Buchauszug Frank Behrendt/Bertold Ulsamer: „Von Kindern lernen. Wie uns kindliche Perspektiven gelassener, glücklicher und erfolgreicher machen.“

Buchauszug Frank Behrendt / Bertold Ulsamer: „Von Kindern lernen. Wie uns kindliche Perspektiven gelassener, glücklicher und erfolgreicher machen“

 

Bertold Ulsamer  und Frank Behrendt (l.), Foto: Privat)

 

Hinterfragen, oder: Wer nicht fragt, bleibt dumm

In der Arbeitswelt erledigen viele ihre Jobs mit voreingestelltem Navi. Statt zu (hinter-)fragen, wird erledigt. Kinder fragen ohne Ende – warum hören wir damit auf?

 

Frank Behrendt

„Der, die, das – wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Mit dem legendären Song der Sesamstraße haben alle meine drei Kinder ihre Fernseh-Konsum-Karriere gestartet. Und wenn Holly zu ihrem typischen „Papa, ich hab da mal eine Frage…“ ansetzt, läuft dieser Song automatisch als Endlos-Repeat in meinem Hinterkopf ab.

Der britische Online-Händler „Littlewoods“ gab im Jahr 2013 eine spannende Studie in Auftrag, bei der es um das Frageverhalten von Kindern ging. Herauskam, dass Mädchen im Alter von vier Jahren die Frageweltmeisterinnen sind. Stolze 390 Fragen stellen die Knirpse ihren Eltern durchschnittlich pro Tag. Alles wird in Frage gestellt und das ist gut so, denn nur so lernen die Kleinen die Welt verstehen und entdecken neue Perspektiven. Dummerweise verlernen wir mit fortlaufendem Alter die Fragerei. Der Grund? Am Ende hat es etwas mit unserem Bildungssystem zu tun: Belohnt wird, wer die richtige Antwort weiß. Wer die besten Fragen stellt, bekommt dagegen kein Sternchen. Fragen sind schließlich ein Privileg des Lehrkörpers.

An meiner Tochter Holly bewundere ich, dass es ihr herzlich egal ist, ob man fragen darf oder nicht. Sie fragt einfach alle und alles. Schon im Kindergarten fiel sie dadurch auf, dass sie Dinge infrage stellte. Wenn andere Kinder und ihre Eltern es als selbstverständlich akzeptierten, dass es eine Delfin-, eine Löwen- und eine Igel-Gruppe gab, fragte Holly, wieso es denn keine Pferde- oder Elefanten-Gruppe gab, denn ein Igel wollte sie eigentlich nicht sein. Als wir vor der Einschulung das Angebot an Schulranzen begutachteten, fragte Holly die Verkäuferin im alteingesessenen Fachgeschäft, wieso es kein Modell mit freundlichen Monstern gab. Die Dame machte ein Zitronengesicht und bemerkte: „Mädchen mögen am liebsten Pferde und Elfen“. Holly überzeugte das nicht und daher kauften wir einen eigentlich für Jungen gedachten Ranzen, auf dem jede Menge fröhliche Dinosaurier ihr Unwesen trieben.
In unserer Erwachsenenwelt neigen wir dazu, Dinge zu verkomplizieren – vermutlich um ihnen und uns eine größere Bedeutung zu geben. Holly liebt es, mit mir ins Büro zu kommen. Bewaffnet mit Malblock und Stiften war sie kürzlich wieder mit mir im Kölner Haus der Kommunikation der Agentur Serviceplan zu Gast.

Nachdem sie ein Bild gemalt hatte, stiefelte sie durch die Großraumbüros und fragte einige Kolleginnen unserer Media-Agentur, die mit mir auf der gleichen Etage sitzen, was sie da eigentlich machen. „Ähm, ja, also wir, im Grunde schalten wir…“ Gar nicht so einfach, einem Kind Mediapläne und das Buchen von Kontingenten in wenigen Worten verständlich zu machen. Nachdem Holly die ersten Erklärungsversuche mit einem „Verstehe ich nicht“ quittierte, verließ eine Kollegin, die alle nur „Charlie“ nennen, kurzerhand den Raum. Sie kehrte mit einem Stapel Pferdezeitschriften zurück und schlug eine Seite mit einer Anzeige in der „Wendy“ auf: „Schau mal, Holly, wir bringen diese Werbung für den tollen Playmobil-Reiterhof in die Pferdezeitung, damit die Mamis und Papis ganz viele Reiterhöfe für Mädchen wie dich kaufen. Und dafür kriegen wir etwas Geld davon ab.“ Holly nickte, strahlte und fragte, ob sie die „Wendy“ haben könnte. Sie konnte…

Warum wir alle mehr (hinter-)fragen sollten und wieder lernen müssen, Kompliziertes in einer immer komplexer werdenden Welt einfach zu erklären, davon handelt dieses Kapitel.

Albert Einstein gilt als genialer Geist und hat zur Kunst des klugen Fragens einen, wie ich finde, genialen Satz gesagt: „Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, und mein Leben hinge davon ab, eine Lösung zu finden, würde ich die ersten 55 Minuten damit verbringen, die richtige Frage zu suchen, denn mit der richtigen Frage kann ich das Problem in weniger als fünf Minuten lösen.“

 

Bertold Ulsamer

Wer nicht fragt, bleibt dumm! Kinder stellen noch, wie gerade erfahren, bis zu stolze 390 Fragen und mehr pro Tag. Alles wird infrage gestellt, zu allem wird eine Frage gestellt und das ist gut so, denn nur so lernen die Neuankömmlinge die Welt zu verstehen. Wir Alten aber haben „dummerweise“ mit den fortlaufenden Jahren die Fragerei verlernt. Der Grund? Wann und warum haben Sie selbst aufgehört ernsthaft zu fragen (außer rhetorische Fragen natürlich, bei denen die Antwort schon vorgegeben ist)? Können Sie sich noch erinnern? Warum fragen Sie wenig oder gar nicht? „Wann fängt das Meeting an?“ und „Wie soll das Wetter morgen werden?“ zähle ich übrigens nicht zu den relevanten Fragen.

 

Keiner will dumm erscheinen

Um die Antwort zu finden, genügt eine einfache Vorstellung: Sie sitzen seit Stunden im Meeting, hören den weitschweifigen Ausführungen Ihres Chefs zu, die Sie im Grunde nicht wirklich verstehen, und dann heben Sie die Hand und fragen nach: „Das habe ich jetzt nicht begriffen. Was genau meinen Sie?“ Peinlich, nicht wahr? Wenn dann in der Kaffeepause einige Kollegen miteinander tuscheln, können Sie sich schon vorstellen worüber und über wen. Wer eine solche Frage stellt, offenbart damit, dass er etwas nicht weiß oder nicht verstanden hat. Krass ausgedrückt, zeigt er damit, dass er „dumm“ ist. Und wer will schon im Unternehmen und überhaupt als Erwachsener im Leben dumm erscheinen? Die Lehrer in der Schule machen es einem vor. Sie wissen auf alles die Antwort – oder tun wenigstens so. So viel wie die will ich auch wissen und können, nimmt sich dann ein Kind vor.(…)

 

Frank Behrendt | Bertold Ulsamer „Von Kindern lernen Wie uns kindliche Perspektiven gelassener, glücklicher und erfolgreicher machen“ 2020, 230 Seiten, 17,99 Euro https://www.springer.com/de/book/9783658279349?gclid=CjwKCAjwgbLzBRBsEiwAXVIygJnILWrb3VnYpByBJECBoejYcISwJUSYmiew-NvVIWUqXG0hFsACexoCDfsQAvD_BwE 

 

Für Kinder ist die Welt nicht nur ein endloser Abenteuerspielplatz, sondern erst einmal – auch – eine große Überforderung. Denn sie kommen hilflos und unwissend auf dieser Welt an, völlig abhängig von den Mitmenschen. Sie wissen, dass sie allein verloren wären. Deshalb schreien die kleinen Kinder im Kaufhaus auch so mörderisch, wenn sie die Mama nicht mehr finden. Dazu braucht ein Kind keine großartigen intellektuellen Überlegungen anzustellen. Der Organismus gerät einfach in Panik. Dieses am Anfang völlig hilflose und unwissende Wesen meistert irgendwann den Straßenverkehr, die Schule und das Handy. Eigentlich nur zum Staunen – irgendwie unvorstellbar, was dieser kleine Mensch in so kurzer Zeit aufgenommen und verinnerlicht hat. Und das ist nicht etwa der Weg eines genial Begabten, sondern wir alle haben ihn hinter uns gebracht.

Kinder stellen alles infrage und so lernen die Kleinen die Welt verstehen und entdecken. Holly hat Glück. „Papa, ich hab da mal eine Frage…“ und der Papa freut sich über das wissbegierige Töchterlein. Sie wird zu ihren Fragen ermuntert, ja, sie kann stolz sein, dass sie so viel fragt.

Wie die Umwelt auf Fragen reagiert, macht einen so großen Unterschied. Kinder hören auch Sätze wie „Frag nicht so dumm!“ und sehen dabei das gestresste Gesicht von Mutter und Vater. Oder ein Kind bekommt neunmal geduldig seine Frage beantwortet. Aber beim zehnten Mal kommt eine Reaktion wie „Du gehst mir gerade so auf den Geist. Kannst du nicht mal einen Moment still sein und aufhören zu fragen!“ Dieser Schock, diese eine negative Erfahrung, überschreibt die neun positiven vorher. Die meisten von uns kennen solche Erlebnisse aus der Kindheit, auch wenn sie sich nicht mehr konkret daran erinnern. Aber sie spüren es noch in ihren Zellen – daher die Vorsicht, „dumme“ Fragen zu stellen.

 

Wie wir frühe Wunden kompensieren

Ich erinnere mich an eine peinliche Erfahrung meiner Kindheit: Kaffeekränzchen meiner Mutter mit ihren Nachbarinnen. Tratsch und Klatsch und als ein Höhepunkt folgte eine lustige Geschichte vom kleinen Bertold – was er da gesagt, gefragt oder getan hat. Schallendes Gelächter. Und ich als kleiner Junge irgendwo am Rand völlig beschämt, weil ich den Grund des Lachens nicht verstand. Was war denn so witzig an mir gewesen? Ich spürte die brennende Peinlichkeit und kam mir einfach nur dumm vor.

Aus solchen Gefühlen der Beschämung erwächst ein ganz großer Antrieb, nie mehr dumm erscheinen zu wollen. Dazu muss jemand ganz viel lernen und immer schlauer werden, am besten dann als Professor oder Wissenschaftler Karriere machen. Das ist dann der endgültige Beweis: Jetzt sieht die Welt, dass er nicht dumm, sondern klug ist!
Negative Erfahrungen in der Kindheit werden so der versteckte Antrieb zu späteren Höchstleistungen. Wer ganz besonders schlau sein will, kämpft gegen das gegenteilige Gefühl tief in seinem Inneren an.

Die gleichen Mechanismen der Psyche wirken auch bei anderen Themen. Wem etwas über alles geht, der bekämpft damit meist eine entgegengesetzte Seite in sich, die sich ganz und gar wie das Gegenteil anfühlt. Wer von allen bewundert werden will, will eine Seite in sich nicht wahrhaben, die sich unscheinbar und ignoriert vorkommt. Wer verbissen nach Macht sucht, der versteckt die Seite in sich, die sich ohnmächtig und hilflos fühlt. Wer unbedingt gemocht werden will, fühlt sich in der Tiefe nicht geliebt und zweifelt daran, liebenswert zu sein.

Der Ursprung sind alte Erfahrungen und Erinnerungen, die sehr weit zurückreichen. Jeder von uns kennt alle oder die meisten dieser Themen. Niemand will unscheinbar, ohnmächtig oder ungeliebt sein. Aber oft hat jemand einen klaren Favoriten. Was ist Ihr Favorit? Sie erkennen Ihre Themen übrigens auch an Ihren Urteilen über andere Leute. Je stärker Sie jemanden für bestimmte Eigenschaften verurteilen, desto mehr ist diese Qualität auch ein geheimes Thema bei Ihnen. Der andere ist dann die „Projektionsfläche“, auf der Sie gut etwas über sich selbst entdecken können. Donald Trump ist beispielsweise eine solche hervorragende Projektionswand. Natürlich hat er eine Menge von Eigenschaften, die auch ich nicht gut finde. Je mehr Sie aber über ihn schimpfen oder sich über ihn mokieren und sich besser vorkommen als er, desto mehr zeigen Sie, wie wenig Sie eigentlich von sich selbst und Ihren versteckten Tiefen wissen. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber das muss in diesem Kontext erwähnt werden.(…)

 

Frank Behrendt

Warum es richtig und wichtig ist, Fragen zu stellen, und wie sie einen weiterbringen:

• Abläufe hinterfragen: Ich bin oft und gerne in den sozialen Netzwerken unterwegs. Seit die junge Schwedin Greta Thunberg die „Fridays for Future“-Bewegung in Gang gebracht hat, fragen die Schülerrinnen und Schüler in unserem Land mehr denn je. Ihre Fragen sind dabei elementarer Natur, denn es geht um nicht weniger als um ihre Zukunft. Diejenigen, die Antworten geben sollten, vor allem Politiker, haben aus Sicht der Fragenden zu wenige. Auf Facebook, Twitter und Co. hat Greta eine große und vielschichtige Diskussion ausgelöst. Im Fokus steht dabei der Klimaschutz.(…)

Überlegen Sie doch mal, welche drei typischen Abläufe und Rituale in Ihrem ganz persönlichen Joballtag hinterfragt werden sollten. Und dann notieren Sie sich die Fragen. Und bei einem der nächsten Teammeetings können Sie die Fragen mal zur Diskussion stellen. Die Antworten werden weiterhelfen. Entweder sie bestätigen, dass der Ist-Zustand von der Mehrheit als positiv erlebt wird, oder es beginnt ein Prozess der Veränderung. Beides ist gut. Erfahrungsgemäß gibt es immer etwas zu optimieren oder zumindest nachzujustieren. Aber ohne eine Frage passiert nichts – und das ist in der Regel kein Fortschritt.

Und: Ob der nächste Business-Flug sein muss, dürfen Sie sich auch gerne immer fragen. Wenn Sie die Frage mit „Ja“ beantworten, können Sie darüber nachdenken, ob Sie die Reise klimaneutral machen und für den verursachten CO₂-Ausstoß einen Ausgleich schaffen wollen. Ich mache das seit geraumer Zeit so – auch für unsere Urlaubsreisen – und auch Holly hat Freude daran, mit mir den Rechner auf der Plattform www.myclimate.de zu nutzen und mitzuentscheiden, welches Projekt wir unterstützen.(…)

• Azubis fragen lassen: Ein langjähriger Personalberater erzählte mir einmal vom „ältesten Azubi der Welt“. (…)

Er setzte einen Pensionär ein, der die Firma von früher kannte und der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters „unverdächtig“ schien. Er wurde als „Pate der Auszubildenden“ eingesetzt und ging jede Woche in eine andere Einheit der Firma. Seine Kernaufgabe lautete: Fragen. Und so (hinter-)fragten der „Seniorige“ und die jungen Azubis bei den Mitarbeitern alles Mögliche – ohne Scheu und die typische „Das haben wir schon immer so gemacht“-Attitüde. Das Ergebnis war beeindruckend. Weil der nette ältere Ex-Kollege und die unbefangenen Youngster so nett daherkamen, berichteten die Mitarbeiter frank und frei von den Dingen, die nervten und optimiert werden könnten. Eine interne Arbeitsgruppe analysierte sie, erarbeitete Verbesserungsvorschläge und die wurden dann umgesetzt. Der Ex-Mitarbeiter bekam zum Dank eine Reise mit seiner Frau und die Azubis eine Party. Win-win für alle. Vielleicht machen Sie es einmal ähnlich in Ihrem Umfeld.
(…)

 

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