Buchauszug Christoph Lixenfeld: „Schafft die Pflegeversicherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen.“

Buchauszug Christoph Lixenfeld: „Schafft die Pflegeversicherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen.“

 

 

Christoph Lixenfeld (Foto: Rowohlt/Bernhard Ludewig)

 

Lukrativer als Drogenhandel und Prostitution: Warum Betrug in der ambulanten Pflege so einträglich ist

«Wir haben da einfach ein grundsätzliches Problem.»

«In der ambulanten Pflege scheinen Betrügereien eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Die AOK Hessen stellte bei der Überprüfung von 307 ambulanten Pflegediensten im Land fest, dass etwa jeder zweite falsch abrechnete.»

Diese Passage stammt aus meinem ersten Buch zum Thema Pflege, das 2008 erschien.

Im Februar 2019 zitierte „Stern.de“ den Berliner Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel mit dem Satz: «Mit Betrug in der Pflege verdient man so gut wie im Drogenhandel, es ist nur weniger gefährlich.»[53]
Dieser Vergleich ist keineswegs übertrieben, und er verdeutlicht, dass in den elf Jahren, die zwischen den beiden Beschreibungen der Zustände in der ambulanten Pflege liegen, niemand den Betrügern das Handwerk gelegt hat, ja dass das Problem im Gegenteil mittlerweile erschreckende Ausmaße annimmt.
Laut Bundeskriminalamt erleichtern bandenmäßig agierende Pflegedienste, Ärzte, Apotheker und Sanitätshäuser unsere Sozialsysteme mittlerweile um Milliarden. Unzählige Frauen aus Osteuropa würden nicht mehr für das Sexgewerbe nach Deutschland geholt, sondern für die Pflegebranche.[54]

 

Niemand durchblickt das System wirklich

Dass der deutsche Pflegemarkt «generell anfällig» für Betrugsstraftaten ist, wie es das BKA einmal ausdrückte[55], liegt daran, dass seine Strukturen absurd komplex sind. Denn Akteure des Systems sind nicht nur Kranken- und Pflegekassen, sondern auch Rentenversicherer, Sozialämter, Pensionsstellen, Grundsicherungsämter, Beihilfestellen etc. pp. Und weil es in Deutschland diesen unvergleichlichen Föderalismus gibt, verteilen sich die Zuständigkeiten noch dazu auf verschiedene Bundesländer, die Regeln und Tarife höchst unterschiedlich festlegen.

 

All das führt dazu, dass heute buchstäblich niemand in der Lage ist, dieses System mannigfacher, unlogischer, dabei streng reglementierter Zuteilung, dieses Durcheinander von Verantwortlichkeiten und Zahlungsströmen vollständig zu durchblicken: die Pflegekassen nicht, die Sozialämter nicht, und die Staatsanwaltschaften auch nicht. Das ganze System sei «überhaupt nicht kontrollierbar» und ein «Einfallstor für versehentliche oder absichtliche Falsch- und Doppelabrechnungen», wie Transparency International bereits 2013 anmerkte.[56]

 

Wie man sich unschwer vorstellen kann, durchblickt das Gros der eigentlichen Hauptdarsteller dieser Tragödie, die Pflegebedürftigen, das System noch viel weniger als die Experten. Diese Tatsache machen sich einige Pflegedienste zunutze, indem sie zum Beispiel ambulante Leistungen abrechnen, obwohl der Kunde zur betreffenden Zeit im Krankenhaus lag. Oder man lässt sich für den Monat sechzehn Hausbesuche quittieren, obwohl es de facto nur zehn waren. Pflegebedürftige müssen die Leistungen einmal in der Woche – und zum Teil sogar nur einmal im Monat – gegenzeichnen. Wie sollen sich da alte, zum Teil verwirrte Menschen merken, wie oft die Pflegerin montags bei ihnen war und wie oft mittwochs?

 

Manche Betrüger lassen sich die Blankonachweise unterschreiben, in die sie dann später nicht erbrachte Leistungen eintragen. Oder sie beschäftigen einen der Angehörigen per Untervertrag als 450-Euro-Kraft, stellen der Kasse aber das volle Honorar einer Pflegefachkraft in Rechnung und bereichern sich so an der Mithilfe der Familie.

 

Das Problem ist so virulent und allgegenwärtig, dass Verbraucherzentralen dazu Merkblätter mit Warnhinweisen herausgeben.

 

Manche Familien verdienen mit

Wobei es auch Familien gibt, die solche Hinweise nicht benötigen, weil sie nicht nur das System verstanden haben, sondern auch an der Abzocke mitverdienen.
Was es dazu braucht, ist ein Pflegedienst, der mit der Kasse eine professionelle ambulante Versorgung abrechnet, obwohl der Pflegebedürftige in Wahrheit von den Angehörigen gepflegt wird. Bei Pflegegrad 3 erhält der Dienstleister monatlich 1298 Euro von der Kasse. Gibt er der Familie davon 800 ab, verdient er 498 Euro mit Nichtstun, und die Familie hat deutlich mehr als jene 545 Euro Pflegegeld, die sie auf legalem Wege bezogen hätte. Bei zwanzig solcher Fälle verdient der Pflegedienst damit fast 10000 Euro im Monat.

 

Am besten laufen diese Deals natürlich, wenn der Betreffende gar nicht pflegebedürftig ist oder nur ein kleines bisschen, wenn seine Versorgung also wenig Arbeit macht und die Kasse trotzdem reichlich bezahlt.

 

Die Schäden gehen in die Milliarden

Möglich wird diese Abzocke mit Hilfe eines gewissen schauspielerischen Talents – und der erwähnten Bandenstrukturen: Beim Besuch des Medizinischen Dienstes, der über den Pflegegrad und damit über die Höhe der Zahlung entscheidet, präsentiert ihm die Familie einen maladen, mäßig gepflegten alten Menschen, der vorher haarklein instruiert, ja zum Teil mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurde. Ärzte haben ihm eine ganze Reihe von Krankheiten und Alterserscheinungen attestiert, verschriebene Medikamente liegen auf dem Tisch.

Die Masche funktioniert so gut, weil dabei alle unter einer Decke stecken: Familie, Pflegedienst, Arzt, Apotheke und Sanitätshaus bescheinigen sich gegenseitig Leistungen, die nie oder nur zum Teil erbracht wurden, und rechnen sie ab. Betrogen wird dabei nicht nur die Pflegeversicherung, denn der Arzt hat zusätzlich Krankenkassenleistungen verordnet. Und wenn der angeblich Pflegebedürftige mehr Hilfe braucht, als die Pflegeversicherung bezahlt, und die Rente dafür nicht reicht, dann springt das Sozialamt ein.

 

Das heißt, der Reibach der Betrüger stammt sowohl aus Beiträgen zur Pflege- und Krankenversicherung als auch aus Steuermitteln.
Entsprechend groß sind die Schäden, deren Höhe sich zwar nicht exakt beziffern, wohl aber aus der angenommenen Schadenshäufigkeit hochrechnen lässt. Der Berliner Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, sagte 2017 dem Deutschlandfunk, wenn man nur annehme, dass jede zehnte Abrechnung betrügerisch sei, dann komme man schnell auf einen Gesamtschaden zwischen zwei und zehn Milliarden Euro jährlich.[57]

 

Solche Zahlen erscheinen vor allem dann realistisch, wenn man den mit Abstand lukrativsten Zweig dieser Geschäfte mit einbezieht: die außerklinische Versorgung von Intensivpatienten. In Deutschland bekommen ungefähr 19000 Menschen, die Schwerstpflegefälle sind und im Wachkoma liegen oder künstlich beatmet werden, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung in den eigenen vier Wänden. Die Pflege dieser Patienten ist enorm aufwendig, weil dabei sündteure medizinische Geräte zum Einsatz kommen, weil der Personalaufwand hoch ist und weil diesen Job nur dafür ausgebildete Fachkräfte machen dürfen.
Die Kassen bezahlen für jeden dieser Fälle pro Monat etwa 20000 Euro, eine Summe, die Pflegedienste anlockt wie Licht die Motten.

 

Christoph Lixenfeld: „Schafft die Pflegeversicherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen.“ 224 Seiten, 12 Euro, Rowohlt Verlag. https://www.rowohlt.de/buch/christoph-lixenfeld-schafft-die-pflegeversicherung-ab.html

 

 

Je mehr Geld fließt, desto mehr lässt sich abzweigen

Mehr als 1400 Unternehmen bieten in Deutschland mittlerweile solche Leistungen an, und ihre Zahl wächst deutlich schneller als die konventioneller Pflegedienste.[58]
Außerdem tummeln sich in diesem Segment ähnlich wie bei den Heimen immer mehr internationale Investoren – ein sicheres Zeichen, dass die Renditen (zu) hoch und die wirtschaftlichen Risiken niedrig sind.

 

Wofür sich Investoren besonders interessieren, sind Intensivpflege-WGs, Wohnungen, in denen meist vier bis acht Patienten gemeinsam versorgt werden. Der Vorteil dieser Einrichtungen liegt darin, dass pro Bewohner nicht nur weniger Fläche, sondern auch weniger Personal benötigt wird. Aktuell gibt es fast 1000 solcher Wohngemeinschaften in Deutschland, Tendenz auch hier stark steigend.[59]
Dass die Intensivpflege und besonders entsprechende Wohngemeinschaften nicht nur für Investoren, sondern auch für Betrüger der einträglichste Zweig der ambulanten Versorgung sind, hat einen profanen Grund: Je mehr Geld fließt, desto mehr lässt sich abzweigen.

 

Findet die Intensivpflege in der eigenen Wohnung statt, kann es vorkommen, dass die Betreuer lediglich zwei- bis dreimal am Tag vorbeischauen, anstatt rund um die Uhr präsent zu sein. Das ist für den Patienten zwar gefährlich, und es hat auch schon Anklagen wegen fahrlässiger Körperverletzung gegeben, aber sogenannte Cash-Back-Zahlungen an die Familien sorgen dafür, dass niemand allzu laut protestiert oder die Sache gar an die große Glocke hängt.

 

In Pflege-WGs besteht der Betrug vor allem darin, zu wenig oder völlig unterqualifiziertes Personal einzusetzen – gefälschte Ausbildungszeugnisse machen’s möglich.

 

Pro Bewohner sind 10000 Euro Überschuss drin

Eine fiktive Beispielrechnung verdeutlicht die Dimensionen: Ein Intensivpflegedienst, der eine WG betreibt, hinterzieht pro Bewohner und Monat 10000 Euro, das heißt sein personeller und organisatorischer Aufwand ist nur halb so hoch wie das, was die Kasse ihm vergütet. Dieser Betrag ist keineswegs unrealistisch hoch angesetzt, es gibt Experten, die von höheren Margen ausgehen. Bei sechs Patienten in der WG summiert sich der Betrug auf 60000 Euro pro Monat oder 720000 im Jahr, und das in einer einzigen Intensivpflege-WG.

 

Auch diese Art von Kriminalität verdanken wir den Fehlanreizen des Systems. Egal, ob ehrlich oder unehrlich, alle beteiligten Pflegedienste verdienen dann am besten, wenn ihre Patienten möglichst dauerhaft beatmungspflichtig und damit von ihnen abhängig bleiben.

 

Dabei könnte nach Ansicht von Fachleuten zumindest ein Teil dieser Patienten durchaus lernen, wieder selbständig zu atmen. Der Verband der Betriebskrankenkassen meinte in einem Statement vom Juli 2019 sogar, dass man durch eine Entwöhnung dauerhaft künstlich beatmeter Patienten von den Maschinen zusätzlich 9500 Altenpfleger für die ambulante oder stationäre Versorgung gewinnen könnte.

 

Die Täter sind schwer zu überführen

Dass von Zeit zu Zeit Fälle von Pflegebetrug aufgedeckt werden, ändert nichts an der Tatsache, dass die Täter schwer zu überführen sind. Denn der Betrug findet zum Großteil in privaten Räumen statt, und die sind in Deutschland sehr gut vor staatlicher Kontrolle geschützt. «Deswegen haben wir da einfach ein grundsätzliches Problem», wie Karl-Josef Laumann, der damalige Pflegebeauftragte der Bundesregierung, 2016 feststellte, als mal wieder ein großer Betrugsfall aufgeflogen war.[60]

 

Auch hinterzogenes Geld zurückzuholen ist nicht einfach. Manch überführter Betrüger meldet für seinen Pflegedienst Insolvenz an und entzieht sich so dem Zugriff der Kassenermittler – um wenig später eine neue Pflegefirma in einem anderen Bundesland zu eröffnen. Dass er dort oft ohne Probleme eine Zulassung erhält, liegt daran, dass sich die Krankenkassen nur selten untereinander über kriminelle Pflegedienste und andere Betrüger austauschen, eine bundesweite Betrugsdatenbank gibt es nicht.[61]

 

Verluste der Pflegekassen sind den Krankenkassen egal

Ein Grund für die weitgehende Tatenlosigkeit der Krankenkassen dürfte das schizophrene Verhältnis zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung sein. Letztere wird zwar gerne als vierte Säule unseres Sozialversicherungssystems bezeichnet – neben Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Doch fehlt dieser Säule das Fundament: Die Pflegeversicherung verfügt nicht über Strukturen, mit denen sie prüfen, zertifizieren und Geld eintreiben könnte. All das soll – so die Theorie – die Krankenversicherung für sie miterledigen. Diese Konstruktion hatte man gewählt, um für die Pflegeversicherung keine zusätzlichen Verwaltungsstrukturen schaffen zu müssen.

 

Absurd und schädlich ist das deshalb, weil die Pflegekasse damit von einer Organisation abhängig ist, die sich für ihre Interessen konstruktionsbedingt wenig interessiert. Macht die Pflegekasse Verluste – zum Beispiel weil die Versorgung im Heim immer teurer wird –, kann das der Krankenkasse egal sein, weil es keinen Einfluss auf den eigenen Beitragssatz hat.

 

Um den möglichst niedrig zu halten, sparen die Krankenkassen sogar auf Kosten der Pflegekassen, zum Beispiel indem sie Pflegebedürftigen keine Reha bezahlen. Muss der Betreffende dann ins Heim umziehen, geht das ausschließlich zu Lasten der Pflegekassen.

 

Die Kontrollen sind Teil des Problems

Wann immer über Betrug in der ambulanten Pflege berichtet wird, erheben Politiker, Kassen und Verbände die Forderung nach mehr, effektiveren oder anderen Kontrollen. Die AOK Hessen hatte vor einigen Jahren – als Konsequenz aus einem Betrugsfall – öffentliche Prüfberichte einer neutralen Stelle vorgeschlagen, beispielsweise durch die Stiftung Warentest.

 

Und tatsächlich wird heute deutlich mehr kontrolliert als etwa vor zehn Jahren. Dass die Abzocke dennoch nicht weniger geworden ist, sondern mehr, beweist, dass es damit nicht getan ist, solange wir das System, das dem Betrug Vorschub leistet, unangetastet lassen. Eine Maschine, die von Grund auf fehlkonstruiert ist, wird nicht dadurch zum Wunderwerk, dass man ihre Funktionen öfter und intensiver checkt.

 

Was es in Deutschland nicht gibt, ist eine funktionierende Selbstkontrolle, was daran liegt, dass die Beziehung zwischen den Akteuren ein Dreieck bildet:
Akteur A – die Pflegekasse – bezahlt Akteur B – den Pflegedienst – für eine Hilfsleistung, die Akteur C – der Pflegebedürftige – bekommt. So ziemlich überall dort, wo es eine solche Konstruktion gibt, wird betrogen. Erhält der Pflegebedürftige dagegen Geld statt einer zugeteilten Hilfe beim Waschen oder Essen, kann er mit diesem Geld genau die Hilfen einkaufen, die er braucht – ohne Rücksicht auf Leistungskatalog und Verrichtungsbezug. Und dann wird er auch selbst darauf achten, nicht über den Tisch gezogen zu werden, sodass jeder Dienstleister, der Geld verdienen will, schlicht gute Arbeit leisten muss.

 

Kritiker werden an dieser Stelle einwenden, dass es diese Möglichkeit ja gibt, dass Familien mit dem Pflegegeld ja Cash bekommen können als Ergänzung oder als Alternative zur Sachleistung.

 

Leider nur macht gerade dieses Instrument deutlich, wie schlecht das System funktioniert. Denn es verleitet Familien und Pflegedienste dazu, mit der Kasse eine Versorgung durch Profis abzurechnen, den Pflegebedürftigen aber durch die eigene Familie pflegen zu lassen.

 

Die große Differenz zwischen Sachleistung – also dem, was die Profis bekommen – und dem Pflegegeld sorgt dafür, dass sich solche «Geschäfte» auch dann für alle Beteiligten rechnen, wenn man die Erträge durch zwei teilt. Bei Pflegegrad 3 beträgt dieser Unterschied 753 Euro pro Monat, eine Differenz, die seit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes 2008 kontinuierlich gewachsen ist. Bis 2007 betrug der Unterschied (in der Pflegestufe II) lediglich 511 Euro.

 

Auch hier gilt: Die Entwicklung hin zu mehr Geld für die Profis spielt Abzockern massiv in die Hände. Würde man die beschriebene Differenz deutlich verringern, wäre zumindest dieser Form von Betrug von einem Tag auf den anderen die Grundlage entzogen.

 

 

Das Pflegebudget hätte vieles geändert

Hinzu kommt, dass die überproportionale Entlohnung des Pflegedienstes einer wirklich konstruktiven, für alle fruchtbaren Verteilung von Aufgaben eher im Wege steht. Sie sorgt dafür, dass sich Art, Umfang und Timing der Leistungen mehr daran orientieren, was dem Pflegedienst ökonomisch nützt, und weniger daran, was der Kunde braucht und sich wünscht.

 

Mit dem Pflegebudget wollte man hier Abhilfe schaffen. Von 2004 bis 2008 wurde es in sieben deutschen Städten und Landkreisen im Rahmen eines Modellversuchs getestet. Pflegebedürftige und behinderte Menschen konnten sich das Geld der Kassen auszahlen lassen und selbst entscheiden, welche Leistungen sie damit bei wem einkaufen wollten.

 

Das durften nicht nur die üblichen Verrichtungen wie Waschen oder Anziehen sein, sondern zum Beispiel auch ein Spaziergang oder eine Massage. Noch wichtiger war allerdings, dass sich mit Hilfe des Budgets Pflege maßgeschneidert planen und steuern ließ, weil es auch bei der Auswahl der Helfer einen größeren Spielraum gewährte. Für mein erstes Buch zu diesem Thema hatte ich 2008 über einen solchen Fall in Erfurt berichtet. Heinrich Taschner[*], damals 59 Jahre alt und an Multipler Sklerose erkrankt, benötigte sehr individuelle Unterstützung, die sich mit Verrichtungsbezug und getakteter Minutenpflege durch einen ambulanten Dienst nur schlecht organisieren lässt. Taschner hatte seit Jahren deprimierende Erfahrungen gemacht, bevor er 2007 im Rahmen des Modellprojekts ein Pflegebudget bekam.

 

Mit dem Geld, das am Anfang jeden Monats auf sein Konto überwiesen wurde, engagierte er die Mitarbeiterin einer Assistenz-Agentur und einen Theologiestudenten, außerdem unterstützte ihn seine Partnerin.

 

Entscheidend sei, dass endlich seine Wünsche und Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, so Taschner damals, und dass «es keine engen Vorschriften dafür gibt, was die Leute hier machen». Wobei natürlich Regeln für die Verwendung der Budgets existierten. Eine Case Managerin kontrollierte regelmäßig, ob diese Regeln eingehalten wurden.
Obwohl das Modellprojekt zu Beginn von allen Parteien im Bundestag unterstützt wurde, und obwohl viele Teilnehmer ähnlich positive Erfahrungen machten wie Heinrich Taschner, existierte das Pflegebudget nur bis 2008.[*] Seine flächendeckende, dauerhafte Einführung scheiterte am massiven Widerstand der Heim- und Pflegedienstlobby. Wie genau dieser Kampf ablief und wie die überaus erfolgreiche Lobbyarbeit der Pflegebranche insgesamt funktioniert, darum geht es in Kapitel 7.

 

Die Geschichte des Pflegebudgets lieferte den Beweis, dass sich die Pflegeversicherung nicht – wie damals von einigen erhofft – von innen heraus revolutionieren lässt. Trotzdem setzen im politischen Berlin des Jahres 2020 viele wieder auf genau diese Idee. Warum das so ist, und warum der Ansatz erneut scheitern wird, darauf gehe ich im Schlusskapitel ein.

 

Fazit: Das System diskriminiert die Ehrlichen, indem es mit seiner Komplexität und mit falschen Anreizen Betrügern Tür und Tor öffnet, indem es Hunderttausende von Familien, die noch nie jemanden betrogen haben, dazu verleitet, mit Betrügern zusammenzuarbeiten oder sie zu illegaler Beschäftigung einer 24-Stunden-Betreuungskraft für ihre Eltern oder Großeltern nötigt.

 

Zum Autor: htmlhttps://www.rowohlt.de/autor/christoph-lixenfeld.html

 

 

 

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