Buchauszug: Jon Christoph Berndt: „Aufmerksamkeit – Warum wir sie so oft vermissen und wie wir kriegen was wir wollen.“

Jon Christoph Berndt (Foto: Brandamazing)
„Immer nur senden, senden, senden“
Die Rede ist das älteste und mächtigste Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie erhöht die Sichtbarkeit. „Mit der Sprache hat sich die Evolution unserer Spezies von der biologischen Emergenz auf die Ebene der bewussten Schöpfung von Neuem verlagert“, sagt der Volkswirtschaftler und Stadtplaner Georg Franck in seinem Werk „Ökonomie der Aufmerksamkeit“.
Neues wurde also nicht mehr nur durch bloßes Sein und Miteinander geschaffen, sondern auch durch den Austausch von Empfindungen und Meinungen. Viel später schufen die Erfindungen der Schrift, des Buchdrucks und des Internets wiederum ganz neue Dimensionen für diese Form der zwischenmenschlichen Kollaboration. Lange Zeit war die Rede neben dem Kampf die stärkste Ausdrucksform, und dabei viel stärker als nonverbale Äußerungen durch Mimik und Gestik. Wer auf eine Bühne stieg, hatte sich und seine Meinung zuvor kritisch geprüft und hinterfragt. Er war entschlossen dazu, sie zu äußern, zu verbreiten und zu verteidigen. Die Bühne war nur für diejenigen, die von ihrem Anliegen überzeugt waren und es solide zu argumentieren wussten.
Das hat sich radikal gewandelt. Reden, Werben und Argumentieren sorgen gepaart mit Plappern, Quasseln und Schwafeln (Chatten sowieso) für die ultimative Kakophonie des Unwichtigen. Es wird immer weniger ernsthaft und verantwortungsvoll zugehört und lieber jedes Thema x-fach durchgekaut, neu beleuchtet und neu versendet, ohne es zu durchdringen oder auch nur etwas hinzuzufügen.
Das geschieht in wachsendem Umfang auf eine bisher ungekannt niveaulose, oftmals niederträchtige Weise unter dem Deckmantel der Anonymität. Es ist beinahe erstaunlich, wie das gemeinschaftliche Alltagsleben, dessen wichtige Stütze nun einmal Rede und Meinungsaustausch sind, augenscheinlich weiterhin so gut funktioniert. Augenscheinlich. Bei genauerem Hinsehen nehmen Missverständnisse und Dissonanzen nämlich durchaus zu, genauso wie der gesellschaftliche Druck. Die Menschen werden dünnhäutiger und ängstlicher, und dabei gleichzeitig aggressiver und polemischer. Das liegt vor allem an der Menge an Daten und Informationen, die tagtäglich auf jeden einzelnen einprasseln. Unter ihnen sind allein, sagt die Werbewirkungsforschung, etwa 14.000 „Beachte mich!“- und „Kauf mich!-Botschaften“.
Jon Christoph Berndt: „Aufmerksamkeit – Warum wir sie so oft vermissen und wie wir kriegen was wir wollen“. Econ Verlag. 16,99 Euro, 224 Seiten. https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/aufmerksamkeit-9783430202237.html
Aufmerksamkeit: Ein knappes Gut
Den Unternehmen geht es um die Verkaufe, den Medien um die Quote. Sie beziffert eine gemessene Aufmerksamkeit, und die ist die Währung schlechthin im Geschäft um die Botschaften. Sie ist noch wichtiger als das Geld, das dort in Werbung fließt, wo man sich besondere Aufmerksamkeit verspricht. Das liegt an einer Eigenschaft der Aufmerksamkeit: Sie ist als Ressource knapp und begrenzt und kann nicht größer werden.
Auch wenn jedes Jahr neue Sender und Kanäle, Webseiten und Druckschriften, Unternehmen und Produkte, auch Menschen dazu kommen: Der Tag hat nur 24 Stunden oder 1.440 Minuten oder 86.400 Sekunden. Sie gilt es, abzüglich der Zeit für den Schlaf von etwa einem Drittel, immer wieder neu in Form von Aufmerksamkeit zu verteilen. Denn auch das ist Aufmerksamkeit: Eine Zeitfrage. Wen wir dabei berücksichtigen, der erhält ein Geschenk, das kostbarer ist als Gold und Geld. Das liegt daran, dass es zumindest Geld im Prinzip unbegrenzt gibt, auch wenn viele nicht genug davon haben. Die Währung Aufmerksamkeit aber vermittelt Wertschätzung, die sich mit Geld nicht bezahlen lässt. Sie steigert die Verkäufe. Und sie verbessert die Quote, die auf der limitierten Menge an Aufmerksamkeit pro Person basiert und deshalb eben nicht unbegrenzt vermehrt werden kann.
So viele Angebote zum Hinhören, -sehen, -schauen zur selben Zeit. Es wird immer schwieriger zu entscheiden, was man zuerst beachten soll, was im Anschluss und was überhaupt nicht. Die Aufmerksamkeitsspanne beschreibt die Zeit, in der sich die Aufmerksamkeit einer Person voll auf eine Sache konzentriert. Sie ist von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf nur noch acht Sekunden im Jahr 2013 gesunken. Damit ist der Mensch, was dieses wesentliche Detail angeht, unter dem Niveau des Goldfischs angekommen. Der, davon geht die Forschung aus, kann durchschnittlich neun Sekunden bei einer Sache bleiben. Daran hat auch die Digitalisierung nichts geändert.
Sicherlich bedarf es weiterer Spezifizierungen hinsichtlich Untersuchungsgegenstand und -design, um aus dieser Information wirklich valide Schlüsse zu ziehen. Interessant (und alles andere als verwunderlich) ist allerdings, dass die Aufmerksamkeitsspanne abnimmt. Dazu trägt auch bei, dass der Mensch durchschnittlich etwa 250 Mal am Tag auf sein Smartphone oder Tablet schaut und mehr als jeder zweite zum Smartphone greift, wenn er nichts anderes zu tun hat. Von diesem Handicap ist der Goldfisch schließlich frei. Das sind so erstaunliche wie erschreckende Erkenntnisse, gerade vor dem Hintergrund, dass es nach jeder Unterbrechung bis zu 15 Minuten und länger dauert, bis man sich wieder auf die unterbrochene aktuelle Tätigkeit konzentrieren kann.
Wie da noch auffallen, als Firma mit einem Produkt wie als Mensch mit seiner selbst? Wie den „Share of Voice“ bekommen, seinen Anteil an den Kontakten mit der begehrten Zielgruppe, die man mit allen anderen Anbietern teilen muss, und an ihren Reaktionen? Die einfachen Antworten auf diese Frage sind zwangsläufig ganz schnell bunt, laut und billig: Die Ware muss raus, morgen kommt neue! Der inzwischen auch in Europa angekommene „Black Friday“ – der Freitag nach Thanksgiving, der in den USA mit irrsinnigen Rabatten das Weihnachtsgeschäft einläutet – wird beim Elektrohändler Saturn gleich zur „Black Week mit exklusiven Angeboten, täglich neuen Hightech-Highlights und stündlich wechselnden Schnäppchen“. Dazu gibt es den passenden Werbedonner.
Unter demselben Druck, noch wahrgenommen zu werden, sind etwa auch Verkaufstrainer in ihrer Eigenwerbung durchweg „Europas führender“, ach was, „weltweit führender Verkaufstrainer“! Wer befindet eigentlich darüber? Berufsbezeichnungen auf sozialen Netzwerken oszillieren zwischen „Expert Influencer for Market Leading Game Changing SaaS Technology – Unified Communication as a Service Consultant“ und, erheblich kürzer, „Ultrapreneur“.
Auch gibt es den „Influencer“, das ist jemand, den Präsenz und Ansehen in den sozialen Medien für diesen Titel qualifizieren. Buchautoren preisen ihr neues Werk als „Der neue Bestseller von …“, bevor es überhaupt auf dem Markt ist. Es gab eine Zeit, da haben die Rezensenten und die Verkaufszahlen entschieden, was ein Bestseller ist und was nicht. Was früher ein Gütesiegel war, hat heute ungefähr die Differenzierungskraft eines Preisschilds im Ein-Euro-Laden.
Kann das auf Dauer funktionieren? Natürlich nicht.
Wer auf seine Kunden hört und wirklich weiß, was sie sich wünschen, braucht da nicht mitmachen. Wer aber unsicher ist und vergessen hat, mit der Zeit zu gehen, gerät aus der Spur und braucht den Mehr-Sein-als-Schein-Hebel. Wenn sogar ein ehemals so edles wie klar positioniertes Medium wie der „Spiegel“ auf einmal anfängt, sich zu verhalten wie der „Aale-Dieter“ auf dem Hamburger Fischmarkt, ist Eindeutigkeits- und Klarheitsgefahr in Verzug. Es geht so weit, dass sich das Magazin, etliche Jahrzehnte mit dem Nimbus der gedruckten Wahrheit erschienen, in der „GMX Vorteilswelt“ als Zugabe verramschen lässt. So schickt der Mailprovider seinen Usern ungebeten etwas von der Sorte „Ihr Online-Kredit mit bis zu 100 Euro Cashback! +++ DER SPIEGEL + Mini-Digicam gratis!“
„Cashback“ ist überhaupt etwas Seltsames, ebenfalls aus Amerika: Man kriegt Geld dafür zurück, dass man Geld ausgibt. in den USA bekommen Käufer eines Chevrolet Silverado, ob bar bezahlt oder auf Kredit finanziert, bei Vertragsunterzeichnung sofort 2.000 Dollar. Und in Deutschland gibt es 100 Euro für einen Onlinekredit: „Wenn das Geld grade mal nicht reicht und Sie einen Kredit benötigen, empfehlen wir den Kreditvergleich mit Check24: Sparen Sie so bis zu 2.000 Euro und kassieren Sie dazu bis zu 100 Euro Cashback! Überzeugen Sie sich außerdem 7 Wochen lang von DER SPIEGEL zum Sparpreis, und Sie bekommen eine Mini-Digitalkamera geschenkt!“
Im Kontext dieses Informations-Overflows eher fragwürdiger Angebote droht der gedruckte Spiegel als wertvollste Marke unterzugeben. Mehr noch, sein über Jahrzehnte so konsequent aufgebautes Image wird substanziell und unwiederbringlich beschädigt. Das alles für ein paar neue Abonnenten, von denen niemand weiß, wie lange sie bei der Stange bleiben. Ihnen gegenüber stehen zahlreiche langjährige Fans, die derart vergrault ihr Abonnement kündigen und nicht wieder zurückkehren.
Der Unterhaltungselektronik-Hersteller Panasonic macht es auch. Da gibt es zuweilen für den Kauf einer Waschmaschine sofort bis zu 400 Euro bar zurück. Abgesehen davon, dass die meisten Menschen diesen Anbieter bei Waschmaschinen nicht auf dem Radar haben: Allesamt sind Unternehmen, die die beiden wichtigsten Tugenden wertschätzender Kundenkommunikation nicht beherrschen oder sie verlernt haben: aktiv zuhören und beredt schweigen.
Zu tausenden solcher Werbebotschaften kommen abertausende im privaten und zwischenmenschlichen Bereich. Sie prasseln persönlich und am Telefon auf uns ein, und wieder: im Netz. Besonders was online geschieht, erfährt durch die rasant fortschreitende Digitalisierung immer neue, ungeahnte Dimensionen. Buch, Brief und Fax wirken inzwischen so verstaubt wie vor 50 Jahren Federkiel und Postkutsche. Und es mag noch 20 Jahre dauern, bis wir über etwas dann so Altmodisches lachen werden wie „das Internet“, so wie wir es heute kennen.
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einer „dreifachen Beschleunigung“ unseres Lebens: dem technischen Fortschritt, dem sozialen Wandel und dem Lebenstempo. Er vergleicht den täglichen (Über-)Lebenskampf mit dem Dauerlauf auf einer nach unten führenden Rolltreppe, und für jede zu beantwortende Mail müssen wir wieder eine Stufe zurück … Wie bei Sisyphos, dem griechischen Sagenhelden mit dem Felsblock: immer wieder den Berg rauf. Sisyphos hatte Frevelschuld auf sich geladen, bei uns sind enorme Vielfalt, Komplexität und Beschleunigung die Treiber.
Rosa widmet sich dem Phänomen der Resonanz und sagt, das Dilemma der modernen kapitalistischen Gesellschaft liege darin, dass sie immerzu „wachsen und innovieren, Produktion und Konsumption steigern, Optionen und Anschlusschancen vermehren“ müsse; „kurz: dass sie sich beschleunigen und dynamisieren muss, um sich selbst kulturell und strukturell zu reproduzieren, um ihren formativen Status Quo zu erhalten“.
Diese „Eskalationstendenz“, so der Soziologe, verändere unser Weltverständnis. Es betreffe die Beziehung zu Raum und Zeit und zu den Menschen und den Dingen, die uns umgeben, schließlich die zu uns selbst. Er attestiert, dass eine ökologische Krise, zudem die Krise der Demokratie ebenso wie eine Psychokrise früher oder später die Folgen seien. Glaubt man diesen Weissagungen, kommt für die Zukunft erschwerend hinzu: Demjenigen, der sich seine Stellung in der Gesellschaft und seine Zukunftschancen, seinen Status und seinen Lebensstandard erhalten will, bleibt nur Mitmachen, Sitzenbleiben auf dem Karussell. Es sei denn, er gehört zu den wenigen, die ganz bewusst absteigen, sich abklemmen vom Mainstream und vom Datenstrom und sich dazu entschließen, ein ganz anderes Leben zu leben. Es gibt sie, diese Aussteiger. Von allen anderen, den „Angepassten“, werden sie mit Attributen belegt, die sich von abschätzig über anerkennend bis neidisch vielfältig interpretieren lassen: entschleunigt, alternativ und einfach anders. Sich der Eskalation zu entziehen, gilt als alternativer Lebensentwurf.
Hören allein reicht nicht
Unsere Fähigkeit, den Menschen und den Dingen um uns herum unsere Aufmerksamkeit zu schenken, ist dieselbe wie vor tausend Jahren. Nur die Umstände, mit denen wir konfrontiert sind, haben sich verändert. Diese Entwicklung hält an, und sie geht immer schneller vonstatten: Mehr und mehr Themen, Ereignisse und Produkte buhlen um uns. Das wirkt sich auf unser Auswahlverhalten und die Art und Weise aus, wie tiefgründig und wie lange wir uns mit einem Sachverhalt beschäftigen und wem wir wie lange zuhören.
Jeder Mensch ist ein selektiver Wahrnehmer. Er hört oder liest ein Reizwort, für das er empfänglich ist, und geht ohne Umschweife darauf ein. Was vorher und hinterher gesagt wurde, also den Gesamtzusammenhang blendet er dabei oft aus. Solches Verhalten verlangt den Gesprächsteilnehmern viel Geduld ab. Mit dem entsprechenden Wissen aus der Neurowissenschaft erträgt es sich besser. Wo liegt der Unterschied zwischen dem Nur-Hören und dem Zuhören? Das einfache Hören gilt als Ur-Alarmsystem des Menschen – Wo lauert Gefahr? Ist ein gefährliches Tier in der Nähe? Das komplexe Zuhören drückt sich in einer fundierten Beschäftigung mit dem Gesagten aus. Sie wird immer schwerer, weil die Überforderung immer mehr zunimmt und es immer mehr Gelegenheit zur Ablenkung gibt. Zuhören ist Hören in Verbindung mit Konzentration, Denken und Fühlen.
„Du hörst nie zu!“ ist nicht mehr nur der verbreitete Vorwurf in Beziehungen, sondern längst auch im Miteinander von Freunden, Kollegen und Kunden. Überall gilt: Bequemlichkeit und Tempo schlagen Inhalt und Substanz. Am einfachsten ist es, nur zu reden, ohne lange darüber nachzudenken und auf das zuvor Gesagte näher einzugehen. Dabei liegt die wahre Bereicherung nicht in der Schlagzahl und der Lautstärke, sondern in dem Grad, in dem die kommunizierten Bedürfnisse und Wünsche erkannt und wechselseitig befriedigt werden. Kommunikation ist ja nicht die Fähigkeit zur Beschallung, sondern ein Mittel zum Zweck. Und unser wichtigstes dazu. Das macht die wirkungsvoll – und auch so anspruchsvoll, wenn wir sie gezielt einsetzen wollen.
Wie viel einfacher und entspannender ist es doch, einfach drauflos zu labern, alles rauszulassen, was anliegt und einem jetzt gerade einfällt! Labern gibt Menschen das gute, allerdings kurzlebige Gefühl dazuzugehören, ein Teil der Gruppe zu sein und vor allen Dingen gesehen zu werden. Labern ist Stressabbau: sich einfach erleichtern, das übervolle Hirn ausleeren. Was für eine Wohltat! Indem Menschen sich aufplustern, inszenieren, profilieren glauben viele zu einem gelungen Anlass beizutragen. Ob die anderen wirklich interessiert sind und Anteil nehmen? Nebensache. Bei Google gibt es zum Suchwort „reden“ etwa 70 Millionen Treffer, zum Suchwort „zuhören“ nur etwa 5 Millionen. Gefühlt kommt das dem Verhältnis von Labern zu sinnhafter Kommunikation im Alltag ziemlich nahe.
Der Chef einer Hamburger PR-Agentur stellte einmal ein Ultraschallbild mit dem Hinweis „Freu mich“ auf seine Facebook-Seite, und sofort hagelte es Glückwünsche: „Ganz der Vater!“; „Glückwunsch! Drillinge?“; „Congrats! Das Beste auf der Welt“; „WOW das ist noch besser als jeder PR Preis!“ Und der Vater des Postings? Er postete „Mensch, Leute! Das ist mein Herz. Mein Doc sagte heute beim jährlichen Check, ich hätte ‘ne Pumpe wie‘n junger Gott.“ Darauf fingen die ersten „Freunde“ das Malheur mit „Brusthöhlenschwangerschaft“ und ähnlichem Verlegenheitsrauschen ab, während andere selbst jetzt noch ungehemmt weiter gratulierten: „Wünsche dir Zwillinge! Gratulation – auch deiner Frau!“ Darauf wieder der Verursacher: „Freunde, ich freu‘ mich ja über so viel Zuspruch. ABER: Es ist mein Herz!!! Nicht, dass bei meiner Frau schon das Telefon Sturm klingelt…“
Jetzt schlug die Stunde der Erklärer: „Visuelle Kommunikation … Ultraschallbild = schwanger … völlig egal, was darauf abgebildet ist “ Später trudelte dann noch einer ein mit der Frage ein, ob es schon einen Namen gäbe. Noch später klärte ein anderer dann alles auf: „Laut einer Facebook-Studie gilt die 90/9/1-Regel auch für Kommentare: Von 100 Personen haben 90 den Ursprungsbeitrag nicht gelesen, 9 ist es egal und nur einer – in der Regel der Verfasser – versucht verzweifelt die Diskussion wieder zum eigentlichen Thema zurück zu lenken.“
Geschichten solcher Art gibt es unzählige. Sie sind umso lustiger, je weniger sie einen selbst betreffen. Sie täuschen allerdings nicht darüber hinweg, dass unsere Kommunikation schlicht eines ist: krank. Die Möglichkeit, zu allem und jedem seinen Senf dazu zu geben, wird von den sozialen Medien extrem befeuert. Dadurch fühlt sich der User, dieser moderne Großstadtnomade, nicht selten allein gelassen vom Leben im Eineinhalb-Zimmer-Apartment mit Küchenzeile, Rauchglas-Ecktisch und Bestellzettel von Pizzadienst, mit der Community verbunden. Facebook fordert ihn mit der verführerischen Einladung zum Liken und Kommentieren immer wieder aufs Neue heraus. Es geht schneller und einfacher und macht mehr Spaß als die wirkliche Beschäftigung mit einem Buch, der Zeitung oder gleich mit sich selbst. Niemand schickt sich gern selbst Smileys.
Die 90/9/1-Regel lässt sich auch auf die Offline-Welt anwenden, und auf Telefonkonferenzen sowieso: Kaum ein „Call“, bei dem nicht hörbar getankt, eingekauft, eingeparkt, gegoogelt, zur Toilette gegangen oder alles auf einmal erledigt wird. Die meisten hören hin, mancher nicht einmal das, und nur jeder Zehnte hört wirklich zu.
Süßer Brei fürs Hirn
Das menschliche Gehirn ist so angelegt, dass es auf Neues sofort reagiert. Das erklärt die Unrast, sobald es um Unbekanntes geht: Auf einen neuen Impuls hin wird Dopamin ausgeschüttet, allgemein als Glückshormon bekannt. Dieser Botenstoff hält den Menschen in einer Art Suchtkreislauf gefangen. Gierig auf Neues, ist er leicht abzulenken und anfällig für die unterschiedlichsten Informationen und Reize. Er weiß dabei sofort zu selektieren nach unterhaltsamen, leicht verdaulichen Neuigkeiten und solchen, die eher schwere Kost sind, und die er deshalb zunächst meidet.
Das Problem dabei ist: Unser Gehirn, so wie es heute noch beschaffen ist, formte sich bereits in der Steinzeit. Damals gab es keine Städte und keine Technik, geschweige denn die Digitalisierung. Man lebte im Einklang mit der Natur und verteidigte sich, um die Art zu erhalten, gegen den Säbelzahntiger, ging auf Mammutjagd und brachte wildgewordene Artgenossen zur Räson, nicht zwingend mit kommunikativen Mitteln. Den spärlichen Rest der Zeit saß die Sippe ums Feuer versammelt und tat, was manche hippe Großstädter mit Ausstiegsbedürfnissen auch heute wieder bei teuer bezahlten Outdoor-Trips tun, wenn sie mal nicht mehr empfangen wollen: schweigen. Kommunikation fand eher rudimentär, auf Lautbasis statt.
Hierauf, und damit auf viel weniger zu verarbeitende Informationen als heute nötig, ist unser Gehirn immer noch ausgelegt. Zwar ist der Mensch, das belegt auch die Hirnforschung, in gewissem Umfang wandelbar und adaptionsfähig. Doch seine Kapazität für Aufmerksamkeit ist und bleibt begrenzt und hält nicht Schritt mit der ständig steigenden Anzahl und Vielfalt von, so der amerikanische Neurowissenschaftler Daniel Levitin, „Fakten, Pseudofakten, Geplapper und Gerüchten, die sich alle als Informationen ausgeben“ und uns immerzu überfallen.
Früher gab es drei Fernsehkanäle und ein paar Kaffeesorten. Es gab einige Urlaubsziele in Deutschland und Italien, aus denen man auszuwählen den Luxus hatte, und drei unterschiedliche Motorisierungen beim Auto. Heute drängen unendlich viele Anbieter mit ihren Werbebotschaften für unendlich viele Angebote in unendlich vielen Ausführungen auf die Bühne und buhlen um unsere Gunst. Sie funken auf allen Kanälen, in Anzeigen und Online-Communities, auf Plakaten und Bannern, mit Gewinnspielen und Newslettern. „Nimm‘ mich wahr!“, „Sieh‘ mich an!“, „Kauf mich!“, rufen sie und fordern uns nicht nur kognitiv, sondern vor allem in unserer Selbstdefinition immer wieder neu heraus. Dies zum einen vor dem Hintergrund des Dazugehören-Wollens, zum anderen angesichts der schieren Vielfalt und der so ermüdenden wie anspornenden Situation, dass man sich nie sicher sein kann, wirklich das allerbeste und gleichzeitig allergünstigste Angebot erwischt zu haben. Lieber noch eine Runde recherchieren …
Außerdem wollen die Mitmenschen in der Familie und all die Freunde, Kollegen und Geschäftspartner beachtet werden; von den sogenannten Prominenten ganz zu schweigen. Bei dem Getöse gilt es vor allem, nicht unterzugehen im Ozean der Reize. Das ist der tägliche Spagat, immer wieder neu die Zerreißprobe, auch weil wir der Überzeugung sind, bei allen möglichen Themen mitreden zu müssen, um relevant zu sein. Diesen Irrweg befeuern gerade solche Gesprächsrunden, die die Kunst, stundenlang wortreich aneinander vorbei zu reden, zu einem Format erhoben haben: die TV-Talkshows.
Im unendlich weitläufigen Dschungel der Verbalitäten immer wieder neu herauszufinden, was man wissen muss und was getrost wegbleiben kann, ist ein schwieriges Unterfangen. Dafür braucht es die immer neue Entscheidung: Was ist mir wichtig? Außerdem braucht es die abgewogene Meinungsbildung: Was kann ich glauben, was sollte ich hinterfragen? All das verlangt in einer Zeit, in der die Zeit das knappste Gut ist, noch vor Öl und Silizium, weitere Schleifen zu drehen, genauer hinzuhören, nachzudenken und nachzufragen, zu vergleichen und zu beurteilen. Da ist das Gehirn irgendwann gefühlt so abgefüllt, dass nichts mehr hinein passt. Wie bei einer randvollen Tasse Tee, die ein einziger Tropfen mehr zum Überlaufen bringt.
Und die Sender, die professionellen und kommerziellen und immer mehr eben auch die privaten Egobooster, wissen das. Dieses Wissen führt zu einem Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeitsreserven. Die leidgeprüften Entscheider in diesem Kampf sind immer noch unsere archaischen Nervenzellen. Sie prüfen, welche Informationen wichtig sind und welche nicht. Sie leisten Großes – wenn der Mensch sich gefordert, aber nicht überfordert fühlt und in guter nervlicher Verfassung ist. Also so ungefähr auf dem Dröhnungsniveau des Steinzeit-Alltags. Aber wer kann den noch für sich reklamieren?
Um die geballte Menge an Informationen zu verarbeiten, benötigten sie schon immer Sauerstoff und Glukose. Heute so viel davon und immer mehr, dass sie schnell ermüden, wenn der Nachschub ausbleibt. Wenn mehr verbraucht wird als nachkommt, fühlt der Mensch sich ausgepowert. Er ist dann unaufmerksam, bringt im Gespräch keine Empathie auf und hört bestenfalls hin, aber nicht zu. Das führt zur eher passiven Teilnahme an der Kommunikation und eben auch zum ungeprüften Liken und Sharen von Beiträgen anderer. Jedes Status-Update und jedes Lesen einer Mail löst aufs Neue die Frage aus: Soll ich antworten? Sofort oder später? Was soll ich schreiben? Solche Entscheidungen genauso wie die, was aus dem gigantischen Warenangebot ich kaufe, kostet wiederum Energie. Die Energie, die eigentlich für die wirklich wichtigen Angelegenheiten vorrätig sein muss. Säbelzahntiger und die Schwiegermutter, zum Beispiel.
Die Informationsflut ist wie süßer Brei für unser Gehirn: Wir bekommen mehr, viel mehr, als wir gebrauchen können. Und unser System, ausgelegt für die Kapazität einer notwendigen Mahlzeit, kommt damit nicht klar, wenn wir der Versuchung nicht widerstehen und den Löffel weglegen, wenn wir genug haben.

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