis der Schadensfall eintritt). Oft meinen Vorgesetzte auch, erst dann verlässlich kommunizieren zu können, wenn die Sachlage klar ist. Sie übersehen dabei: Der Elefant steht schon längst im Raum und wird von der pausenlos brodelnden Gerüchteküche in monströse Dimensionen aufgeblasen. Verunsicherte Mitarbeiter reden sich die Sachlage meist schlimmer als sie tatsächlich ist; wobei die Korrelation eindeutig ist: Je verunsicherter die Mitarbeiter, desto schlimmer brodeln die Gerüchte, was wiederum verstärkend auf die Verunsicherung rückkoppelt – ein Circulus vitiosus.

Während die Personalleitung zum Beispiel zehn Kündigungen vorbereitet (aber noch nicht kommuniziert), macht im Betrieb bereits das Gerücht die Runde, ein Drittel der Belegschaft sei betroffen und ein Zweigwerk des Unternehmens würde komplett geschlossen. Wer in so einer Situation als Führungskraft (noch) nicht kommuniziert, schürt die grassierende Unsicherheit durch Unterlassung. Diese Unsicherheit wird durch die mangelnde Kommunikation oft stärker beeinträchtigt als durch die eigentliche Bedrohung: Wenn man wüsste, „was Sache ist“, würden sich die Nerven wieder beruhigen. Ungewissheit verunsichert weitaus mehr als reale Bedrohungen.

Daher sollte man Mitarbeitern, um das Sicherheitsgefühl so hoch wie möglich zu halten, jederzeit die absehbare Sach- und Bedrohungslage kommunizieren, zum Beispiel:
„Derzeit gehen wir höchstens von zehn Arbeitsplätzen aus, die gestrichen werden – und selbst die schaffen wir über die normale Fluktuation, respektive mit Altersteilzeit.“
Es hat sich in solchen Szenarien auch bewährt, die kursierenden und von Führungskräften mit einem offenen Ohr durchaus wahrnehmbaren Gerüchte nicht zu ignorieren und nicht „mit keinem Wort zu würdigen“, sondern ganz im Gegenteil offen, direkt, dezidiert, advers und nachdrücklich darauf Bezug zu nehmen.

Gerüchte und Falschmeldungen sollten explizit als solche angesprochen werden: „Ich habe das Gerücht gehört, dass ein Drittel der Belegschaft gekündigt und ein ganzes Zweigwerk geschlossen werden soll. Also ehrlich: Wer verbreitet denn solche Märchen? Wenn ein Drittel geht, können wir die anliegenden Aufträge doch gar nicht mehr bearbeiten! Und wir brauchen alle unsere Werke. Also glaubt solchen Unfug nicht.“ Es erübrigt sich zu erwähnen, dass bei vorbeugender offener Kommunikation allfällige Verunsicherungen erst gar nicht entstehen. Die Mitarbeiter fühlen sich sicher – bei jeder Wetterlage. Weil solide Führung den Wettlauf mit der dynamischen Entwicklung der Hiobsbotschaften nicht verliert, sondern annimmt und jedes Negativ-Gerücht mit (mindestens) einer Widerlegung kontert.

 

Das Survivor-Syndrom

Im schlimmsten Fall müssen Mitarbeiter gekündigt oder andere schwerwiegende Maßnahmen ergriffen werden. Damit enden bestimmt nicht die Sorgen dieser Mitarbeiter, gewiss jedoch ihre Verunsicherung bezüglich ihrer Arbeitsplatzsicherheit: Wenn eine Bedrohung akut wird, verschwinden viele Unsicherheiten bezüglich ihrer Natur – bei den Betroffenen. Was ist mit den anderen? Sind diese glücklich zu preisen? Weil sie verschont wurden? Das scheinen viele Vorgesetzte anzunehmen, dabei ist das Gegenteil der Fall. Bei vielen „Verschonten“ setzt das Survivor-Syndrom ein. Sie fragen sich: „Diesmal haben wir noch Glück gehabt. Aber sind wir dann die Nächsten, wenn es das nächste Mal kracht?“ In der Regel werden sie mit diesen äußerst verunsichernden und geradezu sichtbar Engagement und Leistungsbereitschaft einschränkenden Gedanken, Sorgen und Befindlichkeiten alleingelassen. Solide führende Führungskräfte lassen auch hier niemanden im Regen stehen.
Sie stellen bei den „Überlebenden“ die verlorene oder verloren geglaubte innere Sicherheit wieder her, indem sie mit ihnen sprechen, sie in ihrer Befindlichkeit abholen („Ich kann mir vorstellen, dass Sie verunsichert sind …“) und ihnen jene Perspektiven aufzeigen, die für Führungskräfte dank ihrer gehobenen Position leichter erkennbar sind: „Für die kommenden Monate sieht die Auftragslage ungefähr so aus … Sie sehen also: Ihr Job und Ihr Aufgabengebiet sind absehbar sicher.“

 

Leben und Arbeit in unsicheren Zeiten

Wir leben in einer medialen Kultur der Empörung, Skandalisierung und kunstvollen Eskalation von Bedrohungen. Wer fünf Minuten Nachrichten hört, hört ein Dutzend Bad News. Hinzu kommt, dass der Mensch in sozialen Gruppen seit jeher einen Hang zur Selbstaufwertung mittels „Hast du schon gehört?“, also mittels vorwiegend schlimmer Nachrichten (ob wahr oder nicht) zeigt. Je schlimmer das Gerücht, desto wichtiger fühlt sich der Überbringer der schlechten Nachrichten. Ihm ist die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher. Kaum jemand kann sich dieser Versuchung widersetzen: Aufmerksamkeit ist die soziale Währung des 21. Jahrhunderts. Was Gerüchtemischer selten bedenken: Schocknachrichten zu verbreiten hat eine kaum beachtete Sekundärwirkung. Schocknachrichten verschaffen nicht nur dem Überbringer Aufmerksamkeit, sie verunsichern die Zuhörer auch teilweise massiv.

In so einem dauerhysterisierten Klima die innere Sicherheit der eigenen Mitarbeiter aufrecht zu erhalten, ist ein Wettlauf mit dem disruptiven Zeitgeist. Ein Wettlauf, der sich lohnt. Dem Sieger winkt ein Kulturwandel, nach dessen Vollzug nicht mehr das Spiel
„Wer kennt die schlimmste Nachricht?“ gespielt wird, sondern: Wir konzentrieren uns auf Erfolge, nicht Bedrohungen. Bedrohungen werden behandelt, Erfolge gefeiert. Es liegt auf der Hand, dass die vorgesetzten Betreiber dieses Wandels von ihren Mitarbeitern, von Öffentlichkeit und Gesellschaft in der Regel als „Fels in der Brandung“ wahrgenommen werden. Eine durchaus zutreffende Adelung.

 

Zwischen Kontrolletti und Laissez-faire

Die hohe Dynamik der modernen Wirtschaft und die verbreitete Arbeitsüberlastung zwingen Führungskräfte auf der einen Seite oft dazu, Mitarbeiter ohne jede Maßgabe nach dem Motto „Machen Sie mal! Sie haben mein vollstes Vertrauen!“ in unbekanntes Terrain zu schicken. Auf der anderen Seite gibt es immer noch viele Vorgesetzte der Marke „Kontrolletti“ und „Mikro-Manager“. So berechtigt und selbstverständlich sie auch insbesondere vor dem Hintergrund realer Firmenkulturen erscheinen: Beide Extreme werden von Mitarbeitern schwerlich als ermunternd wahrgenommen. Doch genau das wünschen sich Mitarbeiter von einer soliden Führungskraft: Ermunterung.
Angesichts sonstiger, kostenträchtiger und oft schwerwiegender Entscheidungen und Notwendigkeiten des Führungsalltags erscheint das als recht bescheidener Wunsch – mit allerdings ebenfalls bescheidenem Erfüllungsgrad (60 Prozent). Führung wird oft eher als überkritisch, abgehoben, entmutigend, basisfern, bremsend und gegenüber den Ideen der Mitarbeiter wenig aufgeschlossen empfunden.

Bei einem Dienstleister mit Matrix-Organisation zum Beispiel sind die Ressortleiter der Zentrale auch für die Niederlassungen in der Umgebung zuständig. In den letzten Jahren hat die unschöne Angewohnheit zugenommen, dass Kollegen nach ihrem Besuch der umliegenden Niederlassungen ihr Dienstfahrzeug nicht mehr unmittelbar danach in den Fuhrpark zurückgeben, sondern damit bis zum Feierabend warten. Daher müssen alle, die später kommen und ein Fahrzeug brauchen, mit dem Privat-PKW ihre Dienstreisen erledigen. Eine der regelmäßig betroffenen Abteilungsleiterinnen regt eine Neu-Regelung an, die selbst bei den meisten Kollegen Zustimmung finden.

Eigentlich keine große Sache und alle sind dankbar, dass sich endlich jemand des notorischen Missstandes annimmt. Der Fuhrparkleiter quittiert den Vorschlag mit „Ist nicht meine Baustelle. Regeln Sie das mit der Geschäftsleitung.“ Die Geschäftsleitung lässt via Sekretariat ausrichten: „Der Steuerungskreis fürs Operative trifft sich erst wieder im nächsten Halbjahr.“ Beide Aussagen sind sachlich absolut korrekt und jenseits jeden Zweifels zutreffend. Ebenso zweifelsfrei stellt sich die entmutigende Wirkung bei allen Betroffenen ein. Auf zweifache Weise: „Dann haben wir diesen unerträglichen Zustand wohl noch ein paar Jahre.“ Und: „Verkneif dir künftig Verbesserungsvorschläge. Die will hier sowieso keiner hören.“ Begeisterung hört sich anders an.

Dabei wäre so wenig nötig gewesen, um eine ermunternde Wirkung zu erzielen. Als der von den Kollegen am meisten geschätzte Niederlassungsleiter Wochen später die Zentrale besucht und von der Idee hört, sagt er spontan: „Das ist aber mal eine gute Idee! Das sollten wir dringend weiterverfolgen. Es geht doch nicht an, dass die Leute hier mit ihren Privatwägen in der Gegend herumfahren. Für den Vorschlag mache ich mich stark!“ Einige der Ressortleiter tragen ihm – nur halb scherzhaft gemeint – den Posten des Geschäftsführers an, weil er bei seinen Besuchen der Zentrale immer so eine ermunternde Stimmung verbreitet …

 

Jede gute Leistung ist ihres Lohnes wert

Jenseits des persönlichen Vorsatzes, als Führungskraft doch möglichst und häufig ermunternd zu kommunizieren, bietet sich vor allem mit der Leistungsbewertung ein strukturelles Element der Ermutigung an. Es gibt tatsächlich Vorgesetzte, die ihre Mitarbeiter lediglich zweimal im Jahr bewerten (anlässlich des Mitarbeitergesprächs). Dabei gehen übers Jahr hunderte Möglichkeiten der Ermunterung verloren: Heute schon ermuntert? Und wie oft? Reicht das?

Auch angesichts dessen, dass eine Ermunterung oder Anerkennung einer guten Leistung erst Wochen nachdem die gute Leistung erbracht wurde ihre größte Wirkung allein schon deshalb einbüßt, weil der Ermutigte sich kaum mehr daran erinnern kann: Leistungswürdigung, Anerkennung und Ermunterung wirken am besten, wenn sie zeitnah, das heißt möglichst unmittelbar gegeben werden. Das sprichwörtliche „Gut gemacht!“ direkt nach Leistungserbringung oder bei deren Präsentation ist ein Paradebeispiel dafür. Ebenso sinnfällig wirkt ermunternde Leistungsbeurteilung dann am stärksten, wenn sie nicht pauschal gegeben wird: „Tolle Leistung!“ Solche „Ermunterungen“ entmutigen eher, da sie sich in ihrer Pauschalität und Beliebigkeit selbst entwerten. Ermunterung wirkt umso besser, je aktueller, konkreter und persönlicher sie gegeben wird: „Wie Sie eben mit Ihrer profunden Kenntnis der Projektdaten die Situation im Lenkungsausschuss gerettet haben – Hut ab. Das ist übrigens auch dem Vorstand aufgefallen. Weiter so!“

 

Die 1 %-Entmutigung

Nicht nur der Umfang, sondern auch die Art der Ermutigung beeinflusst solide Führung und damit die Mitarbeiterbegeisterung. Für viele Führungskräfte und in vielen Firmenkulturen ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass bei Präsentationen oder bei der Vorlage von Arbeitsergebnissen grundsätzlich nur das angesprochen wird, was schlecht gelaufen ist: „Über das andere muss man ja nicht reden, das ist ja okay, oder?“ Das ist die Sicht etlicher Führungskräfte.

Die Sicht der Mitarbeiter korrespondiert nicht ganz damit. Sie sind der Meinung: „Du wuppst alles fast perfekt, legst 99 Prozent Zielerreichung vor – aber was hörst du vom Chef? Das eine Prozent, das daneben ging.“ Wie entmutigend. Wie wäre es stattdessen mit verhältnismäßigem Feedback, im wörtlichen Sinne gegeben? Also 99 Prozent positives, ein Prozent kritisches Feedback? Oder zumindest paritätische Rückmeldung?

Einmal ganz zu schweigen von der in weiten Teilen der Praxis vergessenen oder nie angekommenen Führungstechnik des Sandwich-Feedbacks: Erst etwas konkretes Positives erwähnen, dann das Verbesserungswürdige besprechen, dann mit einer weiteren positiven Rückmeldung enden (das Negative ist dann quasi zwischen zwei positiven Sandwich- Hälften eingebettet). Wenn jährlich vom Arbeitgeberverband ein Preis für gelungenes Sandwich-Feedback vergeben würde, gäbe es viele Kandidaten für die Preisvergabe?

 

Die Kick-off-Eröffnung

Großprojekte werden in der Regel mit sogenannten Kick-off-Veranstaltungen gestartet, oft auch mehrtägig. Im Programm dabei sind auch regelmäßig „Wir schaffen das! Das wird ein super Projekt!“-Elemente. Einmal dahingestellt, dass selbst solche Veranstaltungen mächtig frustrieren und misslingen können: Wenn der große Vorstand dem Projektteam unter dem Beifall aller Erfolg wünscht und die Daumen drückt – das ermutigt schon erheblich. Muss es dafür immer ein teurer Kick-off sein?

Was spricht dagegen, dass ein Auftraggeber seinen Mitarbeitern statt „Das muss erle- digt werden. Am besten gestern!“ einige ermutigende Worte mit auf den Weg gibt? Das war eine rhetorische Frage: Angesichts dessen, wie selten Mitarbeiter solche ermunternden Worte hören, offensichtlich recht Vieles und Gewichtiges. Das Mitglied eines Lenkungsausschusses in der Dienstleistungsbranche zum Beispiel, das eher beiläufig solche ermunternden Worte einem Projektteam spendete und darauf von anderen Projektteams zu hören bekam, warum sie von der Geschäftsleitung nicht „angespornt und angefeuert“ würden, räumt ein: „Da merkt man mal wieder, welche Wirkung unsere Worte haben. Wir sollten sie sorgfältiger wählen.“ Sorgfältiger und ermunternder.

 

Freiheitsgrade machen Mut

Freiheitsgrade bei der Arbeit erweitern nicht nur die Selbstverwirklichung, Autonomie und eigene Potenzialentfaltung. Sie ermutigen auch: Freiheit macht Mut. Das heißt nicht, dass man spontan und unüberlegt und ohne Rücksicht auf die Fähigkeiten des einzelnen Mitarbeiters Freiheiten einräumen sollte. Doch viele Mitarbeiter genießen weniger Freiheiten, als ihre Fähigkeiten und Verantwortungsbereitschaft zulassen und geradezu empfehlen würden. Oder wie ein Maschinenbau-Ingenieur in der Konstruktionsabteilung sagt:

„Ich bin Ingenieur. Aber wenn beim Kopierer auf der Etage ein Wälzlager heiß läuft, muss ich erst die Instandhaltung anrufen, um den Kundendienst-Techniker anrufen zu dürfen? Das muss ein Witz sein.“ Das ist es nicht. Es ist lediglich zu wenig Freiheit.
Gegen das Einräumen von Freiheitsgraden wird oft vorgebracht, dass dieses einen Vertrauensvorschuss gegenüber dem Mitarbeiter erfordere. Das ist ein verbreiteter Irrtum. Vertrauen ist ein schlechtes Surrogat für die Kenntnis der Fähigkeiten eines Mitarbeiters.

Wer ungefähr weiß, was ein Mitarbeiter „drauf hat“, kann auch ungefähr einschätzen, wie viel Freiheit er nutzen kann und von wieviel Freiheit er überfordert wäre. Demgemäß kann ein weitsichtiger Vorgesetzter auch zuverlässig einschätzen, was er dem Mitarbeiter anweisen sollte und wofür er ihm besser freie Hand (in definierten Grenzen) gibt. „Selbstorganisation“ ist kein Dorf ihn Böhmen, sondern Ausdruck definierter Freiheitsgrade, innerhalb derer ein Mitarbeiter sich die Arbeit nach seinem fachkundigen Dafürhalten organisieren kann und darf – was ihn ermutigt, begeistert und in Konsequenz via Leistungsergebnissen seiner soliden Führungskraft zu Gute kommt.

 

Ermunterung in digitalen Zeiten

Die Digitale Transformation kommt in vielen Unternehmen auch deshalb eher zäh voran, weil das Digitale radikal neu und disruptiv ist, noch kaum Kompetenz dafür vorhanden ist

 

Moderne Zeiten mit bewährten Werten 201

und daher zwangsläufig viele Fehler gemacht werden. Nicht umsonst lautet ein Motto der Digitalisierung „Fail fast!“ In vielen Unternehmen herrscht dagegen noch die alte Fehlerkultur: Wer Fehler macht, wird bloßgestellt. Das wirkt extrem entmutigend.
Fehler sind in diesem Kontext nicht: Katastrophe, Niedergang, Unfall, Ausfall. Fehler sind wenig erfolgreiche Versuche auf dem Weg zu Neuem. Ermutigung in digitalen Zeiten heißt deshalb nicht nur, seine Mitarbeiter aufzufordern, mal etwas Neues, Digitales auszuprobieren. Es heißt vor allem, sie gegen allfällige Fehler zu wappnen und zu versichern:

„Wenn das schiefgeht – nicht so schlimm. Wir irren uns voran (eine schöne Übersetzung von Fail fast!). Nur so können wir die nötige digitale Erfahrung sammeln, die wir für letztendlichen Erfolg brauchen.“ Das ermutigt.

Ein alter Management-Mythos berichtet von einem IBM-Ingenieur, die bei einem ehr- geizigen Projekt eine Million Dollar in den Sand gesetzt hat, daraufhin mit dem Hut in der Hand beim Vorstand erscheint und seine Entlassung anbietet, worauf der Vorstand entrüstet erwidert: „Sind Sie verrückt? Wir haben eben eine Million Dollar in Ihre Kompetenzentwicklung investiert. Das, was Sie dabei dazugelernt haben, das schenken wir jetzt doch nicht der nächsten Firma, die Sie einstellt!“ That’s the spirit. Das exkulpiert und ermutigt. Das heißt nicht, dass man Fehler durchgehen lassen oder unter den Teppich kehren soll – das hat der IBM-Vorstand auch nicht. Er hat einen Fehler einen Fehler genannt. Aber er hat das Beste daraus gemacht – und dazu zählt auch die Ermunterung eines Mitarbeiters, der ohnehin wegen seines Fehlers niedergeschlagen genug ist. Solide Führung setzt auf diesen Frust nicht noch einen oben drauf (man tritt keinen, der schon am Boden liegt, obwohl das in vielen Firmen nahezu Betriebssport sein soll). Solide Führung ermutigt.

 

Moderne Zeiten mit bewährten Werten

Wir leben und arbeiten in modernen Zeiten. Das heißt jedoch nicht, dass moderne Führungskräfte atemlos ständig wechselnde Führungsmoden mitmachen müssten. Denn die Prinzipien einer soliden Führung sind angenehm bekannt, wenig modisch kurzlebig und seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten bewährt – eben grundsolide. Sie stützen sich auf traditionelle Werte, die wir alle kennen und teilen. Jetzt müssen wir sie lediglich noch im selben Maße anwenden und praktizieren. Es lohnt sich. Denn so lange, wie diese Werte und Prinzipien schon existieren und wirken, so lange Zeit werden sie absehbar auch noch in Zukunft gültig sein und ihre begeisternde Wirkung entfalten.

Es geht mithin nicht darum, ständig neue Führungsmoden und -stile zu kreieren, zu konzipieren, mit möglichst viel Pomp medial zu inszenieren, die Fachdiskussion in Publikationen und auf Fachkongressen monatelang zu befeuern und den Trainingsmarkt mit noch einem budgetträchtigen Impuls zu versorgen – es sei denn, man hätte ein wirtschaftliches oder modisches Interesse daran, was in einer freien Wirtschaft niemandem übel genommen werden kann. Alle anderen Führungskräfte und Führungsexperten werden froh sein, dass das eigentlich Altbekannte und Bewährte sich jetzt auch empirisch und repräsentativ nachweislich als so gut erweist, wirksam und begeisternd ist, wie sie schon lange ahnten oder im besten Falle praktizierten. Das Beste, was Führung sein kann ist schlicht: solide.

 

Literatur

Backovic, L. (2019). https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/the_shift/serie- ratgeber-zeitmanagement-diese-frau-behauptet-ein-chef-muss-nur-zwei-stunden-am-tag-fueh- ren/24979386.html. Zugegriffen am 12.11.2019.
Brebaum, M., & Richter, C. (2019). https://www.informatik-aktuell.de/management-und-recht/ projektmanagement/als-selbstorganisiertes-team-entscheiden-lernen.html. Zugegriffen am 21.11.2019.
Kister, K. (2019). „Dummheit und Maßlosigkeit“. Brief aus der SZ-Chefredaktion vom 11.10.2019.

 

 

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